Martin Scorsese hat, „Shutter Island“ mitgezählt, in das Zentrum seiner letzten vier Spielfilme Leonardo DiCaprio gestellt und plant offenbar weitere Filme mit ihm. Die bisherigen Zusammenarbeiten spielen alle in unterschiedlichen Zeiten und gehören verschiedenen Genres an, doch kann natürlich eine Verbindung und auch eine Entwicklung in den Filmen untersucht werden.
In allen Filmen ist DiCaprios Charakter wirklich der Mittelpunkt, der der Handlung und auch der der Erzählhaltung. Seine Sichtweise, seine Handlungen werden dem Zuschauer gezeigt und mit ihm findet die Identifikation statt. Immer sind die Figuren auf einer Mission, im Kampf gegen eine äußere, undurchsichtige Gewalt, die sie an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Kräfte führt oder sie gar übersteigt.
In „Gangs of New York“ (2002) ist Amsterdam in den Five Points des New Yorks von 1863 auf einem persönlichen Rachefeldzug. Während er sich in die Gang von Bill Cutting einschleicht, um diesen zu töten und damit seinen Vater zu rächen, entwickelt sich beinahe eine freundschaftliche Beziehung zu seinem eigentlichen Widersacher. Auf dem Höhepunkt dieses persönlichen Konflikts bricht die äußere Welt in Form des amerikanischen Sezessionskriegs in das Geschehen ein. Zwar kann Amsterdam seine Mission erfüllen, doch gleicht der Mord an Bill am Ende vielmehr einer freundschaftlichen Tat, oder gar einer Erlösung des Vaters durch den Sohn, da der Ältere den Untergang seines Weltgefüges, den Epochenumbruch, nicht ertragen könnte. Zurück bleibt der Held hineingeworfen in die äußere Wirklichkeit, seine alte Welt in Trümmern.
Auch Howard Hughes in „Aviator“ (2004) muss sich der äußeren Welt stellen. Angetrieben von einer Mischung aus Größenwahn und Genialität, widmet sich der reiche Erbe seiner Vision von Fortschritt und Entwicklung, sei es im Filmgeschäft oder in der Flugzeugindustrie. Immer im festen Glauben an seine Vorstellung kämpft er dabei gegen äußere Mächte wie die amerikanische Monopolfluggesellschaft Pan Am oder den Senat. Diese kann er bezwingen, doch hat er Probleme mit sozialen Beziehungen. Immer stärker wird sein Drang, alles zu kontrollieren, um dadurch die für ihn undurchschaubaren Weltzusammenhänge und menschlichen Verhaltensweisen zu ordnen. Sein Unverständnis der äußeren Welt zeigt sich durch seine sich ausweitenden Phobien vor echtem und ausgedachtem Schmutz. Zusätzlich verlässt ihn immer öfter das einzige, worauf er bisher Verlass hatte, nämlich sein Verstand, sein eigenes Ich.
„Departed“ zeigt DiCaprio als Polizist Billy Costigan auf einer Undercover-Mission. Hierbei ergeht es ihm ähnlich wie Amsterdam in „Gangs of New York“, denn er gewinnt das Vertrauen der Gangster und freundet sich auch mit ihnen an. Allerdings wird es hier viel undurchsichtiger, wer zu wem gehört, weil auch auf Seiten der Polizei Spione der Gangster arbeiten. So wird es auch für Billy immer schwieriger, seine Aufgabe weiter zu erfüllen und Gangsterboss Frank auszuschalten, einen Plan, den er ebenfalls aus persönlicher Rache verfolgt.
Es zeigt sich also, dass es in „Gangs of New York“ und „Departed“ um einen Mann geht, der eine persönliche Mission erfüllt, weil er sich dazu verpflichtet fühlt, durch private und moralische Zusammenhänge. Doch baut er dabei zwangsläufig eine Beziehung zu seinem Gegner auf, was ihn über seine eigene Persönlichkeit in Zweifel wirft. Bei Amsterdam spielt sich das Ganze in einer eigenen, abgeschiedenen Welt ab, in die die äußere plötzlich mit Wucht eindringt. In „Departed“ bewegt sich Billy dann in einem größeren Zusammenhang, doch diese verworrene Welt macht einen Durchblick noch viel schwieriger. Ebendieser sieht sich auch Howard Hughes in „Aviator“ ausgesetzt, und ihn zerstört der Konflikt mit der äußeren Welt beinahe vollständig.
