Buch zum Film zum Sachbuch zur Terrorgruppe


Katja Eichinger: Der Baader Meinhof Komplex. Das Buch zum Film. Hamburg: Hoffmann und Campe, 224 Seiten, € 14,95
ISBN 978-3455500967

Ja, wieder der Terz – was Bernd Eichingers und Uli Edels Film DER BAADER MEINHOF KOMPLEX für Haue bekam, erhält auch gleich das Buch mit. Ist ja schließlich von Katja Eichinger, der Frau des Produzenten und Drehbuchautoren. Da kann man natürlich prächtig seine Späße drauf machen. Überhaupt witzeln. „Das Buch zum Film zum Sachbuch“. Eine Wonne, ein Ulk.

Schon sitzt man wieder da und muss das Buch zum Film verteidigen wie zuvor schon den Film selbst, obwohl man es gar nicht will (und beide es nicht wirklich brauchen oder verdienen). Nur: Diese fast reflexartige Pauschal- und Vorweghäme ist so öde und ermüdend, dass man sich unversehens dem „BMK“-Film und -Buchzumfilm fünfzig Milliarden mehr begeisterte Zuschauer und Leser und Käufer und Eintrittbezahler und DVD-Ersteher wünscht und obendrein den Oscar hier und den Pulitzerpreis da, damit das Rumgezicke derer, die doch so viel besser wissen, wie „es“ gewesen ist, keine Luft mehr bekommen vor lauter Kammerflimmern.

Natürlich ist auch das Buch nicht wirklich die Wucht, um es mal so zu sagen. Teilweise putzig plaudert Frau Eichinger vor sich hin. Wobei ihr zugute zu halten ist, dass sie sich und ihr subjektive Position nicht zu kaschieren sucht. Von der Idee, der Produktion und Drehbucharbeit über die Dreharbeiten geht der Bericht, unterbrochen von Statements von – natürlich – Aust, Eichinger, Edel sowie Künstlern hinter und vor der Kamera.

In der zweiten Hälfte wiederum beinhaltet das Buch zum Film zur Terrortruppe Eichingers Drehbuch, was für die Auseinandersetzung mit dem Film und „seiner“ Geschichte durchaus eine nützliche Sache ist. Allein schon, weil zu (ob erfolgreichen oder deutschen) Filmen hierzulande nach wie vor noch zu wenig an Drehbuchmaterial publiziert wird.

Man kann sicherlich streiten, über Sinn, Nutzen und Tiefe von Informationen, wie die Schwierigkeit, die das Auffinden welcher Originalsonnenbrillen der Zeit bereiten oder dass Eichinger Martina Gedeck in einem Münchner Restaurant für die Rolle der Meinhof angesprochen hat. Einer Gedeck, die dann Sätze zu lesen gibt wie:

„Es gibt viele Fragezeichen, was die Person Ulrike Meinhoff betrifft. Auch ihre Zeitgenossen sehen sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln.“ Ja. Hhm. Sowas.

Vieles verwirbelt so allzu schnell zu einem Gefühl von Boulevard-Ernsthaftigkeit, irgendwo zwischen Luftleere und Banalität, Besinnlichkeit und Besinnungslosigkeit – oder schlicht leicht zu Wissendem (so wenn die Darsteller über ihre Figuren sprechen). Das alles versaubeutelt das Buch aber nicht. Denn das ganze Angestrengte verleiht dem Buch auch das Gefühl, dass sich diverse Macher des fertigen Films – ob vor oder hinter der Kamera – sich doch schon ihre Mühe mit ihrem Stoff gemacht haben. Ob sie dabei sympathisch sind, ob die sowas dürfen, das ist eine andere Frage. Natürlich wird wie immer die Biographiekarte aus dem Hut gezaubert. Eichinger und Edel im München jener Zeit. Auch so ein Spaß. Und ebenfalls klar ist: Einem Herr Kraushaar beim Sichgedankenmachen zur RAF „zuzuschauen“ ist zig Mal gewinnbringender als dem ganzen suspekten Künstlerpack hier zusammen. Den hübschen Drehbericht-Infos zum Trotz.

Doch es wäre schon viel gewonnen, zuzugestehen, dass beide in unterschiedlichen Klassen spielen – und dieses Guido-Knopp-Promo-Begleitwerk hat dieselbe Güte und Berechtigung in der medialen Auswertung eines ohnehin schon zu Tode publizierten Lieblingsaufregers wie ein Was ist Was-Buch, über das man sich schließlich auch nicht beugt und mault, Einsteins Relativitätstheorie sei darin schon ziemlich lumpig behandelt.

Also nur ein belangloses aber ehrbares Werk für Kinder und Jugendliche und bildungsferne Filmfreunde?

Ha, so einfach auch nicht. Wahrlich spannend wird „Das Buch zum Film“ nämlich, wenn klar wird, wie viel letztlich doch nicht an Originalschauplätzen gedreht wurde. Oder wenn Kameramann Rainer Klausmann berichtet, wie er sein Authentizitätsideal wie ein Fußballtaktiker hochhält: Von der Optik nach vorne denken, nicht nach hinten. „Ich nehme die Kamera einfach auf die Schulter und folge dem Schauspieler. Wenn der Schauspieler gut ist, dann ist ab und zu mal eine Unschärfe auch in Ordnung.“ Wobei dieser lobenswerte Gedanke von Freiheit, Inspiration und Kreativität schon von der folgenden Bildunterschrift zumindest relativiert wird, die berichtet, wie in Stammheim mit drei Kameras gleichzeitig gedreht wurden; in manchen Szenen gar mit fünf.

Das Buch macht darüber hinaus quasi amtlich, was ja so richtig mies ist: Nämlich dass sich Eichinger und Edel einen feuchten Kehricht um die deutsche filmische „Aufarbeitung“ der RAF kümmerten. Verweise auf Schlöndorff, Hauff und Co. kann man suchen. Stattdessen erfährt man, dass im Zuge der Drehbucharbeit immer wieder Filme wie BLACK HAWK DOWN, FRENCH CONNECTION, SYRIANA, CHILDREN OF MEN und CITY OF GOD diskutiert wurden. Für Edel ist der „BMK“ der Abschlussteil über das Thema Gewalt – nach CHRISTIANE F. und LETZTE AUSFAHR BROOKLYN, und gedacht hat er dabei nicht an die deutschen 68er in den Feuilletons, sondern an seine Söhne Anfang zwanzig, die „in Amerika als schwarze Mischlinge aufgewachsen“ sind.

Dagegen müssen sich all diejenigen, die auf hohen Niveau wissen, warum es den filmischen „Baader Meinhof Komplex“ nicht braucht, erst noch was einfallen lassen. Zumindest jene, die reflexhaft gejubelt hätten, wenn der Film aus dem Ausland gekommen wäre und die „Weatherman“ oder die Japanische Rote Armee zum Gegenstand haben würde.

