Hofer Filmtage 2013: "The Traveler" und "The Gansfeld Experiment" von Michael Oblowitz

Nicht nur Weihnachten, auch der Tod steht vor der Tür
Cops gehören offensichtlich zum Obsessionskreis von Michael Oblowitz. Nach dem Vampir-Buddymovie aber ist „The Traveler" aus dem Jahr 2010 wieder was ganz anderes. Weihnachtsabend, sechs Polizisten müssen Dienst schieben, als ein Fremder die Wache betritt: Val Kilmer, aufgedunsen, unbewegt, souverän, ein schwarzer Engel mit so sanfter Stimme. Unheimlich tönt sein Pfeifen durch die Gänge des Polizeireviers, Mozarts unheilschwangeres "Requiem"... Er will gestehen, sechs Morde. Er hat keine Fingerabdrücke. Er kann nicht fotografiert werden. Er taucht auf und verschwindet. Er ist deutlich ein Geist. Und wird erstmal der üblichen erkennungsdienstlichen und verhörtechnischen Routine unterzogen. Er gesteht, wie er im Dunkeln lauert, die Angst des Opfers auskostet, dann attackiert – und während er erzählt, wird im Keller einer der Bullen auf genau diese Art getötet, von einer unsichtbaren Macht…

Es geht um Rache. Rache für den Tod eines kleinen Mädchens, der Tochter von Detective Black. Der mit seinen Kollegen einen Drifter aufgegriffen hat und aus ihm die Wahrheit über den Kindermord herausprügeln wollte… Und es geht um Rache an dieser Folterung, an der alle schuldig sind, an dieser Brutalität, an dem Blutrausch, der die Polizisten in der Zelle ergriffen hat, als sie mit Scheren und Gürteln, mit Plastiktüte und Schaufel den Verhafteten ins Koma prügelten.

Val Kilmer ist eine Art Nosferatu, der Pein und Tod über seine Opfer bringt, unerbittlich, unausweichlich – und es ist überraschend spannend, da wir doch alle den Fortgang des Films kennen. Zu überlegen ist der Racheengel, zu unüberlegt handeln die Polizisten, die einer nach dem anderen abgemurkst werden. Die Regeln sind klar: Auf dem Spielbrett geht es nicht mehr ums Gewinnen, sondern nur darum, den Gegner rauszuschmeißen. Ein Gegner, der nie zum Zuge kommt.

Jeder bekommt seine Untat heimgezahlt, mit den Mitteln, die er damals, ein Jahr zuvor, gegen den Drifter angewendet hat. Gürtel um Gürtel, Schaufel um Schaufel – er sei Fan des Alten Testaments, sagt der tödliche Fremde, der sich Nobody nennt, der Bibelteil mit dem strafenden Gott; erst, als die Menschen dieses Konzept nicht mehr ausgehalten hätten, hätten sie den netten, freundlichen Jesus mit seinem Neuen Testament dazugesetzt…

Oblowitz inszeniert ganz zwingend, zumindest über weite Teile. Zu redundant wird die Folterszene gezeigt – alsbald hat der Zuschauer natürlich die Korrespondenz zwischen Tat und Strafe kapiert, das muss nicht immer extra betont werden. Die Polizisten dagegen verstehen den Zusammenhang allzu spät, der Zuschauer ist viel weiter und wundert sich über deren Blindheit. Während Oblowitz, wahrscheinlich, um die Story zu steigern, jeden Racheakt blutiger und blutiger inszeniert, da werden Gedärme aus dem noch lebenden Körper geschaufelt, einer Polizistin schießen die Eingeweide aus dem Unterleib… An solchen Stellen stimmt die Balance nicht, weil offenbar wird, dass Oblowitz – oder seine Produzenten, oder wer immer – ihrer Prämisse der reinen Rache nicht vertrauen. Und erst am Ende holt der Film sich selbst wieder ein, mit einem Twist, der dann doch alles nochmal düsterer, nochmal erbarmungsloser macht. Denn in der Tat ist das Böse immer und überall.

