51. Hofer Filmtage – 24. bis 29. Oktober 2017
Retrospektive Tony Gatlif
Thorsten Schaumann |
In diesem Jahr übernahm Thorsten Schaumann die Leitung der
Hofer Filmtage. Seit ihrer Gründung bis – fast – zur 50. Ausgabe 2016 wurden
sie von Heinz Badewitz geleitet; und dass die diesjährige Ausgabe sich ganz auf
die Tradition einließ – inkl. Bratwurst und Fußballspiel –, nicht mit den
vorherigen Jahrzehnten brach, auch und vor allem in der Filmauswahl einen
ähnlichen Stil aufwies, bedeutet einerseits die starke Stellung, die Heinz
Badewitz dem Festival erarbeitet hatte. Und andererseits, dass das Festival
stärker ist als die Person, die im Frühjahr 2016 überraschend verstorben war.
Die Hofer Filmtage gehen weiter; und glücklicherweise auch mit einer
Retrospektive. Die Hof-Retros nämlich haben regelmäßig Filmemacher (neu oder
erneut) ins Bewusstsein gerückt, die zumindest in der deutschen Rezeption im
Abseits standen. Entdeckungen der Filmgeschichte sind hier zu machen – nicht
notwendig in vollständigen Werkschauen, aber in Schlaglichtern, die das
filmhistorische Bewusstsein erweitern.
Tony Gatlif |
Nun war in letztem Jahr die Retro – geschuldet
wahrscheinlich dem Interims-Leitungstrio um Schaumann, Alfred Holighaus und
Linda Söffker – sehr einfallslos und mau ausgefallen: Fünf Filme aus fünf
Jahrzehnten, das auszudenken und zu organisieren war sicherlich nicht allzu
viel Arbeit. Verständlich: Die drei mussten sich erstmal überhaupt darauf
konzentrieren, das Festival als Gesamtes zu stemmen. 2017 nun, da sich
Schaumann auf das Festival einlassen und das rege Hofer Filmtage-Team ganz neu
einspannen kann, ist sie gottseidank wieder da, die Retro. Diesmal mit dem
französischen Filmemacher Tony Gatlif.
Gatlif – ich habe sogar einmal einen Film von ihm gesehen,
2002: "Swing". Eine meiner allerersten Pressevorführungs-Besuche. Ich
wusste kaum mehr etwas von dem Film, bis ich ihn hier in Hof wiedersah.
"Swing" enthält typische Gatlif-Elemente: Auf der ersten Ebene das
Präsentieren der französischen Roma-Kultur; auf der zweiten Ebene läuft das
dadurch ab, das ein "Nicht-Eingeweihter" in diese Kultur eingeführt
wird. Drittens haben wir einen Durchwurschtler als Hauptfigur, einen
Angehörigen der Roma, der sich das Leben, das er haben will, auf verschiedenen
Wegen erschleicht. Und viertens wird all dies eng mit der Musik verbunden. Im
Kontext von "Swing" sogar schon im Titel – der Name auch des
Zigeunermädchens, um das es geht, mit dem der zehnjährige Max Freundschaft
schließt: Max ist ein Gadjo, ein Nicht-Rom, der die Musik liebt, der sich über
Swing eine Gitarre besorgt und bei Swings Onkel Miraldo Unterricht nimmt. Und
dadurch so richtig initiiert wird.
Die Story ist einerseits die einer Freundschaft, warmherzig
erzählt, dem Film-Standard "Letzter Sommer der Kindheit" entsprechend
– zwischen Kindheit und Pubertät, zwischen Kumpelbeziehung und Liebe spielt
sich das ab, was Max und Swing erleben. Andererseits ist die Story lediglich
Aufhänger und roter Faden für das, was Gatlif tatsächlich will: Er will die
Musik wieder ins Bewusstsein bringen, Meister wie Tchavolo Schmitt und Mandino
Reinhardt – aus der weitläufigen Familie des Altvorderen Django Reinhardt: Die
spielen sich weitgehend selbst, und in langen Passagen feiert der Film die
Musik, wenn sich alle zum spontanen Fest versammeln, wenn der Wohnwagen
angefüllt ist mit Musikern, wenn der Swing so richtig rüberkommt.