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Bernd Zywietz

Buch zum Film zum Sachbuch zur Terrorgruppe

Katja Eichinger: Der Baader Meinhof Komplex. Das Buch zum Film. Hamburg: Hoffmann und Campe, 224 Seiten, € 14,95
ISBN 978-3455500967


von Bernd Zywietz




Ja, wieder der Terz – was Bernd Eichingers und Uli Edels Film „Der Baader Meinhof Komplex“ für Haue bekam, erhält auch gleich das Buch mit. Ist ja schließlich von Katja Eichinger, der Frau des Produzenten und Drehbuchautoren. Da kann man natürlich prächtig seine Späße drauf machen. Überhaupt witzeln. „Das Buch zum Film zum Sachbuch“. Eine Wonne, ein Ulk.

Schon sitzt man wieder da und muss das Buch zum Film verteidigen wie zuvor schon den Film selbst, obwohl man es gar nicht will (und beide es nicht wirklich brauchen oder verdienen). Nur: Diese fast reflexartige Pauschal- und Vorweghäme ist so öde und ermüdend, dass man sich unversehens dem „Baader Meinhof Komplex“-Film und -Buchzumfilm fünfzig Milliarden mehr begeisterte Zuschauer und Leser und Käufer und Eintrittbezahler und DVD-Ersteher wünscht und obendrein den Oscar hier und den Pulitzerpreis da, damit das Rumgezicke derer, die doch so viel besser wissen, wie „es“ gewesen ist, keine Luft mehr bekommen vor lauter Kammerflimmern.

Natürlich ist auch das Buch nicht wirklich die Wucht, um es mal so zu sagen. Teilweise putzig plaudert Frau Eichinger vor sich hin. Wobei ihr zugute zu halten ist, dass sie sich und ihr subjektive Position nicht zu kaschieren sucht. Von der Idee, der Produktion und Drehbucharbeit über die Dreharbeiten geht der Bericht, unterbrochen von Statements von – natürlich – Aust, Eichinger, Edel sowie Künstlern hinter und vor der Kamera.

In der zweiten Hälfte wiederum beinhaltet das Buch zum Film zur Terrortruppe Eichingers Drehbuch, was für die Auseinandersetzung mit dem Film und „seiner“ Geschichte durchaus eine nützliche Sache ist. Allein schon, weil zu (ob erfolgreichen oder deutschen) Filmen hierzulande nach wie vor noch zu wenig an Drehbuchmaterial publiziert wird.

Man kann sicherlich streiten, über Sinn, Nutzen und Tiefe von Informationen, wie die Schwierigkeit, die das Auffinden welcher Originalsonnenbrillen der Zeit bereiten oder dass Eichinger Martina Gedeck in einem Münchner Restaurant für die Rolle der Meinhof angesprochen hat. Einer Gedeck, die dann Sätze zu lesen gibt wie:

„Es gibt viele Fragezeichen, was die Person Ulrike Meinhoff betrifft. Auch ihre Zeitgenossen sehen sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln.“ Ja, hm, sowas.

Vieles verwirbelt so allzu schnell zu einem Gefühl von Boulevard-Ernsthaftigkeit, irgendwo zwischen Luftleere und Banalität, Besinnlichkeit und Besinnungslosigkeit – oder schlicht leicht zu Wissendem (so wenn die Darsteller über ihre Figuren sprechen). Das alles versaubeutelt das Buch aber nicht. Denn das ganze Angestrengte verleiht dem Buch auch das Gefühl, dass sich diverse Macher des fertigen Films – ob vor oder hinter der Kamera – sich doch schon ihre Mühe mit ihrem Stoff gemacht haben. Ob sie dabei sympathisch sind, ob die sowas dürfen, das ist eine andere Frage. Natürlich wird wie immer die Biographiekarte aus dem Hut gezaubert. Eichinger und Edel im München jener Zeit. Auch so ein Spaß. Und ebenfalls klar ist: Einem Herr Kraushaar beim Sichgedankenmachen zur RAF „zuzuschauen“ ist zig Mal gewinnbringender als dem ganzen suspekten Künstlerpack hier zusammen. Den hübschen Drehbericht-Infos zum Trotz.

Doch es wäre schon viel gewonnen, zuzugestehen, dass beide in unterschiedlichen Klassen spielen – und dieses Guido-Knopp-Promo-Begleitwerk hat dieselbe Güte und Berechtigung in der medialen Auswertung eines ohnehin schon zu Tode publizierten Lieblingsaufregers wie ein „Was ist Was“-Buch, über das man sich schließlich auch nicht beugt und mault, Einsteins Relativitätstheorie sei darin schon ziemlich lumpig behandelt.

Also nur ein belangloses aber ehrbares Werk für Kinder und Jugendliche und bildungsferne Filmfreunde?

Ha, so einfach auch nicht. Wahrlich spannend wird „Das Buch zum Film“ nämlich, wenn klar wird, wie viel letztlich doch nicht an Originalschauplätzen gedreht wurde. Oder wenn Kameramann Rainer Klausmann berichtet, wie er sein Authentizitätsideal wie ein Fußballtaktiker hochhält: Von der Optik nach vorne denken, nicht nach hinten. „Ich nehme die Kamera einfach auf die Schulter und folge dem Schauspieler. Wenn der Schauspieler gut ist, dann ist ab und zu mal eine Unschärfe auch in Ordnung.“ Wobei dieser lobenswerte Gedanke von Freiheit, Inspiration und Kreativität schon von der folgenden Bildunterschrift zumindest relativiert wird, die berichtet, wie in Stammheim mit drei Kameras gleichzeitig gedreht wurden; in manchen Szenen gar mit fünf.

Das Buch macht darüber hinaus quasi amtlich, was ja so richtig mies ist: Nämlich dass sich Eichinger und Edel einen feuchten Kehricht um die deutsche filmische „Aufarbeitung“ der RAF kümmerten. Verweise auf Schlöndorff, Hauff und Co. kann man suchen. Stattdessen erfährt man, dass im Zuge der Drehbucharbeit immer wieder Filme wie „Black Hawk Down“, „French Connection“, „Syriana“, „Children of Men“ und „City of God“ diskutiert wurden. Für Edel ist der „BMK“ der Abschlussteil über das Thema Gewalt – nach „Christiane F.“ und „Letzte Ausfahrt Brooklyn“, und gedacht hat er dabei nicht an die deutschen 68er in den Feuilletons, sondern an seine Söhne Anfang zwanzig, die „in Amerika als schwarze Mischlinge aufgewachsen“ sind.

Dagegen müssen sich all diejenigen, die auf hohen Niveau wissen, warum es den filmischen „Baader Meinhof Komplex“ nicht brauchen, erst noch was einfallen lassen. Zumindest jene, wenn der Film aus dem Ausland gekommen wäre und die „Weatherman“ oder die Japanische Rote Armee zum Gegenstand gehabt hätten.

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Hofer Filmtage 2008

Oxidation und Reduktion

von Harald Mühlbeyer

Wenn man ganz genau hinguckt, dann sieht man etwas im Kleinen. Das sind dann die Moleküle. Und solche Moleküle können sich miteinander verbinden. Man nennt das chemische Reaktion. Moleküle können sich aber auch aneinander anlagern, sich an ein Zentralatom anhängen; dies sind Bindungen, aber keine Verbindungen. Das sind dann Komplexe. Solche Komplexbildungen sind wichtig zum Beispiel in der Biochemie (der Sauerstofftransport der roten Blutkörperchen funktioniert so) – und man benötigt sie ebenso als nützliche Metapher in Festivalberichten.