Ganzfeld-Apparatur
Immer und überall, vor allem im Verborgenen. Wenn etwa vier junge Studenten sich zurückziehen für ein Psychologieexperiment, Teil der Semesterabschlussprüfung, es geht um Telepathie, um ein Experiment aus den 50er Jahren, um Ganzfeld-Versuche zur Übertragung von Wahrnehmungen von einem isolierten Raum zum anderen, aufgezeichnet mit einer Apparatur zur Dokumentation parapsychologischer Vorgänge. Hitler und die Filterzigarette hätten den Grundstein gelegt, heißt es im Film, denn um des Führers überlange Reden aufzuzeichnen, habe man das Eisenoxid aus den Filtern extrahiert und das Magnetband erfunden, das hier extensiv zum Einsatz kommt – eine extravagante Retro-Filmausstattung, wie sie Oblowitz, der bekennende „Brazil“-Adept, immer gerne benutzt. Die Vampire in „The Breed“, die außerhalb der Zeit leben, die die Jahrhunderte überdauern; die uralten Vehikel, mit denen die Cops im „Traveler“ umherkutschieren, ein Film, der heute wie vor Jahrzehnten spielen könnte, würde nicht einmal kurz erwähnt, dass die Handys alle ausgefallen sind…

Das „Ganzfeld-Experiment“, Oblowitz’ neuester Film, der hier in Hof seine Weltpremiere hatte, vermischt die Zeiten, nicht nur in Design und Ausstattung. Auch, wieder ein Oblowitz-Thema, durch die alte Schuld, die die Protagonisten einholt, eine metaphysische Wiedervereinigung von Geschwistern, die sich längst vergessen haben, ein alter Mord, der in Erinnerung, Halluzination, in der Manifestation durch ein Geisterwesen gegenwärtig ist…

Nunja. Vor allem sind da die jungen Leute, die klischeehaft mehr an Drogen und Sex interessiert sind als an Studien. Die ihre Ganzfeld-Experimente an einem „neutralen“ Ort ausführen wollen und dafür ein halbverfallenes, düsteres Haus wählen, wie es in jedem Horrorfilm vorkommt. Die es mit überlauten Geräuschen, flackernden Lampen, auf- und zuschlagenden Türen zu tun bekommen. Was halt dummerweise alles schon so ausgelutscht ist, dass es den Zuschauer kaum mehr berührt.

Die Vermischungen von Halluzination, Traum und übersinnlicher Wirklichkeit hatten wir so und ähnlich auch schon mal, dass diese Typen ständig koksen, machts nicht besser. Und eine lange Sexorgie – die aber abbricht, bevor irgendeine unanständige Nacktheit zu sehen ist – dient auch eher zur Aufrechterhaltung des Interesses: Mädels in Unterwäsche, die durchs Haus rennen, sind sicher ein Hingucker.

Über weite Strecken ist dies ein ziemlich schlechter Film. Was einem leidtut, wenn man sich mehrere Oblowitze am Stück reingezogen hat. Doch dann, ganz unvermutet, kommt am Ende wieder ein ganz großartiger Moment, Oblowitz pur, wenn Polizisten auftauchen am Ort des Schreckens. Wobei der eine dem anderen seine Pommes wegfrisst, bevor sie aufgeladen mit dem Zynismus aus Jahrzehnten von Berufserfahrung und deshalb auch korrumpiert bis aufs Blut ungerührt dieses maniac mansion besichtigen und auch mal eine Nase Koks wagen: Da hat wohl einer sein Rezept abgeholt – SNIFF!
Da sind sie wieder, die überlebensgroßen Figuren, die Oblowitz’ Filme immer wieder bevölkern, und die in ihren Szenen den ganzen Film nochmal ein paar Level höher pushen. Oh, ich erinnere mich an einen der „Breed“-Vampire, ein fetter Italiener, der täglich das Grab seiner Mama besucht und ansonsten seiner Schauspielerleidenschaft frönt, der in einem vollgestopft-halbverfallenen Theater in dröhnendem Pathos den Monolog von Peter Lorre aus „M“ rezitiert… Diesen Touch bringt auch die letzte Szene wieder hinein in das „Ganzfeld-Experiment“ – zusätzlich natürlich zum ständigen unterschwelligen Bezug zu „This World, then the Fireworks“. Auch bei „Ganzfeld“ spielt Billy Zane mit, in parapsychologisch heraufbeschworenen Erinnerungsrückblenden, als tödlicher Vater, der es auf zwei Geschwister (!) abgesehen hat… Das stecke alles freudianisch in ihm drin, das komme raus, wenn er Filme dreht, so Oblowitz. Überhaupt: Billy Zane, das sei immer sein Alter Ego, man sehe es an der dicken Hornbrille. Die Hornbrille in seinen Filmen: Sowieso immer ein Zeichen für die filmische Verkörperung des Regisseurs…
Ebenfalls mit Brille: Der fette feige Polizist mit dem Traveler

