Interview mit Hellmuth Karasek: "„Billy Wilder kommt vor Hitchcock, aber er ist nicht so bekannt.“


Gespräch mit Hellmuth Karasek anlässlich der Eröffnung der Fotoausstellung „Eins, zwei, drei – Billy Wilder“ im Jüdischen Museum Rendsburg am 17.6.2012
von Tonio Gas, mit Bettina Uhlich


Hellmuth Karasek, Autor, Experte und Freund von Billy Wilder, war als Festredner zur Ausstellungseröffnung geladen und gewährte uns anschließend Zeit für ein Gespräch. Herr Karasek konnte schon zuvor in einer manuskriptfreien Rede mühelos auf dem schmalen Grat zwischen anekdotischem Witz und ernsthaften Bezügen zum NS-Terror wandeln. Und so entwickelte sich auch das Interview zu einer anregenden persönlichen Unterhaltung, in der Karasek freimütig von seinen Erfahrungen und Kenntnissen Zeugnis gab, über Größen wie Marilyn Monroe, Jean Harlow, aber auch Quentin Tarantino, über sein Talent als Witzeerzähler, seinen Nicht-Sex mit Marilyn Monroe und über eine Verbindung von Billy Wilder zu Heinrich Heine, Oberst Redl und Romy Schneider.



Karasek: Mein erster Verleger hatte Billy Wilder gesagt, mein Buch „Billy Wilder – eine Nahaufnahme“ werde ein Riesenerfolg. Filmbücher werden nie Riesenerfolge in Deutschland, nie! Und Billy Wilder dachte immer, der Verleger ist ein Betrüger und zahlt nicht. Er hat gedacht, er verdiene damit so viel wie mit „Some Like It Hot“. Die Filmleute sind da immer sehr enttäuscht. Filmbiographien haben keine großen Auflagen. Anthony Quinn, der weltberühmte Schauspieler, hatte in Hamburg im Thalia Theater die Buchpremiere seiner Autobiographie. Ich hatte eine Einleitung gemacht, das Theater war gerammelt voll, die Leute haben sich das signieren lassen, aber der Verlag hatte eine Auflage von unter 10.000 Stück, glaube ich. Nein, Filmbücher kauft man nicht!

Uhlich: In Deutschland nicht.

Karasek: Ja, in Deutschland nicht. Ich hätte es merken müssen, als ich zu meiner Mutter sagte: „Du, ich fahre zu Billy Wilder nach Hollywood.“ Da hat sie gefragt: „Wer ist das?“ Ich habe gesagt: „Some Like It Hot“, und sie: „Ach ja, dieser herrliche Monroe-Film.“ Das heißt, Regisseure kennen Leute nicht.

Gas: Nur Hitchcock, der konnte sich selbst so gut als Marke inszenieren, immer dieser schwarze Anzug…

Karasek: Der war die Marke!

Uhlich: Aber nach Hitchcock kommt doch auch schon ganz schnell Billy Wilder.

Karasek: Er kommt vor Hitchcock, aber er ist nicht so bekannt. Haben Sie einen Zettel?

Karasek demonstriert durch verschiedene Schriftgrößen die allgemeine Bekanntheit von Darstellern und Regisseuren.

Karasek: Ich zeigen Ihnen mal was: SOME LIKE IT HOT. Jack Lemmon. Marilyn Monroe – so groß, mit Bildern auf dem Plakat. (Dann schreibt Karasek unten sehr klein weiter) Ein Film von Billy Wilder. 

So war das damals, das ist wie wenn es in Salzburg heißt: KARAJAN – dirigiert Mozart (schreibt es auf, jedes Wort kleiner als das vorherige). Also, ich übertreibe ein bisschen, aber so ist es.

Gas: Ich kann das bestätigen. Ich hatte kürzlich jungen Hochschulabsolventen erzählt, dass ich zu einer Billy-Wilder-Ausstellung fahre, und man sagt immer „Some Like It Hot“, wenn jemand fragt, wer Wilder ist. Und dann wissen die Leute Bescheid, ganz junge Leute, es ist heute noch so.
Sie hatten im Vortrag schon gesagt, dass Sie beruflich erstmals anlässlich der 1985er Wiederaufführung von „Eins, zwei, drei“ mit Billy Wilder in Kontakt kamen. Und privat? Wann haben Sie überhaupt zum ersten Mal von dem Namen Billy Wilder gehört?

Karasek: „Some Like It Hot“ war der erste Kultfilm, den gab es im Programmkino. Dann gab es etwas sehr Verdienstvolles: Filmereihen in den dritten Fernsehprogrammen. Da sind dann die Filme auch gekommen, Stummfilme und Tonfilme. Und ich habe für den „Spiegel“ noch Kritiken zu Filmen von Wilder geschrieben, die neu ins Kino kamen. Zum Beispiel „The Front Page“, die Wiederverfilmung von „His Girl Friday“ von Howard Hawks. Billy Wilder hat auch eine schöne Version gemacht, damals mit Bezug zu Watergate. Diesen Film habe ich also zu seinen Lebzeiten besprochen.

Gas: Beginnen wir einmal mit Wilders Schaffen in der Zeit, als er nach Hollywood kam, in den 1930er Jahren. Eine sehr turbulente Zeit, es gab US-Nazis, den Ku-Klux-Klan, die rassistische und antisemitische Terrorgruppe Schwarze Legion, die Anti-Nazi-Filme der Warner Brothers. Was meinen Sie, warum Wilder und sein Studio, die Paramount, so etwas nicht gemacht hatten?

Karasek: Die Paramount hat das später gemacht, auch Billy Wilder. „Stalag 17“ (1953), das ist ein Film, der in einem deutschen Gefangenenlager für Engländer spielt. Er hat 1943 „Five Graves to Cairo“, einen Film gegen Rommel gemacht.

Gas: Aber in den 30ern hatte er es doch eher mit dem Lubitsch-Touch…

Karasek: Da hat niemand Filme über die Nazis gemacht. Gerade Lubitsch hat einen gemacht, mit „To Be Or Not To Be“, das ist der erste Nazifilm über Hitler, den ich kenne [Anm.: Der Film ist 1942 herausgekommen. In „Confessions of a Nazi Spy“, 1939, und in Chaplins „The Great Dictator“, 1940, kommt Hitler zumindest indirekt vor].
Chaplin hatte die Amerikaner dann sehr verärgert mit seinem „Großen Diktator“. Ich erinnere mich, dass ich in Hollywood war, bei Spielberg, als „Schindlers Liste“ herauskam, und ich saß im Wilshire, Beverly Hills, an der Bar. Die Amerikaner sind ja sehr gesprächig, und jemand fragt mich: „Was machen Sie denn hier?“ „Ich guck’ mir ‚Schindlers Liste’ an“, darauf sagt er: „I love Spielberg, but in this film, he mixes politics and movies, that’s never good.“ Das ist eine alte Hollywoodtheorie. Man macht keine Politik in Filmen. Das war in den 40er Jahren die große Ausnahme, dass man das machte.

Gas: Manchmal drückt sich bei Wilder eine sehr kompromisslose Haltung aus, beispielsweise im Umgang mit der NS-Vergangenheit, wenn er vorschlägt, bei den Passionsspielen echte Nägel zu verwenden, wenn ein NS-belasteter Mann den Jesus spielen soll…

Karasek: Nein, das war natürlich ein Witz! Und eine zynische Haltung. Er hat ihn dann auch spielen lassen, und sie haben keine echten Nägel benutzt.

Gas: Ich wollte damit auf Folgendes hinaus: Einerseits das Scharfzüngige, vielleicht Zynische, andererseits die Zusammenarbeit mit Charles Lindbergh, einem Antisemiten, bei „Lindbergh – Mein Flug über den Ozean“, 1957. Wie verlief diese? Ich habe gehört, sehr gut, und dass Wilder sehr tolerant war!

Karasek: Ja, das waren sie wohl beide. Es gibt eine Geschichte, die ich auch in meinem Buch erzähle, wo er mit Lindberg von New York nach Washington fliegt, und es ist ein sehr unruhiger Flug. Da hat er zu Lindberg gesagt: „Das wär schön, wenn das Flugzeug jetzt abstürzt und es hieße: ‚Lindbergh stirbt zusammen mit einem berühmten Juden’.“ Lindbergh könnte eigentlich ein Chaplin-Held sein. Er hatte drei Ehefrauen zur gleichen Zeit, er hatte in der Schweiz eine Geliebte, ihre Schwester in München und eine Frau in Amerika. Jetzt weiß man auch, warum er so oft geflogen ist!

Gas: Gut, aber kompromisslos war Wilder doch anlässlich von „Stalag 17“, bei dem in der deutschen Synchronfassung aus dem deutschen ein polnisches Lager gemacht werden sollte. Da hat er gesagt: Entweder Sie entschuldigen sich oder ich drehe nie wieder einen Film für die Paramount. Und letzteres geschah!

Karasek: So ist es tatsächlich gekommen, das stimmt, da war er kompromisslos, das ist ein gutes Beispiel.

Gas: Also doch ein Bruch, dass er dann mit Lindbergh zusammenarbeiten konnte?

Karasek: Nein, das war es nicht, das war kein Bruch. Ich wollte noch eines erzählen: Wilder hat es sehr imponiert, dass Lindbergh, dieser amerikanische Nationalheld, mit dem Bus zu ihm gekommen ist, in Hollywood, als Offizier. Der war ein straighter Mann, und das hat Wilder schon imponiert. Ich meine, wenn Sie den Rommel-Film „Five Graves to Cairo“sehen, wissen Sie, dass er auch Rommel, den Erich von Stroheim spielt, nicht etwa als Bestie zeichnet. Er hat schon echte Charaktere gesucht. Sie müssen sehen, dass er eigentlich immer ein Feind von ideologischen Verbiegungen war. Er hat das Drehbuch zu „Ninotschka“ geschrieben, den Lubitsch-Film – na wenn das nicht der Film ist, der sich am meisten über den Kommunismus lustig macht.

Gas: Ja, dieses Ideologiekritische, das sieht man in „Five Graves to Cairo“ bei der Frau, die Anne Baxter spielt, die sich zunächst immer durchlavier. Und sobald sie sich entschließt, sich für „die Sache“ einzusetzen – stirbt sie! Das ist doch bezeichnend!

Karasek: Ja, ja! Und bei „Five Graves to Cairo“ finde ich den schönsten Einfall, wie der ägyptische Hotelbesitzer die Bilder wechselt. Wenn Hitler vormarschiert, kommt immer das Hitlerbild, und bei den Engländern das Montgomerybild.

Gas: Und bei „Eins, zwei, drei“, 1961, rutscht der Chruschtschow aus dem Rahmen und Stalin ist dahinter. Haben Sie sich nicht nur bei „Stalag 17“, sondern auch bei anderen Filmen mit diesen ganzen Umsynchronisierungen beschäftigt? Das gab es ja noch später, dass die bösen Nazideutschen wegsynchronisiert wurden, beispielsweise in den 80ern bei einem James Bond, „Im Angesicht des Todes.“ Warum hält sich das so hartnäckig?