- Der Blutfarbstoff Hämoglobin ist ein Eisenkomplex im Blut, dessen Struktur sich mit der Aufnahme (Oxidation) bzw. der Abgabe von Sauerstoff (Reduktion) ändert --- geklaut von Wikipedia...


Denn wenn man auf ein Filmfestival geht, dann gibt es vieles, bei dem man genau hingucken sollte. Das sind die Filme. Und mitunter, in der Masse von vier, fünf, sechs Filmen am Tag, bilden sich Bindungen, kleine thematische, personelle, motivische Verknüpfungen, da lagert sich dann ein Film an den anderen an, ohne wirklich etwas mit ihm zu tun zu haben.

Das Zentralatom eines dieser Film-Komplexe auf den diesjährigen Hofer Filmtagen war Herbert Achternbusch, der Ende November 70 Jahre alt wurde. (Wodurch sich wiederum Hof mit München verbindet, denn dort war im Sommer die Filmfest-Retrospektive Achternbusch gewidmet.)

In Hof kam der grotesk-komisch-klarsichtig-albern-realistische Filmemacher nicht in Person vor – so besteht das Zentrum des Hofer Achternbusch-Komplexes gleichsam aus einer Leerstelle, die von einem Dokumentarfilm gefüllt wird: Andi Niessner beschäftigt sich in „Achternbusch“ (gesendet am 22.11. im Bayrischen Fernsehen) eingehend mit Achternbusch, vor allem mit Achternbusch, dem Filmemacher, Achternbusch, dem Maler, Achternbusch, dem Theaterautor; weniger mit dem Schriftsteller, was vielleicht einfach der Diskrepanz zwischen visuellen und verbalen Medien geschuldet ist.

Lange Gespräche mit Achternbusch stehen im Mittelpunkt, in denen er ausführlich Auskunft gibt – ausführlich immer relativ gesehen, für Achternbusch-Verhältnisse eben. Dazu Interviews mit alten Weggefährten, Filmausschnitte, die stets passend Aussagen des porträtierten Achternbuschs oder des porträtierenden Films „Achternbusch“ unterstützen; und ein paar Einblicke in Achternbuschs Werke und Werden. Ein Besuch im Tierpark verleitet Achternbusch zu meditativen Betrachtungen über das Faultier, mit seiner jüngsten, vierzehnjährigen Tochter Naomi erklettert er den Turm des Alten Peter und sucht per Fernglas den Rasierpinsel, den er in seiner Wohnung verlegt hat. Und dazwischen immer wieder Erinnerungen, Anekdoten, aufschlussreiche Bemerkungen zu seinem familiären Hintergrund („Mei Vater war a Sau, mei Mutter war a Nazi'') und zu seinem künstlerischen Werk („I wollt meinen eigenen Mist machen, und do lass i mir net dreinreden'').

In der Tat gelingt hier Niessner eine Annäherung an einen Unnahbaren. Niessner selbst hat in den 90ern zweimal mit Achternbusch gearbeitet, war lange Zeit bei dessen Mitarbeiter-Stammtisch dabei, der das Team zusammenhielt, auch wenn gerade kein Film gedreht wurde. Ist also ein entfernter Verwandter in dieser Achternbusch-Familie, und von diesem Zugang profitiert sein Film. Der Achternbusch sowohl denjenigen nahe bringt, die bisher noch gar nichts von ihm wussten, als auch den Aficionados, die sich seinen absurden Zerrbildern der Welt, in der wir leben, hingegeben haben.

Mit Achternbusch (zumindest was die Filmarbeit angeht) verwandt ist Schlingensief, von dem Achternbusch noch keinen einzigen Film gesehen hat, den er verachtet, wie er ja vieles verachtet (doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden).

„Christoph Schlingensief: Die Piloten“ heißt jedenfalls eine Dokumentation von Cordula Kablitz-Post; ein Film, der sowohl Making of als auch Teil des dokumentierten Projektes ist, nämlich die einzige filmische Aufzeichnung von Schlingensiefs Talkshow-Projekt „Die Piloten“, das er im Januar 2007 im Foyer der Akademie der Künste Berlin inszenierte.

Piloten: das sind die Sendungen, mit denen ein Konzept geprüft wird und die dann häufig genug nie ausgestrahlt werden. Schlingensief nun erklärte die Improvisation zum Konzept und den Prüfstand zur Permanenz und nahm in Kauf, dass alles, was hinten rauskommt, komisch riecht – und dennoch kamen die prominenten Gäste für diese Irrsinns-Talkshow, oder vielleicht gerade deshalb. Weil sie sich Ähnliches erhofften wie beim skandalumwitterten „Talk 2000“ (bei dem Kablitz-Post auch schon mitgearbeitet hat)? Schlingensief seinerseits hat sich vorgenommen, alles vollkommen zu manipulieren: die Gäste, die Zuschauer, sich selbst.

Da tauchen sie dann alle auf, Rolf Hochhuth und Gotthilf Fischer, Oskar Roehler und Jürgen Fliege, Lea Rosh und Sido, die über verschiedene Themen reden sollen, über Krankheit etwa oder über Religion. Und zu denen Schlingensief seine eigene Bagage mithineinmischt, die Behinderten, mit denen er schon seit Jahren zusammenarbeitet, oder die Schauspielerin Susanne Bredehöft, die sich als Pflegerin von Rolf Hochhuth gerieren soll – worauf der natürlich nicht vorbereitet wurde. Wieder mal also eine mediale Mediendekonstruktion Schlingensiefs, der auf vielen Ebenen spielt und unter anderem Theater, Fernsehen, Selbstentblößung und Nötigung vermischt. In dieser ersten Hälfte der Dokumentation geht es noch sehr beschwingt, sehr lustig zu – Schlingensief bepisst sich (ja, tatsächlich!), als Fliege mit einer penetranten Verehrerin konfrontiert wird, und Kerstin Grassmann (Motto: Lieber schizophren als ganz alleen) erzählt dem Suhrkamp-Verleger eine krude Story von Mobbing inklusive diversen Abtreibungen. Blicke hinter den Kulissen wechseln sich ab mit Primärmaterial der aufgezeichneten Shows – doch langsam bricht Düsternis ein.

Schlingensiefs Vater lag 2007 im Sterben, immer wieder thematisiert er im öffentlichen Raum diese private Betroffenheit – exploitiert sich also selbst, vor allem aber den todkranken Vater, für ein paar Lacher und für emotionale Zuschauerreaktionen. Genau das, was er an den Medien eigentlich kritisieren will. Oder andererseits: Ist dies wieder eine seiner Strategien der Überaffirmation, dass er sein aufgewühltes Inneres bloßstellt, so wie sich jeder, der in einer Talkshow auftritt, bloßstellt? Dies ist eine Ambivalenz, die sich nicht einfach auflösen lässt; und Schlingensief selbst hasste sich dafür, dass er seine familiären Geheimnisse öffentlich ausplauderte, um – ja, er weiß es selbst nicht.