Muss man noch erwähnen, dass das Ganzfeld-Schreckenshaus schön vor dem ikonischen Hollywood-Zeichen in den Hügeln von Los Angeles drapiert ist? Nein; ich denke, dass das eine Selbstverständlichkeit ist bei Oblowitz.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2013: "Breed" von Michael Oblowitz

Manchmal hat man es nicht leicht auf einem Filmfestival. Da sieht man den Dokumentarfilm über einen Wiener Underground-Trash-Filmemacher namens "Robert Tarantino", der für seine Filme konsequent kein Geld ausgibt, sondern schlicht und einfach dreht. In dessen Filme alles, was schlecht ist, sich versammelt, die genau deshalb so viel Charme haben, weil "Tarantino" um diese mangelnde Qualität weiß und sie willkommen heißt.
Und dann muss man innerhalb von einer Minute ins nächste Kino, zum Michael Oblowitz-Film "Breed", der in einer so schlechten Projektionsqualität vorliegt, dass man erstmal gar nicht weiß, ob man noch im Wien von "Vampire City" oder "Blood City Massacre" ist. Man hat keinen Wechsel des Blicks bei einem ganz anderen Film - und muss sich erst langsam adaptieren, was, ich will nicht prahlen, aber doch eine enorme geistige Anstrengung verlangt.

"This is a vampire movie", erklärte Oblowitz vor dem Film, "but an intelligent one", warf die Moderatorin ein. "Well, I wouldn't go that far", versetzte Oblowitz - aber das ist natürlich Koketterie.
"The Breed" ist ein Cop-Fantasy-Buddy-Movie, zunächst. Nach dem grausigen Tod seines Partners muss Steve, die Hauptfigur, erkennen, dass es eine Menge Vampire gibt, die mit den Menschen koexistieren, eine Minderheit, die man so mitlaufen lässt. Und selbst sein neuer Partner Adrian ist einer der Blutsauger - nein: sowas tun sie nicht mehr, es gibt jetzt künstlichen Ersatz, der den Blutdurst voll befriedigt.
Doch etwas ist falsch, die Fronten sind verhärtet. Dräut ein Krieg zwischen Mensch und Vampir am Horizont? Warum läuft einer der Vampire Amok, nur um des Todes, nicht um des Blutes willen?

Das ist schonmal genug, um drei, vier Normal-Blockbuster mit viel CGI zu drehen (drei Jahre später wurde, ebenfalls für Sony, an denselben Locations "Underworld" gedreht...) Oblowitz aber geht andere Wege. Nicht Horror, kaum Action, sondern ein Thriller ist dies, ein Politthriller noch dazu. Denn Oblowitz weiß perfekt, seine Ästhetik einzusetzen. Das Design des Films ist absolut unglaublich: Überwacht werden die Vampire von der NSA - ja: die NSA, die auch Kanzlerinnen und andere Menschen überwacht, wie wir jetzt, dreizehn Jahre später, wissen! Und diese NSA residiert bei Oblowitz in einem Gebäude, ein Stein gewordener, feuchter Totalitarismustraum, gedreht in den kommunistischen Großbauten von Budapest und ausgestattet mit Albert-Speer-Ideen. Genau das im Grunde, was Terry Gilliam - für etwas mehr Geld - in "Brazil" gemacht hat, ihm huldigt Oblowitz in "Breed" erklärtermaßen.

Paranoia und Totalitarismus - bei Nazis, Kommunisten oder sonstwo - schließlich ist Oblowitz im
Jüdische Vampire
Apartheit-Südafrika aufgewachsen! Und plötzlich bekommt dieser Filme eine ganz persönliche Note, mit seinem Vampir-Ghetto, in dem die dort lebenden Wesen gekleidet sind wie die ikonischen zusammengepferchten Juden in zahllosen Spielfilmen (und realen Dokumenten von damals!) Wir tauchen ganz tief ein in eine Erzählmaschine, in der sich die Geschichte ständig wiederholt, umgewälzt und mit neuen Akzenten: Weil Oblowitz natürlich und glücklicherweise klug genug ist, KEINE bloße Allegorie zu schaffen, keine einfach decodierbare Fabel nach der Gleichung J=V. Oblowitz ist raffinierter, auch, weil er seine Story nicht verraten will, sondern ihr schlicht wichtige und bedeutsame Ebenen hinzufügt.