Karasek: Also, bei „Inglorious Basterds“, dem Tarantino-Film, wird nix mehr umsynchronisiert!!! Den liebe ich sehr, haben Sie den gesehen? Das ist ein so irrer Film. Ich hatte die Inhaltsangabe gehört und dachte, in den Blödsinn gehe ich nicht rein. Aber das ist ein so toller Film! Glauben Sie mir, da wird nichts mehr geschönt! Zurück zu Veränderungen für den deutschen Markt: Filmleute wollen Geschäfte machen. Das ist völlig legitim. Und wenn die Deutschen das nicht sehen wollten… Das berühmteste Beispiel ist „Casablanca“, da hat man diese Liedergeschichte herausgenommen, wenn die deutschen Besatzer „Die Wacht am Rhein“ singen und die Freiheitskämpfer setzen dem die „Marseillaise“ entgegen. Es gibt viele Beispiele für so etwas. Auch sehr berühmt ist Hitchcocks „Notorious“, 1946, der auf Deutsch „Weißes Gift“ Genannt wurde. Da wurde ein Nazifilm zu einem Rauschgiftschmuggelfilm, völlig umsynchronisiert. Und ehrlich gesagt, es spielt keine Rolle, es geht genauso gut.

Uhlich: Es musste sich in Deutschland verkaufen…

Karasek: Dabei waren die Nazis für diesen Film nur ein Aufhänger. Hitchcock hatte übrigens damals Schwierigkeiten mit dem amerikanischen Geheimdienst, weil er suggerierte, dass die Nazis von den Atomplänen der Amerikaner wussten. Der Geheimdienst hatte Angst, dass herauskommt, dass die Amerikaner die Atombombe bauen.

Gas: Inwieweit drückt sich Billy Wilder als Regisseur und Autor über seine Filme aus? Ich denke da an Fritz Lang, der nicht so eloquent war und meinte, er will sich nicht erklären, er will sich über seine Filme ausdrücken. Andererseits sagt Billy Wilder, wenn er traurig war, habe er Komödien gemacht, und umgekehrt. Hat er sich nicht über seine Filme ausgedrückt? Oder war das komplementär, so dass das eine das andere ergänzt hat?

Karasek: Das mit „traurig und lustige Filme“, das ist wahr und nicht wahr, und gleichzeitig ein Bonmot. Aber schon Heine hat gesagt: „Aus meinen traurigen Geschichten mache ich die lustigen Lieder.“

Gas: Beides ist bei Wilder sehr dicht beieinander. Als Dreizehnjähriger habe ich „Das Apartment“, 1960, gesehen, es hieß „Komödie“. Und dann ist das so unendlich traurig, also heute liebe ich den Film…

Karasek: Ja, es heißt „Komödie“, und dann kommt ein Selbstmordversuch vor… Im Übrigen habe ich in meinem Witzbuch „Soll das ein Witz sein? Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ einen sehr schönen Wilder-Witz aus der „Apartment“-Zeit:

Da gibt es ein junges Paar in New York. Sie wohnt bei ihren Eltern und er wohnt mit Freunden zusammen, und sie können’s nie in der Wohnung miteinander machen. Eines Tages kommt sie zu ihm und sagt: „Es wird Herbst und im Auto und im Park wird’s immer kälter, aber ich hab eine wunderbare Idee. Meine Eltern werden dich am Sonntag zum Mittagessen einladen. Du wirst kommen, wirst meiner Mutter einen Strauß Blumen mitbringen und meinem Vater Zigarren, dann werden wir Mittag essen, und dann wird mein Vater wie jeden Sonntag sagen: ‚So, jetzt gehen wir ins Kino.’ Ich werde sagen: ‚Ich hab Migräne’, und Du wirst meinen Vater fragen: ‚Welcher Film läuft denn?’ Mein Vater wird sagen: ‚Vom Winde verweht.’ Und dann wirst Du sagen: ‚Oh, schade, den hab ich schon gesehen.’ Meine Eltern sind solche Freaks, die gehen trotzdem ins Kino, und wir können endlich alleine in der Wohnung sein.“ Der junge Mann kommt, bringt Blumen, bringt Konfekt und Zigarren, isst, der Vater sagt: „So, jetzt gehen wir ins Kino“, die Tochter sagt: „Ich hab Migräne“, der junge Mann fragt: „Was wird gespielt?“ Da sagt der Vater: „Vom Winde verweht.“ „Oh“, sagt der junge Mann, „da komme ich sehr gerne mit, auf den freu ich mich schon lange.“ Jetzt kommt die Frage von Billy Wilder: „Was war passiert?“ Der junge Mann hatte in dem Vater den Drogisten erkannt, bei dem er sich am Abend zuvor die Präservative gekauft hat.

Ein richtig guter Drehbuchwitz, nicht?

Uhlich: Ja, so ähnlich wie diese Werbung mit Hella von Sinnen …: „Was kosten die Kondoooome?“ Jaja, dass man das nie zugeben mag…

Gas: Aber das haben die von Woody Allen geklaut; da gibt es in „Bananas“,1971, eine solche Szene, in der sich Allen verschämt ein Pornoheft im Supermarkt kaufen möchte… Zurück zu Billy Wilder. Wer ist eigentlich der Autor eines Filmes? Es gab und gibt ja die französischen Autorentheoretiker oder Autorenpolitiker, die nur den Regisseur als Autor ansehen. Aber bei Wilder hat man immer den Eindruck, auch der Drehbuchautor ist es. Wir meinen, dass in „Hold Back the Dawn“ oder „Blaubarts achte Frau“ wahnsinnig viel Wilder drinsteckt, obwohl er nicht der Regisseur war. Andererseits erscheint uns seine Lindbergh-Regiearbeit, zu der er aber auch das Buch geschrieben hat, weniger wilderesk. Also der Drehbuchautor als Hauptschöpfer?

Karasek: Der Drehbuchautor ist der Hauptschöpfer. Das heißt, der Filmemacher ist der Hauptschöpfer. Wilder hat, ohne es zu wollen, den auteur geschaffen. Er hat nur eigene Drehbücher verfilmt. Und er hat ab einem bestimmten Zeitpunkt seine Drehbücher niemand anderem zum Verfilmen gegeben, also ist er sozusagen der absolute Autor.

Gas: Billy Wilder und seine Darsteller: Zu Jack Lemmon und William Holden hatte er ja wohl ein recht inniges Verhältnis…

Karasek: Er hatte auch zu Walter Matthau ein sehr enges Verhältnis, und ich glaube, auch zu Erich von Stroheim. William Holden – so hätte er gern ausgesehen, aber so wäre er nicht gern gewesen. Sein anderes Ich, sein bestes Ich ist schon Jack Lemmon.

Gas: Würden Sie denn sagen, dass man sich daher zu Recht eher an Lemmon als an Holden erinnert?

Karasek: Das weiß ich nicht, ich erinnere mich auch gut an William Holden, und ich habe heute in der Festrede ja auch gesagt, der erste Film mit William Holden, „Sunset Boulevard“ von 1950, ist einer seiner persönlichsten Filme. Nicht umsonst spielt Wilders Frau mit, Audrey Wilder! Nicht umsonst ist das die Geschichte eines Drehbuchautors, in der diese Frau das Mädchen spielt, für das er sich gern entscheiden würde.

Tatsächlich irrt Herr Karasek; die Rolle wird von Nancy Olson gespielt. Aber ist nicht eine tiefere Wahrheit hinter dieser kleinen Unwahrheit, wie auch in gewissen Anekdoten Wilders selbst? Karasek meinte später, gelegentlich würde man Geschichten so oft erzählen und variieren, dass man glaube, man sei selbst dabeigewesen und/oder sie hätten sich genau so abgespielt. Daher könne man Wilder nicht wegen mangelnder Akkuratesse kritisieren. Wir meinen, dass Karasek ungewollt ein schönes Beispiel für diese These geliefert hat. Man kann durchaus in der Figur des Drehbuchautors aus dem Film Billy Wilder wiedererkennen, und in dem Mädchen die Frau, zu der er sich sehnt, wenn ihn eben nicht die krakenartige Seite der Hollywoodmaschinerie an- und aussaugen würde. So gesehen ist es konsequent und „wahr“, wenn Karasek meint, sich an Audrey Wilder in der Rolle zu erinnern (wobei der echte Billy Wilder sich nicht aussaugen ließ).

Gas: Zur Bedeutung der Darsteller für Wilders Filme würde mich Ihre kurze Einschätzung zu ein paar Besetzungen interessieren, um die Wilder sich vergeblich bemüht hatte. Wie wären die folgenden Filme geworden, was wäre anders, besser oder nicht so gut? Zunächst „A Foreign Affair“, 1948, mit Clark Gable statt John Lund.

Karasek: Der Hauptdarsteller wäre dominanter gewesen, männlicher. Ob es genützt oder geschadet hätte? Das, was ist, ist immer besser.
Besser H. Karasek oder T. Gas?
Gas: „Sunset Boulevard“ mit Mae West statt Gloria Swanson?

Karasek: Das wollte er nicht wirklich. Er hat es versucht, ja. Da ich den Film ohne Mae West gesehen habe und mir nichts fehlt, ist sozusagen nichts dagegen einzuwenden.

Gas: „Sabrina“,1954, mit Cary Grant statt Humphrey Bogart?

Uhlich: Ich glaube, dann hätte man den Film kürzen müssen, denn die Frauen sind ja alle Cary Grant verfallen.

Karasek: Bogart waren die Frauen auch alle verfallen. Aber Bogart hat das gehasst, dass er den älteren Bruder spielt, er hat das wirklich gehasst. Ich glaube, Cary Grant hätte da mehr Spaß gehabt. Bogart spielt ja gegen den Strich einen reichen, arbeitsamen, wohlerzogenen, aber zunächst etwas verklemmten Geschäftsmann der Oberschicht, William Holden seinen leichtlebigen Bruder.
Aber das war nicht wichtig; hingegen: Bei „Some Like It Hot“ wollte er unbedingt Cary Grant haben, und da hat er nur Tony Curtis bekommen. Und Tony Curtis hat sich gerächt, indem er eine wunderbare Cary-Grant-Parodie spielt. Er spricht wie Cary Grant, am Strand, als er sich als Ölmillionär ausgibt. Er benutzt einen britischen Akzent und spielt den Cary Grant! Wilder hat bedauert, dass Cary Grant nie auf der Payroll der Company war, bei der er gerade gedreht hat.
Der wichtigste Fall, wenn Sie danach fragen, war, dass Wilder bei „The Seven Year Itch“ Walter Matthau statt Tom Ewell haben wollte. Tom Ewell wirkt so ein bißchen wie Lemmon, nur noch dümmlicher, und Billy Wilder wollte das schon sexuell aggressiver besetzen. Aber da hat die Company nicht mitgespielt. Walter Matthau, der wäre mit der Monroe ins Bett gegangen, er hätte sich davon nicht abbringen lassen. [Anm.: obwohl er einen glücklich verheirateten Strohwitwer spielt und es in der Theatervorlage tatsächlich zum Ehebruch kommt].