Genau deshalb hat er ein halbes Jahr später – so lange lagen die „Piloten“ auf Eis – die Schraube noch weiter gedreht und zusammen mit Medienkritiker Boris Groys seine eigenen Shows analysiert. Deren dritte Folge geriet wirklich beklemmend, und Post-Kablitz’ Dokumentarkamera ist hautnah dabei: Claudia Roth war eingeladen und erklärt schon im Vorgespräch, dass sie trauert – ein enger Freund, der Journalist Hrant Dink, war an diesem Nachmittag in der Türkei erschossen worden. Schlingensief nun spendet einerseits Trost – und benutzt Roths Trauer zur grausamen Entblößung vor Live-Publikum und Kamera. Was er im Eifer des Gefechts wollte war wohl, eine geahnte Heuchelei zu offenbaren, denn Frau Roth muss ja nicht öffentlich auftreten, wenn sie nicht öffentlich getreten werden will. Andererseits drängt Schlingensief sie geradezu zum Ausverkauf der eigenen Gefühle, so wie er – aus freiem Willen – die eigene familiäre Situation öffentlich gemacht hat.

Schlingensief ist also als Totengräber der Privatheit ein ziemliches Arschloch; und auch eine Rückkopplung zur Medienkritik kann dieses Urteil nicht revidieren. Ein Urteil, das er übrigens über sich selbst spricht – er kommt nicht raus aus den Achtzehnfachkonnotierungen seiner Aktionen. „Eine große Waschmaschine“, wie Groys es nennt – die Diskussionsveranstaltung über die „Piloten“ ist ebenfalls mehrfach gebrochen, Schlingensief und Groys reden anhand der Filmaufzeichnungen hinter einer blickdichten Leinwand, auf die fürs Publikum wiederum ihr Live-Gespräch projiziert wird – und wiederum wird alles vom Dokumentarfilm eingefangen.

Cordula Kablitz-Posts Film ist weit entfernt von einer Verurteilung der schlingensiefschen Methode – und legt dabei ihre Funktionsweise bloß; er ist damit Teil der inflationären schlingensiefschen Sinn/Übersinn/Unsinn/Metasinn-Konstruktionen und ermöglicht zugleich Einblicke in die Zahnräder dieser Maschinerie, ohne Schlingensief selbst oder seine Gäste mehr zu entblößen, als ohnehin geschehen im Lauf des Projekts.
Vom Zentralachternbuschatom ausgehend kommen wir über die nächste personelle Verbindung zum Bierbichler Sepp. Er war der einzige Profischauspieler in Achterbuschs Laienbrigade, die die vom Autor-Regisseur vorgegebenen aphorismusartigen Blödsinnssätze (oder blödsinnsartige Aphorismen) mit holpriger Modulation und unbeholfenem Spiel vortragen: „I hab da auch nur neipasst, weil i so gut bin wie an Laie“, so Bierbichler in der Achternbusch-Doku.

Gleich drei Filme mit Bierbichler liefen in Hof; einer davon, der Kurzfilm „Ein flüchtiger Moment“ von Sophie Kluge, als Sondervorstellung außerhalb des offiziellen Programms. Bierbichler spielt darin einen Schauspieler, der unbedingt der Kinopremiere eines Kollegen entkommen will, um sich mit einer Frau zu treffen – das sind witzige Slapstickmomente, Bierbichler im Gang kriechend zur Tür. Und zugleich trifft der Film ein Wesensmerkmal der bierbichlerschen Figuren, die sich immer getrieben zu fühlen scheinen, die eine innere Unruhe im massigen Körper kaum verbergen können. Und sich dabei auch kaum um ihre Mitmenschen scheren. Wie sie ja auch stets nur in bayrischem Dialekt daherreden.

Sehr zurückgenommen und daher recht untypisch spielt Bierbichler dagegen in Caroline Links „Im Winter ein Jahr“, ihrem ersten Film seit dem Oscarerfolg; Kinostart war am 13. November 2008. Bierbichler spielt den Maler Max Hollander, der ein Doppelporträt malen soll von Lilli (Karoline Herfurth) und ihrem Bruder Alexander. Nur, dass Alex tot ist, gestorben bei einem Jagdunfall, wie Mutter Eliane (Corinna Harfouch) sagt; in Wirklichkeit hat er sich umgebracht, im Winter ist es ein Jahr her. Trauerverarbeitung durch die Kunst, die Eliane beim Maler für 20.000 Euro bestellt, die ihre Erinnerungen an den geliebten Sohn konservieren soll. Lilli ist widerwillig, sie leidet unter der Bevorzugung des Bruders über den Tod hinaus; und der Vater, Bioniker, ist immer ziemlich abwesend. Eine Familie, die, wie es mal heißt, einem Tretboot gleicht, das ruhig dahinzutreiben scheint, bei dem aber unter der Wasseroberfläche heftig gestrampelt werden muss. Maler Max nun gibt der Familie, die nicht erst seit dem Verlust von Alexander auseinanderdriftet, einen neuen Impuls.

Er muss sich annähern, muss fragen, um der Essenz nachzuspüren, die er in sein Bild legen will; und Lilli taut auf, öffnet sich, gibt Schwächen preis, eine Fragilität, die hinter ihrer Schönheit liegt. Und beginnt, ihr eigenes Leben umzukrempeln. Bierbichler scheint dabei ein ruhender Pol zu sein in all den umkreisenden Bewegungen zwischen Mutter, Tochter, Vater; und ein anderer Schauspieler hätte diesen Part sicherlich als konventionskonformen Stichwortgeber zur Familienzusammenführung gespielt. In Bierbichler aber brodelt es, auch wenn sich an der Oberfläche nichts tut. Hinter die Einfühlsamkeit, das Feingefühl von Max Hollander steckt Bierbichler eine zweite Ebene, etwas Geheimnisvolles; was nicht nur mit dem Tod seines Freundes ein paar Jahre zuvor zu tun hat; oder mit der Entfremdung vom eigenen Sohn; oder mit der Unsicherheit über die eigenen Gefühle: ist er nun schwul oder nicht? Der Mund, der immer etwas schief liegt, die Augen, tief in ihren Höhlen, in denen etwas wie Schalk flackert, die Behutsamkeit im Umgang mit seinen Kunden, die etwas Ironisches haben: da spannt sich eine zweite Ebene auf, latent vorhanden, die gleichwohl nie offen durchschlägt.

Wie Caroline Link ohnehin die leisen Töne bevorzugt, sich Zeit nimmt für ihre im Wandel begriffenen Figurenkonstellationen; zuviel Zeit manchmal, tatsächlich hat der Film ein paar Längen, vor allem am Schluss zieht sich die große Selbstfindungs-Montagesequenz hin. Das Zwischenmenschliche, das die Kunst generiert, die Kunst, die unser Leben verändert, die das Festgefahrene lockert, die Erstarrung löst: Dass Link hier nicht in den Kitsch, ins Klischee versinkt, das verdankt sie zu einem Großteil ihren Schauspielern.

Wirklich meisterhaft dagegen und noch dazu ein Debütfilm: „Der Architekt“ von Ina Weisse, in dem neben Bierbichler Matthias Schweighöfer, Sandra Hüller und Sophie Rois spielen, schauspielerisch erste Garde.