Der schwarze Cop, die chinesische Jüdin
Bai Ling spielt eine der Vampirinnen, sie residiert mit schwarzen Panthern und ausgefallenen Kleidern in einem riesigen Schloss. Und das ist für Oblowitz ein besonderer Witz, wie er erklärte: "Jüdische Vampire, das könnte viele in Hollywood verärgern. Deshalb ist mit Bai Ling eine chinesische jüdische Vampirin eingebaut, das wird sie völlig verwirren!" Es geht um das Feeling, um die Atmosphäre, auch um das Unbehagen, um den Schoß, aus dem das Böse kriechen kann. Mittendrin Steve, der schwarze Cop, dem ob seiner anfänglichen Ablehnung der Vampire Rassismus vorgeworfen wird - ein weiterer Oblo-Witz... Steve, der alles auseinandersortieren will und einiges dabei falsch macht. Und im Hintergrund eine böse Verschwörung einer Massenvernichtung, die auch nicht politisch korrekt aufgelöst wird.

Manchmal hat man es leicht auf einem Filmfestival. Weil einem Filme und Filmemacher vorgestellt werden, die man sonst völlig übersehen hätte. Leute wie Robert Tarantino und Michael Oblowitz, die mit Leidenschaft drehen, die sich einbringen in ihre Filme - und dabei an ganz unterschiedlichen Enden des Qualitätsspektrums operieren.

Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2013: "The World, then the Fireworks" von Michael Oblowitz

In diesem Jahr fuhr der geneigte Verfasser mit leichtem Unbehagen nach Hof. Der neue von Atom Egoyan; der neue von Francois Ozon; der neue von Roman Polanski; der neue von Jim Jarmusch - sie alle liefen auf dem Filmfest in Hamburg, vor ein paar Wochen. Und die stille Hoffnung, dass Heinz Badewitz den neuen Gilliam-Film "The Zero Theorem" hat holen können - immerhin liefen hier auch schon Wes Anderson und Darren Aronofsky - hat sich auch nicht erfüllt.

Wie Hohn fühlt es sich da an, wie Badewitz im Vorwort zum Programmheft den Gast der diesjährigen Retrospektive vorstellt: Er zählt unter anderem Kathryn Bigelow und Jim Jarmusch (siehe oben!) auf, um auf Michael Oblowitz zu kommen. Michael wer? Hatte ich noch nie gehört. Und es wird nicht besser, ihn so zu charakterisieren: "Er ist mit den oben genannten Filmemachern nicht nur befreundet, sondern sie haben zum Teil auch an seinen Filmen mitgearbeitet." Ja und? - fragt der Verfasser, der vor vielen Jahren mal Marie Bäumer gesehen hat, wie sie in der Deutschen Bank Geld geholt hat, lange übrigens, bevor andere diese Erfahrung machen konnten.

Michael Oblowitz in Hof
Oblowitz aber stellt sich als überaus interessant heraus: Nunja, immerhin spricht er sehr offen, bezeichnet etwa sich selbst als fünftklassigen B-Regisseur, dessen Filme nie das wurden, was sie sein sollten. Bei einem aber, bei "The World, then the Fireworks" von 1996, habe dann doch alles gut zusammengepasst. Außer, dass sich die Rechteinhaber offenbar des Films schämten, den sie weder auf DVD oder BluRay noch auf Onlinestreaming freigaben, bisher.

Zunächst befinden wir uns im Jahr 1926, Unabhängigkeitstag und Katastrophe für die Zwillinge Marty und Carol. Ein Eifersuchtsdrama, der fremdgehende Vater erschießt den rechtmäßigen Ehemann der Geliebten, vor den Augen der Kinder, kommt später dafür auf den Stuhl, die Geliebte begeht Selbstmord, die Mutter verfällt einigermaßen dem Wahnsinn. Superlustig für die Kids, so Marty in seinem von Weltekel geprägten Voice-Over-Kommentar.

Um ihn wird es gehen, 30 Jahre später, in den Großstadtdschungeln von Chicago und L.A. Er weiß, wie die Spiele laufen, die der Politiker, der Cops, der Medien und der Gauner. Und er weiß sich zu behaupten, als einsamer Wolf, der mit allen Mitteln zu verhindern sucht, dass ihn und seine Motive irgendwer durchschaut. Warum hat er eine fette Kuh geheiratet, einen fetten Sohn gezeugt? Irgendwer musste sie ja heiraten, und wer, wenn nicht er. Er, der All American Boy mit dem markanten Gesicht, irgendwo zwischen Marlon Brando und Warren Beatty.