Gas:Und das, obwohl er einen glücklich verheirateten Strohwitwer spielt. In der Theatervorlage kommt es übrigens tatsächlich zum Ehebruch. Wilder selbst sagt, das wär besser gewesen. Claudius Seidl schreibt in seinem Billy-Wilder-Buch aus der Heyne-Filmreihe, das wär schlechter gewesen. Was meinen Sie?

Karasek: Ja. wenn ich zwischen Claudius Seidl und Billy Wilder zu entscheiden habe, ist die Antwort relativ leicht.

Gas: Ein erfolgloser Billy-Wilder-Film, den ich sehr liebe, ist „Ariane – Liebe am Nachmittag“, 1957, mit Audrey Hepburn. Gary Cooper ist als dieser eigentlich zu alte Playboy oft im Halbschatten zu sehen. Wäre dies ein ganz anderer Film mit Cary Grant geworden, den Billy Wilder haben wollte?

Karasek: Ich weiß nicht, ich mag „Liebe am Nachmittag“ deshalb sehr gern, weil Cooper da schon von seiner Krebserkrankung und fast schon vom Tod gezeichnet ist und weil diese junge unschuldige Hepburn sich sozusagen eine richtige Vaterfigur erwählt. Sie werden lachen, ich habe mich jetzt an diesen Film aufgrund von Liebesbriefen von Romy Schneider erinnert. Es sind jetzt Liebesbriefe zwischen Romy Schneider und Curd Jürgens aufgetaucht. Er war alt und sie hat geschrieben: „Ich würde gern ewig mit Dir zusammenleben – wenn Du Dir das Saufen und Rauchen auch noch abgewöhnen könntest.“ Aber er wollte gar nicht mit ihr zusammenleben. Also, das muss auch bei „Liebe am Nachmittag“ ein alter Mann sein, das muss so sein.

Gas: Auch Playboy Flannagan alias Cooper betrachtet Ariane alias Hepburn zunächst nur als Spielzeug, aber sie himmelt ihn an. Ist das nicht eigentlich eine Wiederkehr seiner Rolle in „Blaubarts achte Frau“, Drehbuch Brackett und Wilder, Regie Lubitsch, 1938? Da war er zwar nicht alt, aber spielt auch einen, der um den Verstand gebracht wird – durch die sexuelle Verweigerung seiner Frau. In „Liebe am Nachmittag“ wird er um den Verstand gebracht, weil Audrey Hepburn Männergeschichten erfindet und ihn dadurch neidisch macht, ich fand es sehr passend…

Karasek: Ja, ja, es ist eine Wiederkehr von „Blaubarts achter Frau“.

Gas: Wie wäre „Irma La Douce“ mit Charles Laughton geworden?

Karasek: Wichtiger ist, dass Wilder nach „Witness for the Prosecution“, 1957, einen anderen Film mit Charles Laughton machen wollte, nämlich „Oberst Redl“. Das hat Laughton verweigert, denn die Affäre Redl war eine Homosexuellen-Affäre und nicht eine Frauengeschichte wie in allen anderen Filmen. Die Redl-Geschichte kannte Wilder aus erster Quelle, weil er mit dem Reporter Egon Erwin Kisch zusammen in einer Berliner Wohnung gewohnt hatte, der die Redl-Geschichte damals aufgedeckt hatte. Kisch war ein Prager Sportreporter gewesen, und in der Prager Fußballmannschaft war ein Spieler, der einmal zu einem Spiel nicht kam. Es hat sich dann herausgestellt, dass er nicht gekommen war, weil er ein Strichjunge für Redl war; daraufhin ist Kisch dem nachgegangen und hat die ganze Affäre um Oberst Redl aufgedeckt.

Gas: Zu der berühmten Absage Marlene Dietrichs für „Fedora“,1978: Wie wäre der Film mit ihr statt Hildegard Knef geworden?

Karasek: Genauso schlecht, wie der Film jetzt ist.

Gas: Oh – das wäre auch meine nächste Frage gewesen: Gibt es Filme von Wilder, die Sie deutlich weniger schätzen als andere?

Karasek: „Fedora“ gehört dazu. Das ist eine etwas unselige Konstruktion. Ein Zahnarztfilm! Der ist von deutschen Zahnarztgeldern finanziert worden. Die deutschen Zahnärzte versuchten damals, Steuern zu sparen, mit Filminvestitionen, und das ist ein solcher Film. Okay, „Fedora“ ist nicht so schlecht, aber als Billy-Wilder-Film ist es ein etwas schwächerer.

Gas: Ansonsten verteidigen Sie ja häufig die Flops, zum Beispiel „Kiss Me, Stupid“ ,1964, ein wunderbarer Film…

Karasek: Ja, der ist auch irgendwie sehr gut, aber da ist die Besetzung des Hauptdarstellers mit Ray Walston wirklich schlecht.

Gas: Wie wäre er denn mit Jack Lemmon geworden, den hat er doch mal erwogen?

Karasek: Ja, aber eigentlich wollte er Peter Sellers haben! Das wär spannender geworden, in der Ray-Walston Rolle. Dean Martin hingegen wollte er immer haben, denn Dean Martin spielt hier Dean Martin. Peter Sellers war schon besetzt, die Dreharbeiten mit ihm hatten schon begonnen!

Gas: Aber Peter Sellers hat immer improvisiert und Billy Wilder wollte kein Wort Abweichung von seinem Drehbuch.

Karasek: Das ist nicht das Spannende daran. Sellers hat vor den Dreharbeiten eine Herzattacke bekommen, er sollte die Rolle spielen, für die Wilder dann Walston, diesen damals sehr populären Fernsehkomiker, genommen hat. Und das ist eine Fehlbesetzung.

Gas: Ich fand, er passte zur Rolle, aber man kann ja immer unterschiedlicher Ansicht sein.

Karasek: Ich glaube, Peter Sellers hätte den Film rausgerissen.

Gas: Das kann natürlich sein – aber nochmals zu dieser Marlene-Dietrich-Absage. Sie war ja mit Pauken und Trompeten, „How could you possibly think?“. War das denn ernst gemeint von Billy Wilder, wollte er sie gerne haben? Denn es war doch bekannt, dass sie sich ungerne mit ihrem Alter auseinandersetzte, wie es die Rolle verlangte. War da nicht die Absage programmiert?

Karasek: Ja, vielleicht hat er aber gehofft. Ich meine, sie hat ja für ihn eine „Nazisse“, eine NS-Mitläuferin in „A Foreign Affair“, 1948, gespielt, was ihr sehr schwer gefallen ist. Sie hat in „A Foreign Affair“ diese Rolle gespielt, die ihr contre coeur ging. Und ihr Alter hat sie in „Zeugin der Anklage“ schon sehr deutlich gemacht. Da war klar, dass sie von einem jüngeren, kräftigen Mann betrogen wird.

Gas: Ich dachte an dieses sehr schwierige Verhältnis zu Fritz Lang. Offen gestanden weiß ich jetzt nicht mehr, ob Sie vor gut 20 Jahren dieses „Spiegel“ -Telefoninterview geführt hatten…

Karasek: Ja, das habe ich.

Gas: Da hat sie gesagt, Langs „Engel der Gejagten“, 1951, wäre der furchtbarste Film, den sie je gemacht hätte. Und Fritz Lang hat gesagt, sie habe jeden Tag auf dem Set jünger ausgesehen, sie wollte nicht diese Frau in mittleren Jahren spielen. Aber vielleicht konnte Billy Wilder das besser aus ihr herausholen.

Karasek: Sie liebte Wilder seit ihren Berliner Tagen, die waren Kumpels, die waren Freunde in der Emigration. Aber irgendwann wollte sie überhaupt nicht mehr in die Öffentlichkeit, und das hat er am eigenen Leib erlebt.

Gas: Und Sie hatten auch erlebt, dass sie Ihnen am Telefon sagte, Marlene Dietrich sei nicht da…

Karasek: Ja, ja.

Gas: Wie hat Wilder aus völlig unterschiedlichen Darstellerinnen das Optimale herausgeholt? Ich denke gerade an die vier Frauen, die je zwei Mal bei ihm gespielt haben, also Marilyn Monroe, Audrey Hepburn, Marlene Dietrich und Shirley MacLaine. Also ganz unterschiedliche Frauentypen, und trotzdem hatten sie alle bei Wilder ihre Traumrollen. Was war sein Geheimnis dabei, sich diesen Typen anzupassen, aber nicht unterzuordnen?

Karasek: Also, Billy Wilder war ein Regisseur, der die Frauen sehr genau kannte, der sie durchschaute und trotzdem liebte, das ist das Schönste, was man eigentlich über ihn sagen kann. Er hat übrigens nie mit seinen Hauptdarstellerinnen ein Verhältnis angefangen. Er hat sich lieber mit Statistinnen und Stuntfrauen begnügt, weil er da keinen Ärger hatte. Er hat gesagt: „Ich fang doch nicht mit ’ner Hauptdarstellerin ’ne Affäre an, und dann sagt die: ‚Du hast mir doch im Bett versprochen, dass ich das grüne Kleid tragen darf.’“

Gas: Vielleicht dies zum Schluss: Sie haben einen Anekdotenschatz in Ihrem Wilder-Buch. Jetzt gibt es Menschen wie Chris Mankiewicz, den Sohn von Wilders Kollegen und Zeitgenossen Joseph L. Mankiewicz, die sagen, dass Billy Wilder für eine gute Geschichte das eine oder andere zurechtgebogen habe. Wie glaubwürdig sind seine Erzählungen, wie variieren sie, oder ist Wilder einer, der „die Wahrheit sagt, selbst wenn er lügt“?

Karasek: Erstens einmal weiß ich inzwischen aus eigener Erfahrung, dass ich bestimmte Geschichten so oft erzählt habe, dass ich nicht mehr weiß, ob ich sie wirklich erlebt habe. Ich wusste eine Zeitlang noch, dass ich sie wirklich erlebt habe, aber irgendwie haben die sich dann verselbständigt. Geschichten drängen sich zwischen die Wirklichkeit, und man weiß es nicht mehr. Also, ich weiß, dass ich nie mit der Monroe geschlafen habe und daher auch nie ’ne Geschichte darüber erfunden habe.

Gas: Das wüsste man aber!!!

Karasek und Jean-Harlow-Biogaphin Uhlich
Karasek: Das wüsste ich!!! Ich weiß nur, dass ich mal in dem Zimmer geschlafen habe, in dem sie mit Yves Montand geflirtet hat. Ich war im Beverly-Hills-Hotel, als ich zu Wilder kam, der „Spiegel“ hatte mir ein Zimmer bestellt, und das Hotel hatte die Bestellung versusst. Der „Spiegel“ war auch in Amerika nichts ganz Unwichtiges, und das Hotel war voll, also haben sie mir einen der berühmten Bungalows gegeben, zum Zimmerpreis. Als ich von Hollywood wegfuhr, habe ich mir eine Billy-Wilder-Biographie besorgt, flog übers Meer, machte das Buch auf, und ich sehe, ich war genau in dem Bungalow, in dem Yves Montand mit der Monroe geschlafen hatte. Ich wäre am liebsten aus dem Flugzeug wieder rausgehopst, aber inzwischen war die Wäsche wahrscheinlich viertausend Mal gewechselt… Ein Mal habe ich übrigens auch in einem Zimmer geschlafen, in dem Napoleon mal geschlafen hat, in den „Drei Königen“ in Basel.