Natürlich ist anzumerken, dass sich auch in Scorseses früheren Filmen, besonders in seinen ebenfalls zahlreichen Arbeiten mit Robert De Niro wie „Taxi Driver“ (1976) und „Wie ein wilder Stier“ (1980) Thematisierungen ähnlicher Kämpfe finden lassen. Auch dort erzählt er von Männern, die sich der Welt entgegenstellen und sich ihr nicht beugen wollen. Mit den DiCaprio-Rollen betrachtet Scorsese nun dies in einer neuen Form und durch neue Geschichten. Die De Niro-Filme stellen auch einen Kommentar ihrer Entstehungszeit dar, zum Beispiel thematisiert „Taxi Driver“ die Vietnamproblematik. Die neueren Filme spielen bis auf „Departed“ alle in vergangenen Zeiten. So beschäftigt sich Scorsese darin unter anderem mit dem Beginn des modernen Amerikas oder mit dem Land vor den Herausforderungen des 2. Weltkriegs und dem Kalten Krieg. Auf der anderen Seite können ihre Geschichten von Männern, die mit der Orientierung in der Außenwelt kämpfen, aber auch als abstrahierter Kommentar zu den immer verwirrenderen und komplexeren Lebenszusammenhängen in der modernen Welt gelten. Diese waren auch in den 1970er-Jahren schon erkennbar, jedoch nicht derart ausgeprägt wie zu Beginn des neuen Jahrtausends. Scorsese bietet den Zuschauern DiCaprio als Projektionsfläche an, zur Beschäftigung mit den Ursprüngen unseres modernen Lebens, aber auch mit den Problemen der heutigen Zeit. Durch die wiederholte Arbeit mit diesem Schauspieler liegt die Vermutung nahe, dass, neben allen freundschaftlichen Beziehungen, die natürlich auch eine Rolle bei der Besetzung gespielt haben mögen, er für Scorsese die derzeit perfekte Verkörperung des Mannes in seinen Geschichten von dem menschlichen Kampf um Identität zu sein scheint.
- - - Ab hier wird ein bisschen gespoilert - - -
„Shutter Island“ ist in seiner Erzählhaltung von den bisherigen Zusammenarbeiten am extremsten, denn wie sich herausstellt, ist vieles von dem, was der Zuschauer präsentiert bekommt, nur ein Schauspiel und wird durch die subjektive Sicht des Hauptcharakters umgedeutet. Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio), US-Marschall, muss zusammen mit seinem neuen Partner Chuck Aule (Mark Ruffalo) das Verschwinden einer Patientin aus einem Hochsicherheitsgefängnis für psychisch schwer gestörte Straftäter untersuchen. Das Gefängnis liegt auf Shutter Island, einer nur durch eine einzige Anlegestelle betretbare Felseninsel, auf der alte Bürgerkriegsfestungsgebäude zu einer absolut ausbruchssicheren Anstalt umfunktioniert wurden. Trotzdem ist die Patientin, die ihre drei Kinder getötet hatte, entkommen. Der durch seine Mithilfe bei der Befreiung von Dachau und den Feuertod seiner Ehefrau traumatisierte Daniels findet immer mehr Ungereimtheiten in den Vorgängen des Gefängnisses. Er vermutet hinter dem Treiben des Oberpsychiaters Dr. Cawley (Ben Kingsley) geheime Menschenexperimenten im Auftrag der Regierung, außerdem hat er auch persönliche Rache im Sinn, denn er vermutet den Brandstifter, der für den Tod seiner Frau verantwortlich ist, als Insasse der Anstalt zu finden.
Hier ist es das Wetter als äußere Gewalt in Form eines schlimmen Unwetters, das ihn zunächst an die Insel fesselt, ihm dann aber durch einen Stromausfall Zugang zu allen Räumlichkeiten der Anstalt ermöglicht. Allerdings wird es auch für ihn immer komplizierter, Freunde und Feinde auseinanderzuhalten, selbst seinen Partner Chuck verdächtigt er am Ende.
Wie in „Gangs of New York“ befindet sich auch Daniels in einer begrenzten Welt, und wie bei Amsterdam und dem Polizisten Billy in „Departed“ ist seine Mission eine zutiefst persönliche. Er hat enorme Schwierigkeiten, die Ordnung zu durchschauen, doch schafft er es, sich einen Sinn hinter allem zu konstruieren. Allerdings sind hier im Gegensatz zu den drei anderen Filmen seine Überlegungen falsch. Sein Geist ist erschüttert, so stark, dass er seine Identität verleugnet und sich eine Phantasiewelt erdenkt. Aber er krankt nicht an der Unmöglichkeit, mit der äußeren Welt zurechtzukommen, so wie es Howard Hughes ergeht. Sein Problem ist er selbst, seine Taten, seine Schuld. Hier sind die äußeren, verworrenen Mächte, gegen die er kämpft, eigentlich seine Helfer, die ihn zur Wahrheit und damit zu sich selbst führen wollen. Sein wahrer Feind ist seine eigene Person.