Billy Zane als Marty, Gina Gershon als Carol
Er kehrt zurück zu Mama und Schwester; und das Verhältnis zu Carol, dem Zwilling, ist anrüchig. Sie präsentiert sich ihm gerne halbnackt, er liegt gerne bei ihr im Bett - eine zwielichtige Affäre in einer zwielichtigen Welt. Carol ist Nutte, aber erhaben über all die schmierigen Männer, denen sie begegnet. Marty ist angewidert vom System und stellt sich bewusst ins Außerhalb. Das ergibt unglaublich starke Szenen - wie er eine Polizistin anmacht, indem er unmissverständlich sagt, was er will, wie diese dann ihr ritualisiertes Cop-Gebaren auf- und sich ganz der Geilheit hingibt. Oder wie er einem fetten, weißgekleideten Detektiv nachstellt, der seine Schwester beschattet, wie er ihm die Würmer aus der Nase zieht, um ihm dann den Kopf auf einen Briefaufspießer drückt.

Die Handlung ist voller Volten, recht verwirrt, ich habe wohl auch kaum alles voll verstanden - das macht aber nichts, das Labyrinthische ist Teil des Vergnügens, und was ist das Vergnügen an einem Labyrinth, wenn man den Weg gleich rausfindet? Marty jedenfalls will seiner Cop-Geliebten ihr Haus abschwatzen und so zu Geld kommen, Carol steckt als Independent-Hure im Visier von Bullen und Mafia, zudem von ihrem Ex-Mann. Dazu kommt die nörgelnde, Inzest vermutende Frau Mama. Marty entpuppt sich mehr und mehr als Psychopath, der sich auf irritierende Weise der verrotteten Gesellschaft angepasst hat, die der Film zeigt. Und Carol ist nicht minder kaputt. Einmal fickt sie, angefeuert vom Trauma der 1926er-Kindheit, einen Freier zu Tote... oder war es ein wissentlicher Mord?

Unglaublich atmosphärisch, der Film, mit wirklich starken Bildern - einer der wenigen, vielleicht der einzige im ganzen Hof-Programm, der von 35mm abgespielt wurde. (Einen der Vorführer hab ich klagen hören, wie hinter den Kulissen unglaubliche Probleme mit den digitalen Materialien herrschen; tatsächlich mussten wir bei einem anderen Film das Q&A stark abkürzen, weil wegen Abspiel-Problemen im Nachbarkino dort der Saal gewechselt werden musste - es wird eben nichts besser mit dem Fortschritt...)

Jedenfalls: Oblowitz, den merk ich mir. Heute Nacht um 00.15 Uhr der nächste - und vielleicht morgen hierzu hier mehr...

Harald Mühlbeyer

Mannheimer Filmsymposium 2013 – Dramaturgie der Spannung


Ein Bericht. Und ein Nachdenken.


23 Filme listet die imdb für die Zeit von 2010 bis 2015 auf, in denen Norbert Maass als Script Consultant mitgewirkt hat – beileibe nicht alles Meisterwerke. Maass ist Dramaturg, sitzt im Vorstand des Verbandes für Film- und Fernsehdramaturgie und referierte im Mannheimer Cinema Quadrat über seine Profession – was bei dem Thema „Dramaturgie der Spannung“ eine überaus passende Wahl ist.

Dass die Arbeit als Script Consultant mitunter auch frustbeladen sein kann, konnte man zwischen den Zeilen heraushören: Denn sicherlich ist „Lost Place“, an dem sich Maass’ Rede unter anderem orientierte, nicht perfekt. Und offenbar hätte Maass, der auch an diesem Regiedebüt als Dramaturg beteiligt war, ein paar gute – zumindest bessere – Ideen beisteuern können. Anscheinend aber war Regisseur Thorsten Klein recht beratungsresistent – das ist eben das Dilemma: Man kann Ratschläge erteilen, ob auf sie gehört wird, ist eine andere Sache.

„Lost Place“ ist ein kleiner Horrorthriller in den Tiefen des Pfälzer Waldes, ein Viererpack von Teenagern befindet sich auf Geocaching-Tour und trifft auf eine diffuse Gefahr, die zu tun hat mit dem US-militärischen HAARP-Projekt und ELF-Wellen – Extreme Low Frequency, in tune mit dem menschlichen Gehirn, so dass die Experimente zu Wetterkontrolle auch als Waffe zur Bewusstseinsbeeinflussung eingesetzt werden können. Ein tiefes, wohliges Wühlen im Verschwörungstheoretischen also, das durchaus mit Spannung, mit schönen Volten und einer atmosphärischen Grundstimmung umgesetzt wurde. Nunja: freilich mit Pappkameraden-Protagonisten, mit etwas unverbundenen Filmteilen, die von Geocaching unversehens ins Epileptische hopsen, und auch, wie Maass ausführte, mit einem sehr anspruchsvollen Konzept der antagonistischen Kraft – die nämlich nicht von menschlichen Bösewichtern, sondern von einem quasi außer Kontrolle geratenen Funkturm ausgehen. Eine Vagheit, die als originelle Abweichung vom Standard durchaus reizvoll ist – die aber auch dazu führt, dass die Figuren über weite Strecken ohne rechtes dramaturgisches Ziel durch die Landschaft stolpern.