Uhlich: Und ich war in einem, in dem Jean Harlow geschlafen hat. Ich weiß, wie man sich freut, wenn man dann an diesen „heiligen“ Stätten ist.

Karasek: Ja, genau so ist es!


Einen Bericht über die Ausstellung "Eins, zwei, drei - Billy Wilder" finden Sie HIER.


Billy Wilder beim Arbeiten über die Schulter schauen


Die Ausstellung„Eins, zwei, drei – Billy Wilder“ präsentiert im Jüdischen Museum Rendsburg Fotozeugnisse der Arbeit des Meisterregisseurs. Museumsdirektor Dr. Christian Walda hat uns Gründe und Hintergründe verraten.

von Tonio Gas


Vielleicht hätte Billy Wilder das selbst ganz gern so gemocht: Statt durch das pompöse Tor der „Paramonut“-Studios zu schreiten, einfach mitten in einer malerischen Kleinstadtstraße eines von mehreren Reihenhäusern betreten, vor dem gerade einmal ein Plakat aufgestellt ist.
 
 Drehbuchautor und Regisseur Wilder hatte es nicht so sehr mit vordergründigem Pathos, und das Jüdische Museum Rendsburg (in der Nähe Kiels) tut es ihm äußerlich gleich. In dem 1998 gegründeten, jungen und doch ältesten Jüdischen Museum Deutschlands stehen zwar derzeit renovierungsbedingt nicht alle Räumlichkeiten zur Verfügung. Aber Kunsthistoriker Dr. Christian Walda, Museumsdirektor und Kurator, hat es verstanden, die vier Ausstellungsräume des hinteren Hauses nicht nur mit Fotos, sondern auch mit Sinn zu füllen. Zusammen mit der Mannheimer Agentur Reichelt & Brockmann präsentiert er „Eins, zwei, drei – Billy Wilder“.

Ein Jüdisches Museum ist kein Holocaustmuseum!

Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber Walda legt dar, dass dies der erste Gedanke vieler Menschen ist, zumal der Holocaust natürlich eine prägende Epoche der Jüdischen Geschichte ist. Darüber geht man hier deutlich hinaus, wenngleich das Jüdische nie aus dem Blick verloren geht. Gerade auch angesichts einer gewissen Hollywood-Affinität des Hauses, das sich schon mit Liz Taylor und Grace Kelly beschäftigt hatte. Nun also der (übrigens nicht religiöse) Jude Billy Wilder. Als Samuel Wilder 1906 in Galizien geboren, war er bald nach Wien und später nach Berlin gezogen, wo er bis 1933 als Reporter und Drehbuchautor schon einen Ruf erlangen konnte. Nach der Flucht in die USA (mit einem kleinen Frankreich-Intermezzo) wurde er Hollywood-Drehbuchautor und schließlich auch Regisseur. Die Geschichte Wilders ist auch ein Stück der Geschichte Hollywoods, wenngleich Walda im Gespräch Wert darauf legt, beides nicht zu sehr in eins zu setzen. Sicherlich, gerade die hohe Anzahl jüdischer Emigranten in den 1930er Jahren hat Hollywood nachhaltig beeinflusst. Es ist aber bereits im Wesentlichen von Juden gegründet worden, alle Chef der fünf großen Studios, der „Majors“, waren Juden. Das US-Establishment hatte Kino als vermeintlich billiges Jahrmarktvergnügen nicht ernstgenommen, und trotz des allen großen Religionen gemeinsamen Verbotes von Zinsgeschäften waren es die „Nichtetablierten“, die sich darauf einließen oder einlassen mussten. Aber was ist das schon für eine Einteilung? Gefühlte Mehrheiten müssen keine quantitativen Mehrheiten sein; der amerikanische WASP dominiert das Land zahlenmäßig nicht mehr und tat es bereits damals in einigen Gegenden nicht. Man merkt, Walda ist tief in die Kulturgeschichte eingestiegen und es ist ihm ein Bedürfnis, auf Zusammenhänge hinzuweisen, die manchem im Verborgenen bleiben mögen und die auch die reine Ausstellung nicht in dieser Breite und Tiefe herstellen kann. In solchen Momenten wünscht man sich, es hätte noch einen von ihm verfassten Ausstellungskatalog gegeben.

Patriotismus kommt von Pathos?

Hellmuth Karasek und Christian Walda
Die Ausstellung kann aber etwas anderes, auf das Walda ebenfalls großen Wert legt. Natürlich haben linguistisch gesehen Patriotismus und Pathos nichts gemeint, aber es stimmt schon, dass Wilder das eine wie das andere stets gebrochen hat. Einen der großen Antinazifilme (wie sie bei den Warner Brothers schon in den 1930er Jahren und natürlich nach Kriegseintritt so beliebt waren) hat er nie gemacht. In seinem „Fünf Gräber bis Kairo“ (1943) war Generalfeldmarschall Rommel (Erich von Stroheim) kein Monster, sondern ein Verlierer. „Wilder stand immer auf der Seite der Verlierer“, sagt Walda. In das Pathos setze er seine kleinen Nadelstiche und bringe aufgeblähte Ballons zum Platzen. Vielleicht passt es, dass wir in der Ausstellung ein Foto sehen, auf dem es tatsächlich um einen Ballon geht, und wie Wilder mit ihm hantiert: „Russki Go Home“ steht darauf, ein wichtiges Element in „Eins, zwei, drei“ (1961), mit dem Wilder das im Film von der DDR propagandistisch eingesetzte „Ami Go Home“ lächerlich macht. Überhaupt, der Witz Wilders – Walda nennt seinen Humor als dasjenige, was ihn einzigartig gemacht habe, aber man müsse vorsichtig mit dem Etikett „Jüdischer Witz“ sein. Witz sei Fallhöhe, ob jüdisch oder nicht. Bei Wilder gehe es nie um die reine Komödie, sondern eher um Brechungen von Erwartungen. Wilders Komödien können um Massaker herum gebaut sein („Manche mögen’s heiß“, 1959); Wilders Dramen haben komödiantische Auflockerungen (z.B. die Frotzeleien zwischen Anwalt und Krankenschwester in „Zeugin der Anklage“, 1957).

Eins, zwei, drei Akte

Mit dem Ausstellungsmotto wählt Walda nicht nur den Titel eines berühmten Wilder-Filmes, sondern unterteilt sein Schaffen auch in drei Akte, wobei der Film „Eins, zwei, drei“ die Zäsur zwischen dem zweiten und dritten Akt darstelle. Wilder drehte ihn auf dem Höhepunkt seines Erfolges, kann aber daran nicht mehr anknüpfen. Auch wenn hinterher „Irma La Douce“ (1963) kommerziell sein erfolgreichster Film werden wird, geht es ab „Eins, zwei, drei“, so Walda, im Grunde nur noch bergab – jedenfalls die Reputation betreffend. Gleichwohl ist Wilders Spätwerk nicht zu übersehen; der dritte Ausstellungsraum wird durch Farbigkeit lebendiger, obwohl oder weil man Wilder auch ein bißchen beim Altern zusehen kann. Vom Alter zum alter ego – Jack Lemmon und Walter Matthau sind gleich mit ihm gealtert; er wollte nie Jüngere wie Paul Newman und Robert Redford haben, die er wohl hätte bekommen können. Ein schönes Dreierporträt am Ende des Ganges zeigt, dass der Regisseur und die beiden Hauptdarsteller weder einen auf Berufsjugendliche noch auf ein bemühtes „Jetzt erst recht“ machen, sondern dass sie sich offenbar wohl dabei fühlen, über den Dingen zu stehen. Sie machten einfach weiterhin gute Filme; leider wollte die später kaum noch jemand sehen.

Einen Hauch von Glanz und Glamour gibt es eher im ersten und zweiten Raum. Walda sieht den eher fließenden Übergang von der ersten zur zweiten Schaffensphase bei „Sunset Boulevard“ (1950), dem großen, persönlichen Hollywoodfilm über Hollywood und Vergänglichkeit des Starruhms. Obwohl die Ausstellung sich im Wesentlichen auf eine Set-Dokumentation unsichtbar bleibender Dokumentaristen konzentriert: Sicherlich nicht zufällig finden sich gerade bei „Sunset Boulevard“ die meisten Glamourfotos und Porträts von Gloria Swanson in ihrer letzten großen Rolle als gealterte Ex-Stummfilmdiva (was sie auch in Wirklichkeit war, wenn man einmal bedenkt, dass eine Frau über 40 in Hollywood schon als alt galt).

In seinen frühen Filmen setzte Wilder im Übrigen noch stärker auf optische Stilmittel und war – wie seinerzeit üblich – häufiger in Studios, wenngleich es schon frühe Ausnahmen gab (beispielsweise eine großartige New-York-Szene in „Das verlorene Wochenende“, 1945).
Wenn er dann in den 1950er Jahren mehr vor Ort drehte und seine Kamera unsichtbarer wurde, zeigt sich dies im zweiten Raum in dem noch stärker dokumentarischen Charakter der Bilder. Und dies angesichts großer Glamourstars wie Marilyn Monroe, Audrey Hepburn und Marlene Dietrich, mit denen er in dieser Zeit große Erfolge feierte! Doch es ist bekannt: Auf Wilder-Sets herrschte oft eine lockere, fröhliche Atmosphäre. Die Momentaufnahmen vom Set und Backstage mit Audrey Hepburn beispielsweise dürften aller Vermutung nach nicht inszeniert sein. Gleichwohl war Wilder von Selbstinszenierungen nicht ganz frei, gerade in Verbindung mit Marilyn Monroe, deren Appeal er publicityträchtig zu nutzen wusste. Die berühmten Lüftungsschacht-Aufnahmen in New York, die natürlich hier nicht fehlen, waren von Anfang an nicht für den fertigen Film „Das verflixte 7. Jahr“, 1955, vorgesehen. Dennoch: Die Fotografen verschwinden, wie Walda erklärt, hinter den Fotografien; wir sehen bewusst fast keine Kunst- und gar keine Szenenfotos, sondern wir sehen zum Beispiel Sets, die als solche erkennbar sind, weil der Dokumentarist auch zeigt, was neben und hinter dem Rahmen zu sehen ist. Die Ausstellung blickt im wahrsten Sinne des Wortes hinter die Kulissen, bewegt sich chronologisch vom Künstlerisch-Künstlichen zum Wahrhaftigen… doch wenn man noch einmal in den ersten Raum zurückkehrt, wird man feststellen, dass solche Etikettierungen genauso ungenau sind wie eine Genrezuschreibung für einen Billy-Wilder-Film. Womit hat das zu tun?

Zynismus, Sarkasmus, Europa, Amerika?