Bierbichler ist der Architekt Georg Winter in Hamburg, der mit seiner Familie zurück muss in die Berge Tirols, in seine Heimat: die Mutter ist gestorben, die Mutter, vor der er geflohen ist. Die Mutter, die ihm beim Hähnchenessen immer das Herz gab, wie sie sagte, damit er stark wird; bis er Jahre später herausfand, dass er immer den Bürzel, „also den Oasch“, gegessen hat. Der Vater wollte ihn nie aufklären, um der Mutter nicht das Vergnügen am bösen Schabernack zu nehmen.

Hier nun, in ihrem alten Haus, versammelt sich die Familie um Georg mit Frau Eva (Hilde van Mieghem), Sohn Jan (Schweighöfer) und Tochter Reh (Hüller) – und ist gefangen, eine Lawine versperrt den Rückweg in den sicheren Hafen im hohen Norden. Äußerlich geht die Familie sehr offen miteinander um, sehr direkt, sehr körperlich: ob Vater und Tochter nackt in den Schnee laufen, ob alle zusammen sich zur großen Dusch-Rasier-Pinkelsession im Badezimmer einfinden. Ob Reh mit entblößtem Unterleib ihrem Bruder auf der Violine vorspielt („Ich hab da nen Pilz, da muss Luft ran'') oder ob die beiden das seltsame, wohl aus Urgründen der Kindheit stammende Ritual des Fersentretens durchspielen – was aussieht wie inzestuöser Koitus.

Doch innerlich geht jeder dem anderen auf die Nerven. Georg lässt sich nicht von Eva verführen, die daraufhin trotzig masturbiert, die Kinder wissen nicht wohin im Leben, weil die Eltern ihnen so vieles vorgeschrieben haben; und die Eltern rechtfertigen ihren Druck damit, dass ihre Sprösslinge sonst ja gar nichts auf die Reihe bekommen.

Sophie Rois als Hannah ist die Jugendliebe des Architekten; ihr eröffnet er sein großes, innerkörperliches Geheimnis, und mit ihr hat er einen außerehelichen Sohn, seit 19 Jahren. Das bringt die Konflikte zum Überhitzungspunkt, mitten in der Kälte des tiefen Schnees; das mühevoll vom Architekten aufrechterhaltene Familiengerüst bricht zusammen.

Die Souveränität der Inszenierung erstaunt: Ina Weisse (von Haus aus selbst Schauspielerin) hat nicht nur die besten Darsteller gefunden, sie findet auch die großartigen Bilder von Berg und Schnee und Winter und kleinen, geduckten Räumen, in denen sich ihre Figuren zurechtfinden müssen. Sie weiß einen bizarren Humor ganz unterspielt einzuflechten, so dass der das Drama in seiner Fatalität noch unterstützt. Und sie unterfüttert ihren Film mit einer motivischen Kette des Auseinanderdriftens auf engstem Raum. „Architektur ist die einzige Kunst, in deren Gedanken man hinterher herumlaufen kann“, weiß Georg Winter, doch das Gebäude Familie ist statisch ganz, ganz wacklig aufgebaut. Lüge ist kein Fundament, so wie das einbrechende Grundwasser auf Georgs aktueller Bausteller den Untergrund instabil macht. Überhaupt fühlt er sich auf der Baustelle, wenn er anpacken kann, sichtlich wohler als bei einer Preisverleihung oder bei seiner Familie – vor allem, wenn er auch noch reden muss, mit den anderen. Bierbichlertypisch: er frisst in sich rein, ohne etwas rauszulassen; bis es nicht mehr geht.

Und damit wieder zurück in die Zentrale. Und von hier direkt weiter zu Marie Noëlle, in den 90ern bei einigen Achternbuschfilmen dabei: als Produktions- und Herstellungsleiterin, auch mal als Darstellerin. Bei „Die Frau des Anarchisten“ trat Marie Noëlle nun erstmals als Co-Regisseurin auf, zusammen mit ihrem Mann Peter Sehr, mit dem sie ohnehin schon lange künstlerisch zusammenarbeitet – schon den „Kaspar Hauser“ (1993) habe sie ungenannt mitinszeniert, erklärte Sehr in Hof.

„Die Frau des Anarchisten“ ist ein Historienmelodram aus der Zeit des spanischen Bürgerkriegs, der Franco-Diktatur, des Zweiten Weltkrieges – eine deutsch-spanisch-französische Koproduktion, die eine Familiengeschichte erzählt. Nämlich – so erklärte Noëlle bei der Hofer Vorführung – die wahre Geschichte von Noëlles spanischen Großeltern, von Justo und seiner jungen Frau Manuela und der Tochter Paloma – Marie Noëlles Mutter, deren Perspektive der Film immer wieder miterzählt. Justo ist glühender Republikaner, ein „Anarchist“ in den Augen der Franco-Anhänger, die Stimme der Revolution im Bürgerkrieg, der per Radio seinen Genossen Kampf- und Durchhalteparolen zusendet und auch selbst in den Schützengräben mitkämpft – ein Held in einer verlorenen Schlacht. Ein Held, der nach Francos Sieg vermisst wird. Seine Familie bleibt zurück – zum Kummer über Justos ungewisses Schicksal kommt die Trauer um den neugeborenen Sohn, der fiebernd stirbt, und um Manuelas Bruder, der von Francos Schergen ohne Gerichtsverfahren erschossen wird. Justos ehemaliger Sekretär lässt ihr Haus enteignen und kauft es billig auf, verlangt horrende Mieten von der Anarchistenfamilie. Verraten und verlassen vegetiert sie dahin – der Film, zuvor immer wieder dynamisch zwischen Kriegssituation draußen und dem Eingeschlossensein von Frau und Kindern innen wechselnd, wird nun ganz zum Kammerspiel; zum Kummerspiel. Manuela erblasst, entschwindet, wird immer weniger, während Paloma aufwächst – fast unbemerkt geht der Zweite Weltkrieg vorbei, und erst dann gibt es Neuigkeiten von Justo, der ein deutsches KZ überlebt hat und nun in Frankreich lebt. Wo sich die Familie schließlich wiedervereinigt, zusammenzieht und bemerken muss, dass die Zeit an der Liebe nicht spurlos vorübergegangen ist, dass verschiedene Leidenserfahrungen neue Anstrengungen für das Zusammenleben erfordern. Zumal Justo nach wie vor im Geheimen – auch gegenüber seiner Frau – operiert, er plant mit Komplizen ein Bombenattentat auf Franco. Und hat zudem einen sehr verdächtigen Husten, hält sich dabei stets ein weißes Tuch vor – das Signal in jedem Film für potentiell tödliche Lungenkrankheiten…