Dennoch: Für die Zielgruppe – die Protagonisten gehen in die zwölfte Klasse – ein durchaus effektvoll inszenierter kleiner Reißer, der definitiv ein viel größeres Potential hat als die 12.769 Zuschauer, die „Lost Place“ von seinem Kinostart am 19. September bis zum 8. Oktober erreichen konnte. (Nunja: Der Film ist in 3D gedreht, was eine sicherlich nicht zielgruppengerechte, unnötige Verteuerung des Kinotickets nach sich zieht…)
Dass aber diesem Debüt bei der Sichtung während des Symposiums eine solche negative Energie entgegenschlug, hat mich überrascht. Offenbar war es einem Teil des filmaffinen, intellektuellen Publikums nicht möglich, sich einzufühlen in das, was der Film sein will, und in die, für die der Film gemacht wurde. Filmbewertung ist ja keine absolute Größe. Film muss in Relation zu seinen Bedingungen und zu seinen Ansprüchen beurteilt werden – was hier freilich unterblieb. Kalte Ablehnung wurde ihm zuteil – und sooo schlecht ist „Lost Place“ auf keinen Fall.

Woran genau es bei diesem Film hapert, machte Maass in seinem Vortrag klar: Indem er die Defizite aufzeigte, indem er Vergleiche mit anderen – gelungenen und nicht gelungenen – Werken aufzog. Indem er aus dem Nähkästchen plauderte. Und indem er verdeutlichte, auf welchen Ebenen Film wirkt, auf welchen Ebenen ein Dramaturg eingreifen kann – und damit, bezogen auf das Symposiumsthema, auf welchen Ebenen sich Dramaturgie und Spannung entfalten.
Maass blickt in seinen Beratungen auf drei Ebenen, auf die rationale, die dem Film seine handlungslogische Stringenz erschafft, auf die sinnliche, die sich auf den Bereich des Visuellen, der Töne, des Rhythmus und des Flusses eines Films beziehen, und die emotionale, die den Zuschauer an die Filmfiguren bindet; oft, indem die Emotionalität der Figuren erzählt wird.

Im Emotionalen hapert es sicherlich bei „Lost Place“; und Maass führte auch das Beispiel „Die Tür“ (2009, Regie: Anno Saul) an, in dem die Möglichkeiten des Protagonisten, der sich in eine Parallelwelt geworfen sieht, zuwenig ausgespielt würden. Als Gegenbeispiel diente „Die Dämonischen“, der originale Körperfresser-Film aus den 50ern: Auch hier werden Freunde zu Feinden, wie in „Die Tür“, wo sich Mads Mikkelsen in der vertrauten Fremde, unter Familienmitgliedern, die er so nicht kennt, wiederfindet. „Die Dämonischen“ aber enthält eben auch das Paar, dessen Zuneigung sich im Lauf des Films steigert – während gleichzeitig die Gefahr absoluter Gefühllosigkeit immer größer wird… Schlichtweg besser erzählt. Was übrigens auch im deutschen Bereich funktioniert: Marvin Krens Zombiesause „Rammbock“, mit Flucht vor Zombies bei gleichzeitigem versuchtem Wiedergewinnen der Ex-Freundin, ist auch für Maass ein überaus positives Beispiel.

Das Modell der drei dramaturgischen Ebenen ist bei der Betrachtung von Filmen wie auch beim Nachdenken über Dramaturgie überaus hilfreich. Zumal sich diese Sichtweise schön verbinden lässt mit anderen Vorträgen des Symposiums: Etwa mit Marcus Stiglegger, der die Mechanismen filmischer Spannungserzeugung vorstellte und den Spuren von Suspence, Schock und Thrill in der Filmgeschichte nachging, von Pabsts „Die Büchse der Pandora“ bis zur Horrorshow des heutigen Terrorkinos, das Stiglegger mit Alexandre Ajas „High Tension“ ins Spiel brachte (nicht zu verwechseln mit dem berndzywietzschen Terrorismuskino). Die krass-heftigen Szenen von Ajas Sadismus-Home-Invasion-Film aus dem Jahr 200e zeigte Stiglegger bewusst nicht, schließlich ist der Film in Deutschland wegen Gewaltverherrlichung indiziert und nur in geschnittener Form erhältlich…
„High Tension“ jedenfalls wurde interessanterweise ebenfalls vom Großteil des Publikums abgelehnt; allerdings nicht in Bausch und Bogen verdammt, sondern als Diskussionsgrundlage akzeptiert, auch als eine Art von Film, für die es eine bestimmte Affinität in bestimmten Arten von Kinogängern geben kann, vielleicht gar darf.