Natürlich kann man im Künstlichen die Wahrhaftigkeit sehen und im scheinbar beobachtenden Stil die künstlerische Gestaltung. Wilder mag nicht so sehr seine eigene Marke kreiert haben wie der auch bei Nichtfans bekanntere Hitchcock. Aber er verströmt auf den Bildern den Eindruck, als wolle er sowohl unterhalten als auch kompromisslos unangepasst sein. Dies mag Waldas These bestätigen, dass man bei ihm zwischen Zynismus und Sarkasmus unterscheiden müsse. Bei Ersterem habe man den Menschen, über den man seine Häme ausgießt, schon abgeschrieben. Wie kann man ihn da noch als Geschichtenerzähler unterhalten, wenn die These doch lautet, dass eigentlich schon alles erzählt worden ist? Mit Sarkasmus, und nur dieser treffe auf Wilder zu, wolle man bei und mit den Menschen noch etwas bewirken. Wilder kann daher ein guter Geschichtenerzähler sein, und auch ein Menschenfreund. Oftmals macht er auf den Bildern einen freundlichen, jovialen Eindruck, aber scheint sehr genau zu wissen, was er will und was er da tut. Immer als Wilder erkennbar, oft einen Hut oder eine Mütze tragend, aber nie auf prätentiöse Weise geleckt oder wichtigtuerisch; so ist er alles und nichts. Auf jeden Fall nicht wie alle anderen.

Die Frage, ob dieser Mann nun Jude, Galizier, Österreicher, Deutscher oder Amerikaner war, lässt sich am ehesten damit beantworten, dass er schlicht Billy Wilder war, wie auch Walda dies sieht. Einerseits konnte der Jude, dessen Familie in Auschwitz umgebracht wurde, gut mit dem sehr konservativen James Stewart und mit dem antisemitischen Charles Lindbergh zusammenarbeiten (nicht ohne Letzterem einmal einen deutlichen Hinweis gegeben zu haben, mit seiner schärfsten Waffe, dem Wort). Andererseits hatte er die grauenerregende Bergen-Belsen-Dokumentation „Die Todesmühlen“ geschnitten und in offizieller Funktion nach dem Krieg dafür gesorgt, dass die Deutschen ihn sehen mussten, um Lebensmittelmarken zu erhalten. Einerseits war er mit einer gewissen Begeisterung US-Amerikaner, mochte die populäre Kultur, lernte schnell die Sprache und nahm 1939 die US-Staatsbürgerschaft an. Andererseits war ihm der glühende Patriotismus vieler Emigranten, gerade jüdischer, fremd, die (wie auch Wilder) sehr genau wussten, was sie ihrem Aufnahmeland zu verdanken hatten.

Gerade hiervon künden die wenigen, aber guten und ausführlichen Texttafeln. Einmal geht es um Stationen von Wilders Leben, einmal um Gründung und Entwicklung speziell des jüdischen Hollywood. Walda erläutert dort (wie auch im Gespräch), wie heterogen die jüdische Gruppe in Hollywood war, wenn man überhaupt von „der“ Gruppe reden kann.

Und der Schreibakt

Ein wichtiges Thema bei Wilder ist, dass und wie er seine Geschichten entwickelte. Vielleicht wäre er nie ein Regisseur geworden, wenn andere seine Geschichten immer genau so umgesetzt hätten, wie ihm das vorgeschwebt hatte. Er sah sich zuerst als Autor, bis zum Schluss. Schön, dass Walda nach den drei Akten noch den „Schreibakt“ in einem vierten kleinen Raum dokumentiert. Hier mag die Rede vom „Über die Schulter schauen“ am besten zutreffen. Wilder konnte nie ohne einen Co-Autor arbeiten, gelegentlich auch nicht mit ihm, aber in Charles Brackett und später I.A.L. Diamond hatte er langjährige kongeniale Partner gefunden. Bezeichnend sind Bilder, auf denen Wilder auf der Fensterbank sitzt oder stehend mit der Reitgerte hantiert, während sein Partner an der Schreibmaschine sitzt oder auf dem Sofa die Seiten durchgeht. So war das häufig; Wilder entwickelte seine besten Ideen im Dialog und dachte laut und gestisch sehr aktiv (Raymond Chandler mochte es gar nicht, wenn Wilder ihn scheinbar drohend mit dieser Reitgerte permanent anstupste). Sein Co-Autor was das notwendige Feedback, hatte aber ebenfalls seinen Beitrag geleistet (wie Diamond zum berühmten „Manche mögen’s heiß“-Schlusssatz „Nobody is perfect“, in letzter Sekunde von beiden ersonnen). Man kann das alles nachlesen. Es verschafft aber einen unmittelbareren Eindruck, wenn man es auch sieht. Was nicht nur für den Schreibakt-Raum gilt. Also eine Ausstellung, die selbst der arrivierte Kenner mit großem Gewinn sehen kann.

Über Wilder ist nie alles gesagt – Hellmuth Karasek und die Wahrheit hinter der Kunst

Dass nie alles gesagt ist, illustrierte auch der Billy-Wilder-Kenner und -Freund Hellmuth Karasek als Redner am 17.6.2012, als in den zum Museum gehörenden Räumen der ehemaligen Synagoge eine würdige Eröffnungsveranstaltung stattfand. Er verstand es mühelos, die vielen verschiedenen Facetten von Wilders Werk und Leben zusammenzuführen, bis hin zu nicht mehr realisierten Projekten wie „Die Affäre der Sunny von B.“ (verfilmt von Barbet Schroeder) und seiner Herzensangelegenheit „Schindlers Liste“ (verfilmt von Steven Spielberg). Karasek berichtete nach einem bewusst anekdotenreich und witzig gestalteten Beginn, dass Wilder beim Sehen des Spielberg-Filmes sich so sehr in die Zeit zurückversetzt gefühlt wähnte, dass er in dem Film seine Mutter zu entdecken versuchte. Da lachte natürlich niemand mehr, die Zuhörer waren ergriffen, und es wirkte gar nicht einmal wie ein rhetorischer Stilbruch, sondern wie ein passendes, weiteres Teil des Puzzles Billy Wilder. Oder wie das, was seine Meisterschaft ausmachte: Hinter dem Unmöglichen das Wahre freizulegen; so wie Kunst eine Wahrheit eigener Art schaffen kann, selbst wenn sie lügt. Viele Wilder-Filme sind scheinbar unglaubwürdig; viele seiner Anekdoten sind wohl teilweise unwahr. Er hat sie so oft erzählt, dass sie sich verändern, aber dass sie eine Wahrheit zeigen könnten und dass Wilder vielleicht selbst nicht mehr so genau weiß, dass es gar nicht so geschehen ist. So ist das mit seiner Reaktion auf „Schindlers Liste“: Man vergisst einen Moment, dass das nur ein Film ist und die eigene Mutter nicht bei den Insassen des Vernichtungslagers auftauchen kann. Wilder ließ sich voll und ganz darauf ein, dass Kunst und erzählende Filmkunst wahrhaftig sein kann. So waren auch seine Filme, so sind auch die Bilder der Ausstellung. Daher hätte Karasek selbst dann etwas zutiefst Wahres gesagt, wenn diese Geschichte mit der Mutter nicht stimmen würde. Mehr von Karasek gibt es in dem Interview zu lesen, das Bettina Uhlich und ich mit ihm nach dem Festakt führen durften.

Was bleibt?

Natürlich die Worte und die Filme Wilders, auch und gerade wenn es in der Ausstellung über den Meister des Wortes heißt: Pictures Will Talk. Natürlich die Einsicht, dass Wilder vier Ausstellungsräume besser anstehen als eine Schublade. Dass wir uns nicht nur sagen: „Ach ja, der mit den Komödien.“ Dass wir uns überhaupt etwas bei dem Namen sagen. Walda und übrigens auch Hellmuth Karasek haben berichtet, dass kaum noch jemand Filmregisseure kennt – bei Wilder muss man schon „Manche mögen’s heiß“ sagen, um den Aha-Effekt zu erzielen. Die Ausstellung zeigt, dass Wilder viel mehr war als der Regisseur eines meisterhaften Marilyn-Monroe-Kultfilmes. Darum ist es auch gut, dass das Museum ein Begleitprogramm mit drei Kinofilmen und dem Theaterabend „Manche mögen’s Wilder“ auf die Beine gestellt hat. Und dass im Kino ausstellungsbegleitend bewusst drei weniger bekannte Wilder-Filme laufen: Die sehr zugespitzte, bissige Pressesatire „Extrablatt“ (1974), den Stummfilm „Menschen am Sonntag“ (1929, Klavierbegleitung Dr. Werner Loll), und „Eine auswärtige Affäre“ (1948), jener im Vier-Zonen-Berlin spielende Nachkriegsfilm mit Marlene Dietrich, dem man am schwersten ein Etikett ankleben kann: Satire, Komödie, Drama, Romanze, Zeitzeugnis – und der Mix geht auf! Von allem etwas und alles richtig. Was sich auch über die Ausstellung sagen lässt. Es sei eher als Kompliment verstanden, dass ein Mehr (also ein Katalog und ein wenig mehr Texttafeln) noch mehr gewesen wäre. Darum, und wegen des Gesprächseindrucks eines lebendig erzählenden und in der Sache sehr versierten Museumsdirektors, sollten Besucher im Übrigen nicht eine Führung durch Dr. Walda versäumen.

Kontakt und Öffnungszeiten:
Jüdisches Museum Rendsburg, Di–So 12–17 Uhr oder nach Vereinbarung
Prinzessinstraße 7–8, 24768 Rendsburg, +49(0)4331 – 25262, info@jmrd.de
Die Ausstellung ist noch bis zum 14.10.2012 zu sehen.

Führungen durch Dr. Christian Walda, Museumsdirektor und Ausstellungskurator:
1. und 29. Juli, sowie 2. September und 14. Oktober, jeweils 12 Uhr.

Kino:
EINE AUSWÄRTIGE AFFÄRE
Dienstag, 26. Juni 2012, 17.00 und 19.45 Uhr
Kommunales Kino im Schauburg Filmtheater

EXTRABLATT
Dienstag, 21. August 2012, 17.00 und 19.45 Uhr
Kommunales Kino im Schauburg Filmtheater

MENSCHEN AM SONNTAG
Sonntag, 14. Oktober 2012, 18.00 Uhr
Jüdisches Museum Rendsburg

Theater:
MANCHE MÖGEN’S WILDER – Ein Billy-Wilder-Abend
PREMIERE: Donnerstag, 20. September 2012 um 19.30 Uhr,
Foyer des Stadttheaters Rendsburg
Weitere Vorstellungstermine:
6.10. – Theaterfoyer Rendsburg,
7.10., 12.10. – Slesvighus Schleswig,
26.9., 5.10. – Kleine Bühne Flensburg

Näheres zum Begleitprogramm: http://www.schloss-gottorf.de/juedisches-museum/vermittlung


Ein Interview mit Billy-Wilder-Kenner Hellmuth Karasek finden Sie HIER.