Scorsese zeigt in den Filmen DiCaprio als Mann, der gegen äußere Mächte seine Identität und seine Weltvorstellung zu verteidigen sucht, ohne dabei die Übersicht und die Kontrolle zu verlieren. Mit „Shutter Island“ aber vollzieht er eine Wendung, denn hier ist die Hauptfigur erstmals ein Täter, der längst völlig die wirkliche Welt aus dem Blick verloren hat. Um dies zu erzählen, lässt er die Zuschauer durch seine Sicht sehen und mit ihm sehr langsam die reale Wahrheit erkennen. So zweifelt auch das Publikum bis zum Schluss an dem Gezeigten, will sich nicht völlig von den früheren Sinnstiftungen aus Daniels Phantasie befreien. Dies liegt an der Art der Inszenierung, die den Zuschauer psychisch und körperlich den Weg der Hauptfigur mitfühlen lässt. Der Kameramann Robert Richardson, der für Scorsese schon „Aviator“ filmte und sonst mehrfach mit Tarantino und Oliver Stone zusammenarbeitete, entwirft zusammen mit Production Designer Dante Ferretti („Aviator“, „Gangs of New York“) sehr klare Bilder, die die Rauheit und Feindlichkeit der Umgebung ausdrücken. Der Wind vom stürmischen Meer, der kalte Regen, die scharfen, glatten Felsen, alles wird dem Zuschauer durch die Bilder direkt erfahrbar gemacht. Dazu die ungewöhnliche Musik, die eher einzelne Klänge und Geräusche anstatt eine Melodie darstellt und die unheimliche und ausweglose Atmosphäre der Gefängnisinsel unterstreicht. Das Publikum wird so sehr stark in die Geschichte und die Gedankengänge des Protagonisten hineingezogen, eine andere Perspektive und Wahrnehmung wie die seine ist nicht möglich.
Dennoch baut Scorsese die gesamte Zeit über sehr geschickt kleine Andeutungen auf die Brüchigkeit des präsentierten Zusammenhangs ein. Schon in den ersten Einstellungen bemerkt der sehr aufmerksame Zuschauer einen winzigen Anschlussfehler. Während einer Halbtotalen von Daniels und seinem Partner auf der Fähre, die sie zur Insel bringt, ist in Daniels Profil schon ein Lächeln zu erkennen. In der darauffolgenden Nahaufnahme blickt Daniels aber noch ernst, bevor er dann schief grinst. So etwas, in vielen Filmen auftretend, mag zunächst als Zufall abgetan werden. Doch Scorsese lässt seine langjährige, oscarprämierte Cutterin Thelma Shoonmaker immer wieder solche Anzeichen einarbeiten, viele wesentlich auffälliger, als dass sie als Fehler gelten können. So wird der Hinweis auf die Unbeständigkeit dieser erschaffenen Welt und der anscheinend objektiven Wahrheit auch auf filmischer Ebene gestreut. Zeit und Ort der filmischen Welt werden brüchig. Fällt es auf oder wird es bei Erkennen der wirklichen Vorgänge am Ende des Films erinnert, wird dem Zuschauer die Orientierungslosigkeit und die Verwirrung des Protagonisten noch deutlicher vor Augen gestellt, da er selbst Ungereimtheiten, eben auch in der erschaffenen filmischen Umgebung, wahrnimmt.
Man mag der Geschichte vorwerfen, nichts besonders Neues zu zeigen. Allerdings ist Scorseses Erzählweise derart intensiv und packend, zudem filmisch intelligent und stimmungsvoll komponiert, dass der Film einen starken Eindruck beim Zuschauer hinterlässt. Er liefert außerdem eine interessante weitere Komponente zu der bisherigen Zusammenarbeit zwischen Scorsese und DiCaprio, die nun den Mann in der kompletten Verwirrung seiner Identität zeigt.
Elisabeth Maurer
Regie: Martin Scorsese. Drehbuch: Laeta Kalogridis nach dem Roman von Dennis Lehane. Kamera: Robert Richardson. Produzenten: Brad Fischer, Mike Medavoy, Arnold Messer, Martin Scorsese.
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Michelle Williams
Verleih: Paramount
Laufzeit: 138 min
Start: 25.2.2010