Auf Ernst Schreckenbergs Überlegungen zum filmischen Subtext ließen sich Maass’ Ideen ebenfalls schön übertragen – und dass der Staffelstab der Subthemen so elegant übergeben ließ, ist ein Glücksfall für dieses Symposium (und lässt sich wohl vor allem in dieser Atmosphäre des filmischen Denkens, in diesem Miteinander von Film, Vortrag, Diskussion und Publikum herauskitzeln). Subtext: Das ist für Schreckenberg ganz klar nicht etwas, was erst in einen Film hineininterpretiert werden muss, nichts, was irgendwo verborgen liegt und darauf wartet, ausgegraben zu werden, um dem Film eine neue Perspektive, vielleicht eine ganz andere Lesart zu geben. Subtext ist intendiert, wird auch deutlich gezeigt – nur achtet der Zuschauer nicht darauf, weil er im Daneben, im Beiläufigen und Unbeachteten abläuft.
Dieses Phänomen kann man Subtext nennen – einiges von dem, was Schreckenberg nennt, würde freilich bei Ralf Fischer, der über visuelle Spannungen und den innerfilmischen Dialog der Bilder referierte, vielleicht bildliches Leitmotiv oder symbolische Bildkomposition heißen. Das aber sind terminologische Fragen – und zeigt eigentlich vor allem nochmals, wie die Vorträge bei ganz verschiedener Thematik ineinander übergehen.

Schreckenberg nimmt als offensichtliches Beispiel „Oh Boy“ mit Tom Schillings vergeblicher Suche nach Kaffee, die symbolisch für sein Underachiever-Leben ist, in dem ihm nichts gelingt, weil er nichts erreicht (wie gesagt: über die Begrifflichkeit, dies als Subtext zu bezeichnen, kann man streiten). Vor allem aber nahm sich Schreckenberg Polanskis „Ghost Writer“ vor, in dem er nach eigener Aussage mindestens zehn Subtextlinien gefunden hat. Zum Beispiel die merkwürdigen Bediensteten – die undurchsichtige Asiatin, die in der Küche werkelt, ihr Mann, der im Dünenwind versucht, Blätter zusammenzurechen: geheimnisvolle Figuren, die ihre Geheimnis niemals offenbaren, ja, deren Geheimnis nie angesprochen wird.

Vor allem auf eins konzenentrierte sich Schreckenberg: Auf die BMW-Linie.
Wir erinnern uns: Der Beginn des Films zeigt eine Fähre, von der die Autos eins nach dem anderen runterfahren – bis auf ein wuchtiges Product-Placement-Gefährt, dessen Fahrer in der nächsten Einstellung tot an den Strand gespült wird (eine Reminiszenz an Fritz Langs „Testament des Dr. Mabuse“, in dem nach Ampelstopp alle Fahrzeuge weiterfahren bis auf das, in dem der soeben Ermordete sitzt…) Der Tote bei Polanski: Das ist der Ghostwriter des britischen Ex-Premiers, der auf seiner Ferieninsel an seinen Memoiren arbeitet. Ersatzmann wird Ewan McGregor, unwillig zuerst, dann neugierig, schließlich einem Geheimnis auf der Spur… Und immer wieder wird er in Autos gezwängt, immer wieder übernimmt BMW die Führung, leitet ihn weiter, voran im Plot, näher an den Abgrund heran, auf den der Ghost unweigerlich zusteuert. Das Auto als Motor einer Tragödie der Unausweichlichkeit – Dehumanisierung, so nennt es Schreckenberg. Und allein schon aus den Filmausschnitten mit diesem Motiv zeigt sich, wie perfekt, wie reich dieser Thriller ist.

Und wir entsinnen uns: Auf der Berlinale 2010 wurde der Film eher verhalten bis enttäuscht aufgenommen, als seichte Unterhaltung ohne Biss und Relevanz – ähnlich negative vibrations, wie sie in Mannheim „Lost Place“ entgegenschlugen. Wie ernst ist diese Ablehnung eines zugegebenermaßen nicht voll gelungenen Films also zu nehmen, wenn sie mitunter auch dem runden, dichten Werk eines der besten Regisseure überhaupt zuteil wird?