So ausufernd der Plot sich windet, so lange wird der Film; viel länger als die 128 Minuten, die er dauert. Ja, er ist gut gemacht (und nicht nur gut gemeint), erzählt von der historischen Situation in einem flächendeckend faschistischen Europa, erzählt auch viel vom Leid der Opfer, das mit dem Ende der Tyrannei noch lange nicht aufhört – kann aber dieses Leid nicht spürbar machen, kann keinen emotionalen Bogen spannen, weil er dann doch zu unentschlossen ist, wie er erzählen soll. Geht’s um den Anarchisten, seine Frau, deren Tochter, um die Gefährdung von Liebe und Zusammengehörigkeit in Zeiten des Krieges, oder um den Kampf gegen das Böse, für das Gute allgemein und darum, was man dafür alles erdulden muss? Ebenso wie in seiner Thematik schwankt der Film stets in seiner Erzählhaltung, die eben nicht etwa bei der Sichtweise von Paloma bleibt, die ja als Tochter die Familiengeschichte ins Heute herübergerettet hat; oder sich strikt auf die Entbehrungen von Manuela festlegt; oder die Wandlungen durch die verschiedenen Leidenswege plausibel macht. Justo, vor seinem Verschwinden ein humanistischer Idealist, ist bei seinem Wiederauftauchen ein verbohrter Kämpfer. Aus Enthusiasmus und Zukunftsglaube ist der verzweifelt strampelnde Kampf eines Gestrauchelten geworden --- eine Menge interessante Aspekte enthält dieser Film; zu viele allerdings, die sich gegenseitig überdecken. Viel hilft nicht immer viel.

Immer mehr freilich kommt zu unserem Achternbusch-Komplex dazu; nun gar noch filmische Anlagerungen zweiten Grades; lockerere Bindungen personeller wie thematischer und motivischer Natur an bereits an das Achternbusch-Komplex angelagerte Filme.

So spielt Nina Hoss, die die deutsche Helferin und vermutete Geliebte des Anarchisten spielt, eine Kommunistin namens Leni, genannt Lenin, auch in Christian Petzolds „Jerichow“ eine der drei Hauptrollen. Ihre Laura ist gefangen im Goldenen Käfig der Ehe mit Ali (Hilmi Sözer) – per Ehevertrag an ihn gebunden, an ihn, der all ihre Schulden übernommen hat. Sie will raus, egal wohin. Genauso wie Thomas (Benno Fürmann), der mittellos im halb verfallenen Haus seiner verstorbenen Mutter haust. Ihn holt Ali quasi direkt von der Saisonarbeit auf dem Gurkenflieger ab – als Fahrer, dann als Assistent und Stellvertreter in seiner Verwaltung und Belieferung diverser Imbissbuden in der ganzen Gegend.

Eine Gegend irgendwo im Osten der Republik, die flach ist, wo sich der Blick weit am Horizont verlieren kann – eine Gegend, die den Protagonisten keine Heimat bietet, ein Land, wo keiner verwurzelt sein kann: Ali aus der Türkei nicht, obwohl er es als Imbissbudenboss zu was gebracht hat, Thomas nicht, der in Afghanistan gekämpft hat und unehrenhaft entlassen wurde, Laura nicht, die finanziell gebunden ist ohne Hoffnung auf Besserung.

Christian Petzold seziert wie ein Chirurg die Beziehungen seiner Protagonisten zueinander, baut ein Gebilde von Annäherung und Abstoßung zusammen, fragil wie ein Mobile und explosiv wie Nitroglyzerin – die kleinste Erschütterung ist höchst gefährlich. Und er führt fort, was er in „Yella“ schon begonnen hat: die präzise Beschreibung und Analyse der Verbindung von Geld und Sex. Deren Verhältnis zueinander geradewegs in die Fatalität führen.

„Man kann sich nicht lieben, wenn man kein Geld hat“, bringt es Laura mal auf den Punkt; doch kann man sich lieben, wenn man Geld hat? Ali hat sich Laura gekauft; die hängt sich an Thomas, verbunden durch den Trieb zueinander, durch den Trieb weg von ihrem bisherigen Leben. Küsst ihn in der Kühlkammer, um dann, im nächsten Moment, für Ali wieder geschäftsmäßig mit der Inventur fortzufahren. Als Ali, der stets so misstrauisch ist, dass er ihr nachspioniert, sobald sie einmal nicht mit dem Handy erreichbar ist, sie tatsächlich erwischt mit einem Getränkegroßhändler – da ist die Versöhnung erst möglich, als sie ihm schwört, dass es gar kein sexueller, sondern nur ein finanzieller Betrug war.

Liebe und Geld, Triebe und Gier, das sind die motivischen Pole nicht nur in „Jerichow“, sondern auch im Film noir. Und Petzold ist klug genug, in seine distanzierte Inszenierungsweise, die oft fast kalt und gefühllos erscheint, kleine Elemente des Noir einzubauen, als Referenzen an das Genrekino ebenso wie als kleine ironische Seitenblicke – denn wirkliche Dramaturgie baut er nur auf, indem er Laura als klassische femme fatale charakterisiert, und indem er einem auffälligen Feuerzeug eine tragende Rolle zuweist… Darin steckt ein untergründiger Witz, ein auch selbstironisches und selbstreflexives Augenzwinkern: weil dies ein Film ist, muss die Handlung weitergetrieben werden – dafür benützt Petzold die Genreversatzstücke –, auch wenn eigentlich die Figuren ganz ziellos dahindriften und sich ihren Trieben ergeben.

Ein weiterer Film in der sekundären Komplex-Ebene ist mit der „Frau des Anarchisten“ verknüpft: Nach dem Krieg ist Justo in Frankreich weiterhin verbandelt mit einer Gruppierung radikaler Antifaschisten, die das spanische Franco-Regime bekämpfen. Als Tarnung dient unter anderem eine Schneiderei, wo – aus der Not der Nachkriegsjahre geboren – aus der Fallschirmseide italienischer Soldaten neue Kleider genäht werden.

Kleidung aus Fallschirmen – das ist auch eine Idee der Modedesignerin Katharina in Marko Doringers Biographie-Doku-Essay „Mein halbes Leben“. Darin geht Doringer seiner Quarterlife-Crisis nach, die ihn erfasste, als sich das 30. Lebensjahr näherte. Was hab ich eigentlich bisher erreicht? Hält’s keine Frau bei mir aus? Wie will ich weiterleben, wie sieht es in fünf Jahren mit mir aus? Doringer, Studienabbrecher und Dokumentarfilmer, schnappt seine Kamera und macht sich auf die Suche nach sich selbst. Zu seiner Ex-Freundin, zu seinen Eltern, zu seinen früheren Freunden in Wien, die er nach seinem Umzug nach Berlin aus den Augen verloren hat. Der Vater ist versessen darauf, dass Markos Altersvorsorge gesichert ist. Die Ex ist immer noch ein bisschen verliebt in ihn. Die Freunde scheinen alle etwas erreicht zu haben: Martin ist Redakteur bei einer Sportzeitschrift; Thomas ist Manager in einer Firma in Bulgarien; Katha ist mit ihren Modekreationen auf dem Sprung aufs internationale Parkett. Doch nach nur wenigem Nachfragen ergeben sich bei ihnen ähnliche Probleme. Martin will etwas Sinnvolles, Bedeutungsvolles machen, was er bei Sportreportagen nicht mehr gegeben sieht. Thomas pendelt jedes Wochenende zu seiner Familie in Österreich, lebt nur für die Arbeit und ist ganz vernarrt in sein Feierabendbier – zuerst kommt bei ihm die Karriere, dann die Heavy-Metal-Band, in der er spielt, dann erst Frau und Kind; ein egozentrisches, daher hohles Leben. Und Katha hat Angst davor, just in diesem Moment ihres Lebens schwanger zu werden, das würde all ihre Pläne durchkreuzen; und Pläne hat sie viele.