Ein anderes Element des Gatlif'schen Kinos findet sich in "Swing": Die Angstfreiheit vor dem Klischee. Denn wenn Gatlif seine Kultur zeigt, dann einerseits realistisch, mit all dem Dreck im Slum, dem Druck der Obrigkeit, dem Hass der Nicht-Roma, der Mehroderweniger-Klein-Kriminalität, der jahrhundertewährenden Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Vernichtungsversuchen. Doch andererseits findet er auch immer wieder auf die Schiene des Märchenhaften, vor allem in den Abendszenen, wenn die Gemeinschaft am Lagerfeuer sich zu Tanz und Musizieren zusammenfindet – dann sind wir sehr nah dran am typischen Bild der Zigeunerromantik. Das ist zunächst nicht allzu schlimm – Woody Allens beste Filme baden im Klischee des New Yorker Judentums –; ist bei Gatlif aber mitunter beinahe schon störend.
Deutlich wird das in "Transylvania" aus dem Jahr
2006. Hier reisen zwei Freundinnen nach Rumänien, Zingarina sucht in Begleitung
von Marie ihren Geliebten, einen Roma, der abgeschoben wurde. In Transsilvanien
geraten sie in die Kultur von, was sonst, Musik und Tanz, in kleinen
Kellerkneipen, in edlen Hotels, beim großen Festumzug. Der Traum von der großen
Liebe zerplatzt schnell, auch die Gemeinschaft der Freundinnen zerbricht – und
erst im Mittelteil kommt der Film so richtig zu sich, wird zu einem großen
Erlebnis. Bezeichnenderweise, wenn die Musik aufhört. Denn Zingarina ist nun
mit dem Durchwurschtler Tchangalo unterwegs, der sie aufgelesen hat. Er ist
irgendwie Deutscher, Antiquitäten- und Goldhändler, wird gespielt von Birol
Ünel; und im Team mit Asia Argento, die die französisch-italienische Zingarina
spielt, ist er unschlagbar. Die beiden zusammen: Eine Amour fou on the road
durch Transylvanien. Er ein Hallodri und Geschäftemacher, sie schwanger,
verzweifelt und immer mehr wie eine gipsy
woman angekleidet. Schmuck, bunter Rock, Kopftuch. Zwei, die nirgends
dazugehören und deshalb zusammenfinden. Geschickt baut Gatlif die merkwürdige,
ambivalente Beziehung der beiden auf, führt sie lange Wege über die Straßen,
vom Sommer in den Winter; zwei Einzelgänger, die die Unabhängigkeit suchen, tun
sich zusammen. Das ist stark inszeniert, mit situationskomischen Einsprengeln
und dramatischen Emotionen – und die einzige Musik dabei: Wenn sie mal auf dem
Rad dem Auto davonfährt und "Avanti popolo" singt; und wenn er ihr
"seine" Musik vorführt, den deutschen Schlager: "Marmor, Stein
und Eisen bricht". Ansonsten im Mittelteil musikfrei – und man kann sich
wohltuend auf die Charaktere und ihren Weg konzentrieren.
In "Transylvanien" verpasst Gatlif zu Beginn die
rechte Balance, was den Musikeinsatz angeht. Er selbst ist Musiker, schreibt
den Soundtrack und spielt ihn oft auch mit ein – ohne Musik kein Film. In
"Exils" von 2004 geht es denn tatsächlich um einen Musiker; freilich
keinen Roma, sondern einen algerischstämmigen Franzosen – Gatlifs Vater stammt
aus Algerien, die Familie ist nach dem Algerienkrieg nach Frankreich
umgesiedelt. Genau darum geht es in "Exils", allerdings geht die
Reise in die andere Richtung. Zano (Romain Duris) und seine Freundin Naïma
(Lubna Azabal) beschließen eines nachmittags, nach Algerien zu reisen. Sie ist
Nordafrikanerin, aber voll französisch erzogen. Naïma hört revolutionäre Musik,
ein Rock-Techno-Agitprop-Misch, den Gatlif betextet und komponiert hat; Zano
mauert seine Violine ein, er kann die Musik nicht weiterverfolgen, bevor er etwas
über seine Vorfahren in Algier erfahren hat.
Die Reise geht los, und sie hangelt sich an musikalischen
Zwischenspielen entlang. Mal eine Gruppe "manouches", mal Flamenco –
ohne Geld über paar tausend Kilometer bis zu den Klängen Nordafrikas, wo in
einer langen, hypnotischen Sequenz Musik, Trance und Selbstfindung
zusammenfallen. Gatlif findet in "Exils" zu einem mitreißenden
Roadmovie, zu einer schönen Liebesgeschichte, zum Clash und zum Finden der
Kulturen – in Cannes erhielt er für den Film den Regiepreis.