Was nicht nur die Frage aufwirft, in welchem Kontext welche Schwingungen für oder gegen einen Film generiert werden; oder die danach, wieweit ein Publikum von sich selbst zu abstrahieren vermag, sprich: nicht von sich ausgeht, sondern sich hineinversetzt in die Eigenansprüche des Films und in die Ansprüche des anvisierten Zielpublikums. Sondern auch die, inwiefern ein Film für seine von ihm selbst intendierte Wirkung alle Ebenen der gesamten Wahrnehmung jeder Dramaturgielinie erfüllen muss.

Zumal nämlich unter den während des Symposiums vorgeführten Filmen mit Fred Zinnemanns „The Day of the Jackal“ / „Der Schakal“ von 1973 und Tetsuya Nikashimas „Kokuhaku“ / „Geständnisse“ von 2010 zwei Filme waren, die ganz bewusst mit ihrer Wirkung auf den Zuschauer spielen. „Geständnisse“, die eiskalte Rachegeschichte einer Lehrerin an ihren Schülern, fährt jede Emotionalität der Figuren extrem herunter, Psycho- und Soziopathie bestimmen den alltäglichen, niemals liebevollen Umgang miteinander. „Der Schackal“ betont extrem die rationale Ebene mit ständig eingeblendeten Uhren, mit genauen Datumsangaben, mit der Verankerung des fiktiven Geschehens in der Realität: Nach dem tatsächlichen, gescheiterten Anschlag auf Präsident de Gaulle von 1962 beauftragt die radikal-rechtskonservative OAS einen auswärtigen Auftragskiller mit einem neuen Attentatsversuch, dessen minutiösen Vorbereitungen der Film exakt beschreibt; während als gegenläufiges Uhrwerk die Bemühungen von Polizei und Geheimdiensten geschildert werden, die das Komplott zerschlagen wollen. Klar, präzise, fast übermenschlich wird geplant und gegengeplant – und gottseidank kam keiner der Filmemacher auf die Idee, etwa die Ehegeschichte des Chefermittlers auszubauen, um seiner Figur mehr emotionales Gewicht zu verleihen!

Wenn bestimmte Wirkungsaspekte der Dreier-Dramaturgie bewusst heruntergedimmt werden, so wie Zinnemann und Nakashima die emotionale Schiene abschalten, dann wird damit ja auch eine Aussage getroffen. Ebenso wie in den von Ralf Fischer in seinem Vortrag über visuelle Spannungen angeführten Beispiele von Kubricks „2001“ oder Jacques Tatis „Playtime“. In beiden wird die rationale Ebene vernachlässigt, und zwar auf ähnlich unterschiedliche Weise, wie „Der Schakal“ und „Geständnisse“ die Emotionen übergehen, mit gänzlich unterschiedlicher Intention und Wirkung nämlich: Wo beim „Schakal“ ein mechanistisches Spannungsmoment vorherrscht, erklärt „Geständnisse“ den kalten Krieg zwischen den Figuren (und auch zwischen Leinwand und Publikum); „2001“ schraubt die logischen Handlungsfolgen von Ursache und Wirkung herunter, um per Verrätselung philosophisch zu erzählen, während Tati in „Playtime“ die Stringenz der Handlung auseinanderzerrt zu unverbundenen Absurditäten.

Alle dramaturgischen Schichten – die rationale, die sinnliche, die emotionale – aufzufüllen, ist, wie sich zeigt, nicht der Weisheit letzter Schluss. Unausgewogenheit in den erzählerischen Ebenen ist eben – siehe „Lost Place“ – nur dann ein Problem, wenn sie aus Nachlässigkeit oder Unvermögen entsteht, weil dann die potentielle Wirkung des Filmes nicht voll ausgeschöpft wird. Und selbst dann kann man bis zu einem gewissen Maße darüber hinwegsehen, wenn man vom Ideal, vom Absoluten wegrückt und das Relative, das Notwendige ins Sichtfeld rücken lässt: In dieser Perspektive ginge man nicht vom Bestmöglichen aus, von dem verschenkte Möglichkeiten subtrahiert werden müssen. Sondern vom Minimalen, davon, was unabdingbar vorhanden sein muss für den gewollten Effekt im angepeilten Markt, und würde sich über alles freuen, was darüber hinaus geboten wird. Diese Haltung ginge dann bis hin zum amüsiert-bewundernden Blick auf das Trashkino.


Harald Mühlbeyer