Filmfest München – Schlussbetrachtung mit Coppolas "Twixt", Friedkins "Killer Joe" und anderem Zeug


Man mag es kaum glauben: Von Francis Ford Coppola ein guter, unterhaltsamer Film! Keine aufgeblasene Prätention wie seine letzten – treulich auf dem Münchner Filmfest gezeigten – Filme „Jugend ohne Jugend“ und „Tetro“, Filme ohne Sinn und Verstand und Struktur. Sinn und Verstand fehlen auch in „Twixt“, doch immerhin gibt es Struktur; und immerhin lässt Coppola Sinn und Verstand absichtlich hinter sich in seiner Story über einen heruntergekommenen, daueralkoholisierten Schriftsteller in einem Kaff, wo Träume, Literatur und ein Serienmörder ihr Unwesen treiben. Val Kilmer spielt diesen Hall Baltimore, aufgedunsen und verloren. Das Böse steckt in einem Sieben-Uhren-Turm, der niemals die richtige Zeit anzeigt, in einem Camp von Goth-Jugendlichen, in den Schwarz-Weiß-Träumen von Hall Baltimore, der zudem Edgar Allen Poe begegnet; und mit dem örtlichen Sheriff (Bruce Dern) an einer Serienmord-True-Crime-Story arbeitet, die er dringend seinem Verleger verkaufen will, hätte er nur ein bombensicheres Ende... Coppola verquirlt alles miteinander, auch noch eine tiefe Schuld, Streit mit der Ehefrau, Untaten der Vergangenheit, dazu eine Poetik von Poe und Philosophieren über die Zeit, und weil das alles so schön selbstreflexiv ist, und so schön witzig, und dann doch zu einem Ende führt, auch wenn Hall Baltimore nicht mehr daran glauben mag, hat Coppola sein Kreativitätskonto, das er mit seinen letzten Filmen hoffnungslos überzogen hat, nun zumindest wieder ausgeglichen.

William Friedkin hat mit „Killer Joe“ einen dunkle, witzige, absurde und drastische Neo-Noir-White-Trash-Thriller hingelegt: Matthew McConaughey spielt die Titelrolle, ein Cop und Killer, angeheuert, um die Mutter von Chris (Emile Hirsch) zu töten, im Einverständnis mit dessen Vater (Thomas Haden Church); und weil man erst nach Fälligkeit der Lebensversicherung bezahlen kann, lässt man Joe die jungfräuliche Dottie, Chris’ Schwester, als Pfand. Natürlich geht alles den Bach runter in diesem Sumpf von Geld und Sex und Gewalt, Schulden, Hass und fadenscheinige Familienbande. Wie Friedkin das zeigt, ist in der dramaturgischen Dynamik beispielhaft, und zeugt von seinem souveränen Umgang mit den Genreversatzstücken, die er locker in Witz umwandeln kann, ohne von der Spannung zu lassen: Etwas aufbauen, um es dann einzureißen, etwa der Beginn, eine Gewitternacht mit enormen Schatten an der Wand, Chris, wie er verzweifelt an einer Wohnbaracke klopft, lasst mich rein, lasst mich rein, seine Stiefmutter (Gina Gershon) öffnet unten ohne, und er muss erstmal dringend aufs Klo. Und natürlich andersrum: Wie plötzlich, aus dem Nichts, der Exzess beginnt, eine perverse ultrabrutale Oralsexszene mit einem frittierten Hühnchenschlegel, bizarr, böse, verstörend, dann die Travestie eines friedlichen Familienabendessens, dann ein finaler, ebenfalls ungeahnter Gewaltausbruch...
 
Man könnte auch von den wiederkehrenden Motiven ganz verschiedener Filme sprechen, die diesem Festival einen schönen Flow gaben: Immer wieder ein brutaler Unfall als Impuls und Katalysator der Handlung, in Jacques Audiards „De Rouille et d’os“ etwa, in dem Marion Cottillard bei ihrer Wal-Show von einem Orca angegriffen wird und im Folgenden, beinlos, von einem Security-Mann in Obhut genommen wird, zwischen Pflege, Liebe und Management von dessen ultrabrutalen Kampfsport-Wettkämpfen – starke Charaktere in einem starken Film, der immer wieder unvorhersehbar ist, und immer wieder unglaublich emotionale, packende Szenen hervorbringt. Unfall auch in Toke Constantin Hebbelns „Wir wollten aufs Meer“, bei dem man glaubt, dass nach 20 Minuten schon August Diehl aus dem Film rausfällt. Aber weit gefehlt: Er, mit seinem Schicksal im Rollstuhl hadernd, nimmt den einfachsten Weg, wird Stasimann und baut einen komplexen Verrat an einem Freund (Alexander Fehling) und dessen vietnamesischer Freundin auf. Ein spannender Film aus der DDR der 80er Jahre, der glücklicherweise keine Erkenntnisse über den Unrechtsstaat liefern will, sondern ein reines Filmdrama, mit Historie als verstärkendem Hintergrund, aber nicht als Grund für die Geschichte. Unfall auch in „Trishna“ – der Vater im Sekundenschlaf fährt den überlebenswichtigen Lieferwagen zu Schrott, fällt selbst wegen Verletzung aus – materielle Sorgen, die Trishna ins Hotel (und in die Arme) von Jay führen.

Oder, anderes Thema: In „The Grief Tourist“ von Suri Krishnamma ist Hauptfigur Jim besessen von historischen Serienkillern, deren Tatorte er touristisch besucht, sondern wird in seiner Imagination auch von einem, Carl Marznap, heimgesucht, der ihm Untaten einflüstert... In seiner Porträtierung einer verlorenen Seele ganz gut, verliert sich Krishnamma zunehmend in „überraschenden“ Auflösungen, mit denen Film wie Figur nur verlieren können. Doch den inneren Schmerz, der sich mehr und mehr in Wahn hineinsteigert, vermag der Film wirksam zu vermitteln: Jim ist eine der Travis-Bickle-Figuren, die immer wieder beim Filmfest auftauchten, mit unbändigem Hass auf die Gesellschaft, wie auch Woody Harrelsen in Oren Movermans „Rampart“, ein Cop, der die ganzen Kriminellen so satt hat, die mit juristischen Tricks gleich wieder rauskommen, ein Anhänger der alten Schule von L.A.-Polizeibrutalität, die er als Tradition hochhält, eine Art Dinosaurier der harten Gangart, die sich wenig um Rechte kümmert, wenn nur die richtigen richtig bestraft werden. „Taxi Driver“ auch in Jan-Ole Gersters „Oh Boy“, einem komischen, existentiellen Episodenfilm um Tom Schilling, der mal von seinem Kumpel mitgenommen wird, der, auf Berlin gemünzt, seiner Abscheu Luft verschafft, diesen Sermon aber auf ironische Weise direkt stieht, wörtlich zitiert und eigentlich gar nicht so meint.

Die Übermacht multinationaler Konzerne zeigt sich auf eine ganz bestimmte Weise in diversen Filmen, genauer gesagt: in allen, in denen ein Laptop vorkommt. Denn immer, immer ist jeder tragbare Computer von Apple. Egal, ob sich die Figuren ihn sich so, wie der Film sie darstellt und in ihrem sozialen Milieu verortet, leisten können oder nicht. Apple hat das Monopol auf Film-Laptops, sprich: Apple hat so viel Geld, dass sie sich in jedem Film präsentieren lassen können; sprich: vor einigen Jahren noch war ab und zu auch ein Dell zu sehen, die sind jetzt verschwunden, Dell ist wohl dem Untergang geweiht; sprich: wer ein Apple-Produkt kauft, unterstützt direkt die internationale Filmproduktion, Filmförderung mal ganz anders. Sprich: Apple, super, fuck yeah, Apple für alle!

Das Filmfest München war schön. Eine Menge sehr guter Filme, kaum Ausreißer nach unten; dennoch freuen wir uns, dass es vorbei ist. Denn nun sind wir vor dem Filmfesttrailer verschont, der vor jedem Film lief. Eine Frau, offenbar Libellenelfe, entsteigt einem Bergsee, im Stil von Bierwerbung (Filmfestsponsor ist eine weltbekannte Biermarke), vielleicht auch von Mineralwasserreklame (die digital eingemalten Wassertropfen um das Fabelwesen deuten es an), zugekleistert mit der Musik einer Kopie eines drittklassigen „Herr der Ringe“-Epigonen; dann kommt etwas aus ihrem Bauch raus, das wohl der Gallenstein ist, und irgendwie ist es dann zu Ende, und man steht ratlos und zunehmend genervt da. Und weiß, dass fürs nächste Jahr noch Potential zur Verbesserung da ist.

Harald Mühlbeyer


Filmfest München: Michael Winterbottoms "Trishna"

Während Andrea Arnold "Wuthering Heights", erschienen 1847, von jedem Klischee der Kostümfilmliteraturadaption befreit, indem sie mit harschem, anstrengendem Stil eine Art Rückführung auf das Gefühl eines realen Yorkshire-Bauernhofes betreibt, dabei aber unversehens das Gefühl für die Liebe, die den Kern der Erzählung ausmacht, verliert, geht Michael Winterbottom "Trisha", seine Verfilmung von Thomas Hardys "Tess of the d'Urbervilles", erschienen 1891, ganz anders an. Und viel wirksamer.

Die puritanische Klassengesellschaft des viktorianischen Zeitalters verlegt er nicht nur in die Moderne, sondern nach Indien - überaus passend, das Land mit einem strengen Kastensystem, in dem arm und reich eng nebeneinander wohnen, wo ein gesellschaftliches Gefühl für Ehre, Anstand und Schande besteht. Den Roman überträgt Winterbottom in ein modernes Melodram von einem armen Mädchen vom Land und einem reichen Hoteliersohn. Der, Jay, mit seinen Kumpels herumreist, kifft, Spaß hat, und in einem uralten Tempel zum ersten Mal Trishna zu Gesicht bekommt. Er verschafft ihr einen Job im Hotel, umgarnt sie, umwirbt sie - und es ist eine beständige Frage in diesem ersten Teil des Films, wie ernst es ihm ist. Will er sie tatsächlich lieben, oder begehrt er sie nur: will er nur spielen?

Sie gibt ihm nach. Sie lebt in Schande. Sie flieht vor ihm. Sie begegnet ihm wieder und verlebt glückliche Wochen in Mumbai, ist mit ihm durchgebrannt, vor der Familie geflohen. Die Liebe ist echt und rein; doch mit der Zeit entwickelt sich seine durch Klassenzugehörigkeit angeborene Dominanz. Er ist Herr, sie nur Magd, eine Liebe kann so nicht bestehen. Und Winterbottom steigert sorgfältig die Dynamik dieser Beziehung, mit ihren Aufs und Abs, bis zum grausamen, niederschmetternden Finale.

Winterbottom, Tausendsassa des britischen Autorenfilms, weiß genau, wie er die Klaviatur der Filmgefühle spielen muss, ohne aufdringlich zu wirken. Er geht offensiv in die Emotion rein, und lässt dem Zuschauer doch die Wahl: Gibt es Unsympathen, gibt es Antagonisten in dieser Story? Oder handelt jeder nur so, wie sein Herz sich entwickelt hat? Auch wer flieht, kann nicht entkommen; auch wer liebt, ist voreingenommen: Klasse und Geld beherrschen auch den Markt der Gefühle.

