Berlinale Retrospektive 2022: Rosalind Russell: „My Sister Eileen“

My Sister Eileen

USA 1942. Regie: Alexander Hall, mit Rosalind Russell, Brian Aherne, Janet Blair

 

„No Angels: Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard“ heißt die Retrospektive der 72. Berlinale vom 10. bis 20. Februar 2022. Die Retrospektive blickt damit auf drei Beispiele von Schauspielerinnen, die die Hollywood-Komödien der 1930er bis 1940er geprägt haben. Begleitend dazu ist bei Edition Text + Kritik ist  ein von Rainer Rother verfasster Band mit drei Essays zu den drei Darstellerinnen erschienen:

Rainer Rother: No Angels. Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard. Edition Text + Kritik, München 2021. Text deutsch und englisch. 162 Seiten, viele Abbildungen. 15 Euro. 

 

„My Sister Eileen“ ist geradezu einzigartig: Der Film enthält nicht die obligatorische Liebesgeschichte, zumindest bis in die letzte Minute, wenn dann doch ein paar liebevolle Blicke getauscht werden… Aber das ist nur Beiwerk zum Happy End, das darin besteht, es in New York geschafft zu haben.

 

Ruth und Eileen sind in der Provinz unten durch: In Columbus, Ohio, haben sie sich unmöglich gemacht, weil Ruth in der Lokalzeitung eine Lobeshymne über ihre schauspielende Schwester Eileen veröffentlicht hat, in ihrer Rezension eines Theaterstücks – das dann aber kurzfristig umbesetzt wurde. Sie hat die Kritik vor der Premiere bereits geschrieben. Nun muss es New York sein, wo die großen Redaktionen und die großen Theater liegen – und Ruth, die Ältere, muss auf Eileen aufpassen.

Ruth ist eine weitere Paraderolle für Rosalind Russell – diesmal nicht als Geschäftsfrau, sondern als eine, die es werden will. Die Sinn hat für Pragmatismus und den Umgang mit dem Leben und vor allem mit den Männern, und dies nicht, weil ihr das jemand beigebracht hätte. In Columbus geht es beschaulich zu, Eileen wäre deshalb in NY verloren, so liebenswert naiv sie ist, so vertrauensselig und allzu herzensgut. Sie ist zu einem guten Teil dafür verantwortlich, dass sich die miese Untergeschosswohnung in Greenwich Village zum Durchgangsbahnhof entwickelt für alle möglichen Leute: Der arbeitslose Ex-Wrestler aus der Nachbarschaft nächtigt gar in der Mini-Küche. Dazu kommt ein Apotheker mit Hoffnungen und ein Reporter mit Hoffnungen und ein Polizist mit Misstrauen – zwei junge Frauen, das ist nahe an der Prostitution (angedeutet natürlich nur, nicht ausgesprochen). Irgendwann taucht noch ein Russe in vollem Ornat auf und lädt ein spiritistisches Medium, die Vormieterin, auf der Couch ab. Zwischendurch gibt es Erschütterungen, weil unter der Wohnung mit Dynamit eine neue U-Bahn-Linie gebaut wird.

Und Ruth lockt ungewollt ein halbes Dutzend geiler portugiesischer Matrosen in die Wohnung, die ihr quer durch New York gefolgt sind: Auch Ruth hat weibliche Reize, aber vor allem Sinn, wenn irgend möglich eine wie auch immer geartete Linie in der Wohn- und Berufssituation zu finden.

Die Matrosen wechseln ihre Aufmerksamkeit natürlich sofort von Ruth auf Eileen, als sie ihrer ansichtig werden.

 

Russell kann ihre Bandbreite zeigen, die schnelle Auffassungsgabe, die Verzweiflung über Chaos, auch den Slapstick, wenn sie im Tanz herumgeschleudert wird und auch noch weiterwackelt, wenn die Matrosen längst weg sind. Vor allem ist sie praktisch veranlagt, baut eine Beziehung zum „Manhatter“ auf, einem New Yorker-Magazin – und klatscht dem Herausgeber gleich mal ihre Kritik vor den Latz, wie altmodisch und uninteressant selbst für die Leute in Columbus, Ohio, dieses Geschreibsel ist.

Als der Redakteur sie des Abends abholt, um wohlwollend über ihren Artikel zu reden, entwickelt sich fast die gewohnte Liebesgeschichte – aber doch nicht. Weil der sie nämlich nur stundenlang volllabert, selbstverliebt, wie er ist.

Als die Schwestern mal ganz unten sind, sagt Ruth: „Um dich mache ich mir keine Sorgen, solange noch irgendwo ein Mann lebt.“ Doch selbst Eileen weiß: „Men are only an escape.“

 

Komödie ist die Kunst, Chaos zu entfesseln, das in der Inszenierung beherrschbar ist, in der Durchführung aber vollkommen over the top. Das gelingt hier prächtig, der Film ist voll Witz und Tempo, voll schräger Charaktere, denen vor allem die ganz normale Rosalind Russell sich entgegenstellt. Sie hat für den Film ihre erste Oscarnominierung erhalten.

Am Ende tauchen unter allen Figuren, die sich in dieser kleinen Wohnung tummeln, auch noch die drei Stooges auf.

 

Harald Mühlbeyer

 

Bilder (c) Columbia Pictures