Dass der Film nun nicht didaktisch wird oder allzu selbstbezogen oder populistisch à la „Wir alle haben ja das gleiche Problem, hahaha“ – dafür sorgt die Kommentierung, die Doringer vornimmt, deren Ironie schon mal in Sarkasmus oder gar ins Zynische kippen kann; ebenso die assoziative Montage, die so entwaffnend sein kann. Tatsächlich ist der Film so etwas wie die Fortsetzung in Doku-Essay-Form von Woody Allens „Annie Hall“/„Der Stadtneurotiker“, der ja die Krise eines 40jährigen rekapituliert. Und dann ist da noch die spannende Dramaturgie, die Doringer seinem Film unterlegt; die – und das gibt es sonst nur im Fiktionalen – jeder ihrer Figuren eine innere wie eine äußere Entwicklung mitgibt, die eine Reise ist von tiefster Lebensdunkelheit zu einem Punkt, der wenigstens ein Licht am anderen Ende erkennen lässt.

Auf die Frage aus dem Publikum nach der Hofer Vorführung, ob Katha denn nun auch ohne den Film so unerwartet schwanger geworden wäre, verweigerte Doringer die Antwort. Wahrscheinlich hat hier mal, andersrum als in der Theorie, der Dokumentarfilm ins wirkliche Leben übergegriffen.


Ebenfalls mit dem Alter von 30 Jahren – und damit ein weiteres Glied unserer Komplex-Kette, diesmal dritten Grades – beschäftigt sich der Schweizer Film „Tag am Meer“ von Moritz Gerber. Untertiteltes Schwyzerdütsch: das ist schon mal höchst sympathisch – in Deutschland findet Dialekt in Kino oder TV ja überhaupt nicht mehr statt, höchstens bei Herrn Rosenmüllers bayrischen Volksschwänken, die als neue Heimatfilme hochgejubelt werden. Nein: Schweizer Filme sind selbst für den süddeutschen Normalzuschauer sprachlich unverständlich – und wenn dann mal ein Berliner oder eine Französin im Film auftauchen, ermahnt der eine den anderen: „Aachtung, bei dem muascht deutsch sprächn“.

Dave hängt rum, kurz vor seinem 30. Geburtstag. Und alles läuft im Kreise. Jetzt ist er sogar mit seiner Ex-Freundin Sarah wieder zusammengekommen. Immer noch hat er einen Plattenladen, immer noch macht er samstags als DJ einen drauf. Doch da ist das Wissen, vielleicht auch nur eine Ahnung, dass irgendwie jetzt ein neuer Schritt nach vorne ansteht. Immer nur CDs verkaufen? Immer nur mit dem Kumpel Matthias in ’ner WG rumhängen?

Andererseits drängt Sarah viel zu sehr. Will mit ihm zusammenziehen! Eine Zumutung. Also wählt Dave den Rückschritt als Fortschritt: und macht sich an die junge Französin Alice ran, die per Rucksack durch Europa reist.

Gerbers Film ist ein Film über das Zwischenstadium, in dem sich Dave befindet: Der die großen Geburtstagsraveparty gar nicht will, die Matthias groß angekündigt hat; der Sarah nicht verprellen will; der in Alice eine unverbindliche Chance sieht; der weiß, dass mit dem Älterwerden auch das Künstlerdasein als DJ aufhört; der auch weiß, dass irgendwann im Leben so etwas wie Verantwortung auf ihn zukommt. Für den es eine große Leistung ist, nicht über die (durchaus willige) Alice herzufallen, als sie einmal ziemlich betrunken allein in ihrer Wohnung sind. Was freilich Sarah ganz anders sieht weil der Verrat an ihrer Beziehung schon im Gedanken an Alice liegt. Dabei müsste Dave nur einmal, irgendwann, irgendwie zu irgendetwas wirklich stehen, was er tut, denkt oder sagt.

Eine Coming of Age hat Gerber inszeniert über einen, der schon zu alt ist für die Jugend, aber noch zu unreif für das Erwachsensein. Der im Schwebezustand steckt – und da gar nicht rauskommt, weil er nicht rauskommen will. Der an einem Anfang steckt und denkt, dies sein ein Ende.

Ein Ende wie die Komplex-Kette, die sich bei den Hofer Filmen bis in eine dritte Stufe fortgesetzt haben: ausgehend von Achternbusch gab es über die Zwischenstufe Marie Noëlle eine tertiäre Weiterbildung in die Quarterlife-Krisen der 30jährigen. Eine dreiwertige Komplexverbindung also, die durchaus in diesem Artikel erforscht zu haben durchaus nobelpreiswürdig ist. Vielleicht mag jemand ja diesen Text mal in Stockholm einreichen?

Das 30. Filmfestival Max Ophüls Preis (26.01.-01.02.2009) in Saarbrücken

Runder Geburtstag

von Bernd Zywietz




Intro

Ob Kindergeburtstag, Teenagerparty oder Kaffeekranz zum Wiegenfest – alle Ehrentage haben zweierlei gemein: Sie kommen – erstens – jedes Jahr, und wenn eine „0“ (oder auch mal „5“) beim Durchzählen hinten steht, ist das für den ordnungs- und strukturbedürftigen Menschen ein besonderer Grund zur Freude. Und, zweitens, laufen sie laufen mal besser, mal schlechter. Soll heißen, es kommen mal tolle Überraschungsgäste, mal unausstehliche. Mal gibt es grandiose Geschenke, mal gibt’s Quatsch. Der Wein ist besonders gut – und der Kuchen leider nix geworden. Der Gastgeber ist gut drauf, unleidig oder ständig woanders. Mal muss man zum Rauchen raus auf den Balkon, mal wird das Klo im richtigen Moment frei. Die Leute gehen zu früh, alle auf einmal, einer nach dem anderen. Dann wieder will man eigentlich gar nicht heim.

Tja, und genauso war es dieses Jahr beim Festival Max Ophüls Preis.

Dreißig Jahre alt ist es geworden, ein runder Geburtstag mit einer ebenso runden Feier. Oder manchmal nicht. Aber das gehört ja dazu, zum Rad des Lebens, mal geht es aufwärts, dann abwärts – na, jedenfalls und aus ganzem, gerne auch blauem, jedenfalls übervollem Herzen:

Herzlichen Glückwunsch!

Man könnte die Gründergeschichte hier referieren, aber wozu? Man konnte das die Tage bereits alles in diversen Zeitschriften lesen (zumindest im „Blickpunkt: Film“ und „filmwoche / filmecho“). Und letztendlich spielt das „Woher“ bei einer anständigen Geburtstagsfeier trotz aller Förmlichkeiten immer nur eine begrenzte Rolle. So durfte ein paar Mal u.a. Volker Schlöndorff von der Leinwand herab gratulieren, Jubiläumstalks und eine Ausstellung gab es, feine Redeworte fielen und das Festivalplakat zeigte ein Geburtstagskerzchen, brennend, in der Hand der Herzballonkopffrau. Ansonsten aber hielt sich die Wiegenfestfeierei in erfreulichen Grenzen, es kümmert schließlich das hier und jetzt. Und die Zukunft. Denn der Max Ophüls Preis gehört dem Nachwuchs.