Winterbottom geht großartig mit seinem indischen Setting um, das er mit durchaus westlicher, trauriger, klassischer Musik präsentiert, und mit Bollywood-Song and Dance-Nummern. Die allerdings dem Film nicht aufgesetzt sind, sondern als Teil der Lebenswelt und zugleich selbstreflexiv eingesetzt werden: Tänze zu Festen, Tänze nach dem Fernsehprogramm, Tänze in Tanzschule und auf Filmsets in Mumbai sind kommentierend eingesetzt, und der Komponist und Choreograf Amit Trivedi hat eine Rolle als er selbst bekommen, eine mögliche Alternative für Trishna aus Liebesfreud und Liebesleid. Ein Ausweg, den sie nicht nimmt.

Harald Mühlbeyer

Filmfest München: Geschichte(n) vom Bauernhof - "Ende der Schonzeit", "Der Verdingbub", "Wuthering Heights"

1942. Ein Jude flieht. Ein Bauer liest ihn auf und versteckt ihn. Seine Frau wird und wird nicht schwanger. Die Folge: Ein unmoralisches Angebot.

In ihrem Debütfilm "Ende der Schonzeit" spielt Franziska Schlotterer eine derbe Situation durch; dass der Film nicht platt wirkt, dass das Dreiecksverhältnis nicht konstruiert wirkt, macht die Qualität des Filmes aus. Denn die Charaktere sind stark: Bauer Fritz ist wortkarg, gefühlsungewohnt, knorrig; seine Frau Emma scheu, eingeigelt, in sich gekehrt. Doch beide treibt Großes um, tief im Inneren, und sie merken es nicht einmal. Bis es zu spät ist. Bis Albert da ist. Bis Fritz merkt, dass er mit diesem illegalen Juden, dem Hilfsarbeiter auf dem Hof, eine Möglichkeit hat, endliche einen Erben zu bekommen. Wie er die Kuh zum Stier führt, führt er Albert Emma zu. Und wird unmerklich, allmählich innerlich aufgewühlt. So wie Emma, die nie richtig Frau war, ihre Weiblichkeit entdeckt, die Zärtlichkeit des Aktes, so etwas wie eine nie gekannte Liebe, die sie nicht mehr missen möchte. Albert, ständig bedroht, spielt das Spiel mit, wird unentbehrlich für Fritz wie für Emma; und weiß doch, dass sein Überleben von diesen abhängt.

Ein bäuerliches Melodram vor dem Hintergrund der Nazidiktatur - und es ist hoch anzurechnen, dass nicht die üblichen Nazibilder kommen, dass vielmehr der politische Hintergrund eher als Katalysator für eine private Katastrophe wirkt, die so ähnlich vielleicht auch unter anderen Umständen sich hätte abspielen können. Und dass das von allem isolierte Beziehungsgeflecht auf diesem Hof zugleich doch tief zurückgekoppelt ist, tief verwurzelt in der Zeit, in der es spielt; nicht nur durch eine Rückblendenstruktur - das Nachforschen in einem Kibbuz Jahrzehnte später -, sondern auch in dem Spiel um Sex und Liebe, um Versteck und Verrat.

Lediglich: zu symbolisch, zu metaphorisch ist der Film erzählt, mit zuvielen Spiegelungen der Handlung: vom unfruchtbaren Apfelbaum, der bei guter Pflege wieder austreibt, bis zum Schlüssel, den der Bauer nicht ins Loch stecken kann wirkt der symbolische Überbau zu gewollt, zu unnatürlich. Und vor allem: Die Sprache ist nicht authentisch - wenn eine Geschichte auf einem Schwarzwaldhof spielt, ist Dialekt unabdingbar.

Dialekt, den Katja Riemann perfekt lernte für den Schweizer Film "Der Verdingbub": Berner Schwyzerdütsch wird hier gesprochen, auf dem einsamen Hof der Bösigers, wo Waisenkind Max als Verdingbub hingesteckt wird: als Pflegesohn und Arbeitskraft, gegen Kostgeld für die Bauernfamilie. Eine Praxis, die in der Schweiz bis in die 1970er Jahre üblich war: Wer keine Eltern mehr hatte, oder wer Halbwaise und einigermaßen mittellos war, wurde von Behörden und Kirchen an Bauernfamilien vermittelt, wo sie oft genug als Leibeigene schuften mussten, körperlicher und seelischer Missbrauch inklusive. Markus Imboden nimmt dieses Thema für seinen in der Schweiz höchst erfolgreichen Film - ein grandioses, heftiges, emotionales Drama.

Max und Berteli - sie werden zu den Bösigers gesteckt, wo Armut herrscht und die Bäuerin das Heft in der Hand hat. Verhärmt, verkantet, erstarrt ist sie, gefangen in einem armseligen Leben, rau, anpackend, und böse: Katja Riemann glänzt in dieser Rolle, ohne hervorzustechen, weil das ganze Ensemble unglaublich packend spielt, als hätten sie ein Lebtag auf einem Bauernhof gelebt. Stefan Kurt als trauriger, verstockter, verkrochener Bauer, der mit Kartoffelfäule und Hagelschäden zu kämpfen hat und sich an den Alkohol verliert. Und Sohn Jakob: Der hasst Max, den der Bauer ihm als Arbeiter vorzieht; und er begehrt Berteli, in deren Zimmer er nachts einsteigt... Die Behörden schauen weg, Hauptsache, die Kinder sind untergebracht; und Hauptsache, der Max hält ein bisschen länger als der Vorgänger, der nach nur sechs Monaten gestorben ist.

Die Realität des Hofes, die Armut, das Isolierte kitzelt Imboden klug hervor, zugespitzt und detailreich, auf den Punkt und mit vielerlei alltäglichen Kleinigkeiten, die den Film reicher machen, echter. Man merkt: Hier hat man sich tatsächlich aufs Bauernleben eingestimmt, was bei Schlotterer mitunter fehlt. Und der Wahrhaftigkeit des Erzählten ist der Traum entgegengesetzt, Max' Ziehharmonikaspiel, seine Sehnsucht nach Argentinien, wo sie den Tango spielen, den er mal im Radio gehört hat, wo alle reich sind und Pferde haben, wo alles aus Silber ist... Eine Märchenhaftigkeit, in die der Film transzendiert, die nochmals eine weitere Ebene eröffnet; und sich verstärkend mit dem Realismus verbindet.

So etwas wie ein gewollter, stilisierter Realismus ist der Ansatz von Andrea Arnold in ihrer Adaption von Emily Brontës "Wuthering Heights": Harsch und karg ist das Leben auf den stürmischen Höhen von Yorkshire, und Arnold intensiviert diese Atmosphäre durch den unbedingten Anschein von Direktheit, durch wacklige, unscharfe, oft extrem dunkle Bilder einer Kamera, die den Figuren scheinbar spontan folgt und sie einfängt in dem, was sie grad so tun. Eine Ästhetik, die auf Unmittelbarkeit zielt, darauf, ein direktes Gefühl für das Leben zu erzeugen. Aber natürlich, das ist das Problem: man irritiert damit auch, stößt den Zuschauer emotional zurück; auf merkwürdige Weise soll man eingebunden werden und wird gerade dadurch ausgeschlossen, weil man die Unübersichtlichkeit eines Lebens in der Enge eines von Familie und Knechten bewohnten Farmhauses leibhaftig erlebt; und der Film dadurch selbst unübersichtlich wird.

Was für ein Leben: Da wächst nichts außer Heidekraut, das Haus aus grobem Stein zusammengesetzt, mit labyrinthischen, dunklen Gängen und Zimmern, und hierher bringt der Hausherr einen dunkelhäutigen Jungen, den er gefunden hat, nimmt ihn als Pflegesohn auf. Sein Sohn hasst den Neuankömmling, die Tochter ist fasziniert von diesem Heathcliffe, eine Art Teenagerliebe, aus der die Obsession einer Liebe wird, die sich niemals erfüllt. Melodram pur - gefilmt im beschriebenen Stil, der in seinem Willen zur Unmittelbarkeit sich dem Fühlen des Zuschauers verschließt. Todsünde eigentlich für ein Melodram: Dass nie ein Gefühl für die Liebe zwischen den Hauptfiguren entsteht, die nur Behauptung bleibt.

Catherine und Heathcliffe gehen spazieren, und er wird dafür ausgepeitscht. Sie laufen im Spaß zum weit entfernten Nachbarhaus, und er wird dafür beschimpft, gedemütigt und geschlagen. Sie macht ihn fein fürs Abendessen, und er wird dafür geprügelt. Was Akte der Liebe sein sollen, wirkt ungewollt eher als Akte der Dummheit; die beiden lernen's nie, sich entweder zu verbergen oder sich offen füreinander zu bekennen. Später dann, sie ist inzwischen anderweitig verheiratet, sehen sie sich wieder, an dieser Stelle des Films soll der Same der Liebe aufgehen; der leider niemals gepflanzt wurde. Und so gerät es eher zur lächerlichen Pose, wie die beiden aneinander leiden, und dass sie aus Kummer stirbt, wirkt eher prätentiös. Dass daraufhin er sie auf dem Totenbett liebkost, sieht vielleicht nur aus Versehen so aus, als würde er die Leiche vögeln.

Ein Gespür für das Leben auf der kargen Farm stellt sich auch nie ein, trotz all des Bemühens von Arnold. Wovon leben die dort eigentlich? Einmal sieht man sie Torfstechen; ansonsten sind sie damit beschäftigt, Trockenmauern aufzubauen, um - ja was: Den Wind davon abzuhalten, das Heidekraut zu zerstören? Der Hof ist eher eine Hütte, Schlamm überall, immer Nebel und Nieselregen, immer Wind und Wolken, immer kalt und klamm. Ein paar Pferde, viele Hunde. Einmal wird ein Schaf geschlachtet. Doch was arbeiten die dort genau? Was tun die anderen, unten im Dorf, die viel schönere Häuser - verputzt und gestrichen - haben? Und warum wird nicht einfach mal der Vorplatz vor dem Hauseingang geplättelt, damit man nicht gleich in den Matsch tritt? So sehr will Arnold ein Gefühl für das Leben dort erzeugen, dass es hintenrum schon wieder unglaubwürdig, ja fast albern wird. Und weder die Geschichte, so wie sie erzählt wird - mit einer Liebe, die man niemals spürt - noch der Ort, an dem sie spielt - mit der übertriebenen Stilisierung, die irgendwie das Literarische auf ein Gefühl des Echten herunterbrechen will, und dabei doch nur im Unechten verbleibt - können überzeugen.

Harald Mühlbeyer

Filmfest München: Robert Gwisdek in "3 Zimmer / Küche / Bad" und "Kohlhaas"

Ein Film mit Robert Gwisdek ist immer eine Wohltat. Und wenn dann noch Dietrich Brüggemann Regie führt...

"3 Zimmer/Küche/Bad" ist eine Ensemblekomödie, es geht um Umzüge aller Art, um Beziehungsgeflechte und um Generationendefinitionen, -bekenntnisse und -widerrufe. Anna Brüggemann, auch Co-Autorin, ist mit von der Partie, Alice Dwyer, Alexander Khuon, Katharina Spiering, als eine Art Hauptrolle - primus inter pares - Jacob Matschenz - und Gwisdek. Ein prominentes Ensemble an den besten und talentiertesten Schauspielern, mit einigen hat Brüggemann schon in "Renn, wenn du kannst" gearbeitet, dazu kommen hier eine Menge Gastauftritte, im Abspann lese ich u.a. Sven Taddicken, Christian Schwochow, Andreas Dresen habe ich auch so erkannt: Brüggemann hat es wohl geschafft, er ist in der Branche angekommen, mit seinem erst dritten Langfilm - und er hat nichts verloren, nein, er wird immer besser.