Der Gatlif-Film, der mich am meisten beeindruckt hat, stammt
allerdings aus dem Jahr 1982: "Les Princes", der früheste
Gatlif-Film, der in Hof gezeigt wurde. Nara ist der Proto-Rumtreiber par
excellence, um ihn spinnt sich – nein, keine Handlung, sondern Situationen des
Lebens selbst. Wir tauchen tief ein in den Alltag der Roma, die in zerfallenen
Wohnungen in zerfallenen Häusern hausen, stets bedroht von der Zwangsräumung.
Auf der Straße steht ein Pferd, auf der Wiese voller Schrott spielen die
Kinder. Man muss irgendwie durchkommen – mal hier Antiquitäten renovieren, An-
und Verkauf von allem möglichen, gerne auch mal ein kleiner Diebstahl. Wichtig:
Die Familie. Und: Das Überleben. Liebe – nur nach den Regeln der Tradition und
der Ehre.
Nara hat seine Frau verstoßen, wohnt jetzt mit seiner Mutter
und seiner Tochter; die Frauen haben wenig zu sagen, regeln aber hintenrum
ziemlich viel. Die Mutter aber darf die Tochter nicht sehen. Ihr Vergehen: Sie
hat zehn Jahre lang die Pille genommen und Nara nichts davon gesagt. Lüge und
Vorenthaltung von Nachwuchs – das ist zuviel. Auch, wenn sie nur naiv dem Rat
des Sozialamtes gefolgt ist. Mit ihren Brüdern muss Nara die Sache regeln. Sein
Freund, ein Gadjo, ist Kumpan bei diversen kriminellen Aktivitäten – bis es
Nara zuviel wird, und er zeigt, was in ihm steckt, auch über das fragile
Konzept von Freundschaft hinaus. Nachts brüllt jemand auf der Straße nach
seiner Beatice, die ihn verlassen hat, ein Verrückter, der zum Erscheinungsbild
gehört. Einmal trägt einer ein halbes geschlachtetes Tier auf der Schulter
durch die Gegend – Rind? Schwein? Pferd? –, Nara darf sich eine Scheibe davon abschneiden.
Irgendwann rückt die Polizei an, Nara und Familie werden rausgeschmissen; und
im letzten Drittel des Films geht es radikal um die Selbstbestimmung dieser
Kultur. Naras alte Mutter macht sich auf, will zum Anwalt, jetzt reicht es.
"Ihr seid Ratten, ihr müsst vertrieben werden!", ruft einer der
Flics, als sie den Wohnwagen anzünden, in dem Naras Familie zwischendurch
nächtigen. Sie sitzen auf der Straße, Mitleid und Unterstützung gibt es kaum,
außer von den eigenen Leuten – aber die haben auch nichts. Der Weg zum Anwalt
ist lang, vielleicht zu lang für ein Leben, für eine Generation; all die Last
der Vergangenheit, der ständigen Repressionen, der Vernichtungsaktionen der
Nazis, der Verdrängung lasten auf den Schultern. Das Höchste an behördlicher
Hilfe: Zuweisung eines Lagerplatzes für die "nomades"; der entpuppt
sich als die örtliche Müllkippe.
In einem Nobelgasthaus hat Nara ein Interview arrangiert mit
einer Journalistin, der er die Situation schildern will; die aber, ganz
engagierter Kulturmensch, interessiert sich vor allem für die Frage der Frau in
der gipsy-Kultur. Ja sicher,
angesichts des patriarchalischen Chauvinismus von Nara eine spannende Frage –
aber nicht existentiell brennend für die, die am Abgrund stehen und von hinten
geschubst werden. Erstmal muss überhaupt eine Lebensgrundlage geschaffen
werden, bevor sich die Frage stellt, wie
gelebt werden könnte oder sollte…
Ein unglaublich starker Film ist "Les Princes",
der unversöhnlich von der Unüberbrückbarkeit erzählt, der die ganz eigene
Kultur der Manouches vorstellt und
dabei jeden Anflug von Zigeunerromantik unterlässt. Dafür äußerst detailreich
das Elend beschreibt, ohne etwas zu beschönigen: Da hat sich die Retro gelohnt
– von diesem Frühwerk ausgehend die Filmographie von Tony Gatlif zu erforschen.
Harald Mühlbeyer