Die Leichtigkeit seiner Dialoge, die Lässigkeit, wie er die Handlungsstränge führt, wie er aus Witz Emotion und umgekehrt schafft, wie er locker mit dem Zufall umspringt, der immer wieder der Handlung einen Stups gibt, und der zugleich ironisch reflektiert wird; wie er große Sätze ganz nebenbei fallen lässt, und wie manches, was sich groß und wichtig anhört, eigentlich doch nur eine Meinung, und nicht einmal die Wahrheit, sein könnte.Ein solcher Filmemacher hat Deutschland gefehlt, und es ist ihm jede Anerkennung eines möglichst großen Publikums zu wünschen.

Robert Gwisdek ist hier wohl kongenialer Partner. Mit welcher Beiläufigkeit er seine Coolness ausspielt, wie er einen sarkastischen Oneliner nach dem anderen hinlegt, wie er sich bewegt in der filmischen Welt, als wäre er nie außerhalb gewesen... Schon am Anfang, in seiner ersten Szene, lässt er wie versehentlich, im Vorbeigehen, eine Pfanne von einer überfüllten WG-Spüle rutschen, und fängt sie im Reflex - im eintrainierten, inszenierten wohlgemerkt, gleichwohl spontanen und automatischen - mit dem Fuß wieder auf. Und mit Matschenz hält er beim Fahrradfahren durch Berlin die Tradition des philosophischen Dialogs hoch. Mit Matschenz hat er auch in "Renn, wenn du kannst" seine Dialoggefechte ausgetragen, der war sein Zivi , er saß im Rollstuhl (als hätte er nie was anderes gemacht) und ließ seine Zynismen ab. Großartig: nicht nur die Sätze, die er sagt, auch wie er sie sagt; und wie er sich bewegt; und wie er sich nicht bewegt. Weil stets hinter dem Coolen die Tragik des Einsamen steckt, dessen, der keinen an sich heranlassen kann. "Nie zeigst du Emotion", wird ihm in "3 Zimmer / Küche / Bad" vorgeworfen, und er: "Warum auch, die zeigst du doch schon."

Und nochmal Gwisdek: In "Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel" von Aron Lehmann spielt er den Regisseur Lehmann, der ein großes historisches Epos drehen will, eine Adaption von Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas"-Novelle - allein es fehlen die Mittel. Nach einem großartigen ersten Drehtag verabschieden sich Produktion und Fördermittel, und das Filmteam ist auf sich selbst zurückgeworfen irgendwo in einem Kaff im schwäbischen Allgäu. Kein Geld. Keine Waffen. Keine Pferde. Keine Rüstungen. Nur die Vision von Lehmann; und heimlich dessen Träume von einer schönen weißen Frau, seiner Muse, die ihn vorwärtsführt durch den steinigen Pfad des vollkommenen Mangels.

Lehmann improvisiert. Kühe und ein Ochse müssen für Pferde herhalten, die Waffen sind imaginär, die muss der Zuschauer sich mitdenken. Der Bürgermeister des Ortes immerhin fühlt sich geehrt und unterstützt, wo er kann - der Tanzsaal des Gasthofs wird Gemeinschaftsunterkunft, die freiwillige Feuerwehr sorgt für den Regen am Set, und das ganze Dorf spielt mit - sind eh alle im Laien-Bauertheater engagiert. Vollkommener Dilettantismus ist die Folge, Unprofessionalität, wohin man schaut, Unzufriedenheit und Streit - und die Vision von Lehmann, die er verbissen verfolgt, gegen alle Widerstände.

Gedreht wie von der Making-of-Kamera des Films im Film erreicht Aron Lehmann eine direkte Unmittelbarkeit, wenn's um seinen Lehmann geht: weil er mit den Perspektiven spielt, den Blick von außen auf das Geschehen richtet und zugleich Lehmanns inneren Trieb, seinen radikalen Willen zeigt; einmal fängt die Making of-Kamera die Muse ein, die nur er sehen kann. Und wenn mit nicht vorhandenen Schwertern gekämpft wird, wenn Türen ins Schloss fallen und auf Kühen geritten wird, dann hören wir die "echten" Geräusche, und wir hören die gewaltige Musik, die zu einem Historienfilm dazugehört.

Gwisdek spielt den Getriebenen, Treibenden schön charismatisch, er kann mitreißen, er ist vom Wahnsinn der Kunst befallen, er pflanzt seine Imgination in die Köpfe der anderen, die ihm folgen - ähnlich Kohlhaas, der ein Unrecht erlitten hat und nur Gerechtigkeit will. Der per Rechtsweg scheitert und den Privatkrieg erklärt, der schließlich Leipzig niederbrennt mit seinen Horden: Eine innere Verletzung führt zu Willen, zu Obsession, zu Wahnsinn.

Der Film ist eine Komödie. Er spielt mit dem Unzulänglichen, pointiert die Situationen, nicht unähnlich den Rittern der Kokosnuss (wo die Pythons ja ähnliche Katastrophen kurz vor Drehschluss hinnehmen mussten und das Beste draus machten): Der Schauspielcoach trainiert die Dorfbevölkerung auf der Straße mit seinen Schauspielschulübungen, der Hauptdarsteller muss zu seiner Kuh Pferd sagen, die Schlachten sind ein kindliches "Du wärst jetzt tot"-Spiel. Und die Streitereien und Spannungen im Filmteam führen immer wieder zu neuen comic reliefs.

Und genau das, dass der Film auf forcierten Witz setzt, wo alles in seiner Tragik schon komisch genug wäre, ist Aron Lehmann vorzuwerfen. Er hätte sich etwas runterfahren müssen, denn so klar die Parallelen zwischen seinem Lehmann und Kohlhaas sind, in einem entscheidenden Punkt stimmts nicht. Kohlhaas kann nichts dafür, er hat zunächst alles richtig gemacht. Lehmann aber, der Regisseur im Film, adaptiert seine Vision nicht an die Wirklichkeit, hängt an oberflächlichen Kleinigkeiten und verliert das Eigentliche aus dem Auge (auch wenn Aron Lehmann mit seinem Film über diesen Lehmann anderes behauptet). Es fehlt ihm an souveräner Flexibilität, um seine Aussage auch unter geänderten - verarmten - Verhältnissen zu treffen.

Während Gwisdek alles richtig macht, macht's seine Figur des Lehmann einfach falsch, im Gegensatz zum zunächst unschuldigen Kohlhaas: Wenn keine Kostüme da sind, darf man auch nicht mit halben Kostümen arbeiten; wenn keine Pferde da sind, können sie nicht durch Kuh oder Schaf gedoubelt werden. Dann muss man aus der Not eine Tugend machen - das versäumt der Lehmann im Film, und Lehmann außerhalb des Films, der das alles inszeniert hat, opfert seine Hauptfigur dem Willen, noch mehr, noch klarere Unpässlichkeiten darzustellen. Lehmanns Vision (egal welcher Lehmann) war offenbar nicht stark genug, um den Kohlhaas wirklich als relevantes Stück hinzukriegen. Im Gegensatz zu Ben von Grafenstein mit seinem schnell und billig (wenn auch nicht einfach) auf dem Oktoberfest gedrehten "Kasimir und Karoline" vom letzten Jahr.


Harald Mühlbeyer

Redaktionshinweis


Von Dr. Michael Kötz haben wir leider bislang nichts mehr gehört, obwohl es uns doch schon interessiert hätte, was mit der Akkreditierung im nächsten Jahr wird – oder eben: was nicht. Egal, es wird sich weisen, wir halten Sie auf dem Laufenden (Danke übrigens für das viele nette Feedback!), und sicherlich ist Dr. K. sowieso gerade auf dem Filmfest München, wo er sich mit unserem „Überwachungscineasten“ Harald M., falls sie sich über den Weg laufen, mano-a-mano auseinandersetzen kann. 

Ansonsten müssen wir leider zugeben, dass Herrn Dr. Kötzens Unmut nicht ganz unberechtigt war, angesichts seiner cinephilen Leistungen, die – man muss es sagen – einer großen Verantwortung entspringen, denn:

Festivals ersetzen zunehmend die Programmkinos in Deutschland!
Das Ausrufezeichen stammt von mir, der Rest ist der Untertitel des Beitrags Triumph der Festivalkultur von Max-Peter Heyne, erschienen in black box (Nr. 223, Februar 2012, S. 4 u. 6), dem von Ellen Wietstock herausgegebenen filmpolitischen Infodienst.

Festivals in Deutschland hätten, so heißt es darin, „die Flamme der Filmkunst hochgehalten“, die „die Programmkinos nicht gerne und nicht freiwillig“ „aufgegeben“ hätten – um sich „anzupassen, um nicht unterzugehen“. Entgegensteuern müsse man dem Trend der ökonomischen Verwertbarkeit, entsprechend andere Signale setzen. Freilich: Programmkinos sollten Festivals nicht als „Konkurrenz sehen“, sondern als „Herausforderung“.

Unsere Tradition beruht auf der Sorgfaltspflicht des Kuratierens, die mit der nötigen Intensitätsstärke und Ernsthaftigkeit betrieben wird – denn der Autorenfilm braucht Sorgfalt auch bei der Präsentation. Die Verschwendung von Aufmerksamkeit für die Filme und Filmemacher ist für uns das Grundprinzip […].“

Wer da so spricht, ist nicht Herr Heyne, sondern, von diesem zitiert, der Leiter des internationalen Filmfestes Mannheim-Heidelberg (ehemals: Mannheimer Filmwoche), des neben der Berlinale zweitältesten Festivals Deutschlands.  

Zur Anti-Mainstream- und Konter-Starkultur-Strategie dieses Direktors des IFFMH (das laut eigener Pressemeldung im November 2011 bei seinem 60. Geburtstag rund 56.000 Gäste begrüßen durfte) gehöre es, so Heyne, die „überall sonst fetischisierten Auslastungszahlen“ folgerichtig nicht mehr kommunizieren zu lassen.

Das diesjährige, das 8. Festival des deutschen Films auf der Ludwigshafener Parkinsel ging übrigens nach eigenen Angaben mit einem neuen Zuschauerrekord von 50.000 Besuchern zu Ende – zehntausend mehr, als im Jahr davor! Glückwunsch! 

Respekt, Gruß und Dank daher an alle Fackelträger, auch die in München – ob dort beheimatet oder gerade bei Kollegen zu Gast.

P.S.:
Das Programmkino Palatin in Mainz zeigt vom 10. bis zum 14. Juli die Filmreihe „Kino der Transzendenz“. Filme wie „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ von Apichatpong Weerasethakul oder Bruno Dumonts „Wild Palms“ sind im Original mit Untertitel und mit kompletten Abspann zu sehen, zu jedem Film gibt es eine kurze Einführung von Dozenten der Mainzer Filmwissenschaft. Mehr Infos dazu HIER