Allerlei gab es von ihm wie auch von Nicht-mehr-ganz-so-Nachwachsenden zu sehen. Viel zu viel (im Angebot) – und doch nie genug (hinsichtlich des Sattsehens). Dokumentarfilme, die Mittellangen, das Spektrum – letztlich blieb es doch Aufgabe genug, sich der Langfilmwettbewerbsschiene zu widmen, mit einigen Abstechern außer der Reihe, was sich einmal als großer Glückstreffer erwies. Aber selbst die formidablen SPRINT-Kurzfilmreihen mussten für den Verfasser auf der Strecke bleiben – ohne Frage ein Verlust, denn in den Jahren hatten diese Sammlungen manches Mal mehr zu bieten als die Wettbewerbskurzfilme, die vor jedem -langfilm laufen.

Ein Sprint – das ist immer auch jeder Text zu den Filmen des Max Ophüls Preises (wie auch jeden anderen Festivals). Wie weit man kommt? Schau’n wir mal.



I.

Ob da eine Feier ausgeartet ist, erfährt man nicht – wie so vieles in KLEINER SONNTAG (CH 2008) von Philipp Ramspeck. Jedenfalls torkelt da schon am frühen Morgen eine abgerissene Gestalt herum und speit an eine Bretterwand. Er begegnet uns noch ein paar Mal, dieser Trunkenbold, in diese wirren irren Film, einer surrealistischen nicht-narrativen Mixtur aus David Lynch und Jacques Tati – freilich nach Schweizer Rezept, was dann völlig gaga wird. Verschiedene Leute ohne erklärte, erklärbare Handlung. Ein Mann, schwarz, schlammig, steigt aus dem Wasser und zieht ein Seil durch die Stadt. Ramspeck, nach der Spätvorführung, nachdem die Leute im Minutentakt hinausströmten, erklärte sympathisch ungelenk und damit auf den Punkt worum es geht: um Film als Kunst, um Film als Komposition, der andalusische Hund pinkelt an den Stammbaum, und auch wenn der Film mit seinen 69 Minuten trotzdem etwas lang war, das engagierte, fragmentarische, assoziatives oder schlicht künstlerisch vor sich austobendes Treiben da mal nervte, hier mal erheiterte, mal zu konkret war, mal zu bemüht gerät, tat es – verdammt noch mal – GUT. Gottlob war nicht jeder Film so. Und zum Glück dieser da. Allein um zu zeigen, dass Film nicht gleichbedeutend sein muss mit Sinn und Handlung und Logik. Vielleicht aber auch nur, weil in einer Szene ein Bodybuilder die Straße hinabläuft, die Kamera vor ihm herfährt – und er sich alle paar Sekunden wegducken muss vor lauter Nonsens-Dingen wie Unmengen Plastikkleiderbügel, die von außerhalb des Kaders herabregnen. Ja, zur Geisterstunde im Multiplex nach einem Tag voller seelischem und sozialem Freuds und Leids auf der Leinwand kann das schon reichen, mehr – und weiser – zu „verkünden“ als alle Dramen der letzten fünf Sitzungen.



Die Schülerjury jedenfalls, die der Abschlussveranstaltung wohl die beste Begründung von allen Jurys für ihre Entscheidung lieferte, bedachte KLEINER SONNTAG mit ihrem Preis. Obwohl – nein, weil – es „körperliche Abneigung“ gegen diesen wohligen wie erfrischenden, nervenden Humbug gab. Nun ist man schon gewohnt, dass die deutschen und französischen „Kinders“ sich gerne das Randständige suchen. Diesmal jedoch: Chapeau!

Übergeben muss sich auch die Jüdin Luisa (Kirstin Fischer) in DAS ZIMMER IM SPIEGEL (D 2009) von Rudi Gaul. Sie hat von ihrem Fenster aus zusehen müssen, wie auf der Straße jemand getötet wurde, rennt aufs Abort, übergibt sich in die Schüssel (eine der „schönsten“ Kotzeinstellungen, fürwahr). Mehr tun kann sie kaum. Nicht mal beseitigen darf sie ihren Mageninhalt: die Nachbarn könnten die Spülung hören.



Luisa muss sich in einer Wohnung unterm Dach vor den Nazis verstecken. Ab und an hört sie andere Bewohner durch die Wände. Ihr Karl (Dragan Mija Kovi) schaut vorbei – und schließlich nicht mehr. Irgendwann in diese nervenzehrende Einsamkeit, Langweile und doch: Anspannung erscheint Judith (Eva Wittenzellner), eine Bekannte Karls und Teil des Widerstands, die auch hier Unterschlupf finden will. Ob sie wirklich ist oder nicht bleibt offen und der Film ein wenig AIMÉE & JAGUAR, PERSONA, Lynchs MULLHOLAND DRIVE – alles zusammen in Sartres Geschlossener Gesellschaft. Kurz: ein überaus spannendes Kammerspiel, das etwas an Überlänge, vor allem aber an seiner visuellen Billigkeit leidet. Mit viel ohne Geld selbst produziert spielt alles in einer Theaterkulisse mit expressivem Licht. An klassische Melodramen Hollywoods soll das erinnern – und gemahnt doch vom Video-Look her an Telekolleg-Inszenierungen aus den frühen 1980ern, das sich mit animierten Fahrten in das Innere einer Uhr visuell überhebt. Metafilmisch mag das sicher ergiebig sein. Ein „Remake“ – gerne auch vom selben Regisseur mit mehr Geld und unter Beibehaltung der räumlichen Reduziertheit wäre jedoch wirklich umwerfend…

Apropos Remake: Kühl und reduziert, mit seinen ruhigen Einstellungen im Kontrast zur schier allgegenwärtigen Handkamera, dachte man bei DER TAG, AN DEM ICH MEINEM TOTEN MANN BEGEGNETE (D 2008) (was ein Titel!) auch schon mal an ein potentielles US-Remake. Die kühle, fragile, schöne, katzenäugige – schlicht packende Franziska Petri als Helene würde von Nicole Kidman gespielt werden – die wiederum an ihre Rolle in BIRTH (USA/D 2004) anknüpfen könnte. Helenes Mann ist (womöglich) ertrunken. Nun hält sie Büro und Familie am Laufen, bis sie im Theater auf Torben (Pasquate Aleardi) trifft, der ihr Robert ist – oder nicht. PINGPONG-Regisseur Matthias Luthardt inszeniert das alles nicht nur ruhig, mit langen, ausgeklügelten Einstellungen, die unaufdringlich auf Doppelung und Spiegelungen setzen. Es ist schlicht die Story (Drehbuch nach dem Roman von Andrea Paluch und Robert Habeck) und ihre ambivalente Ausgestaltung, die fesselt. Über einen langen Tag erstreckt sich die Kernhandlung; dazwischen eine Rückblende, eine „beiläufige“ Kernszene, immer wieder neu, immer wieder anders und immer mehr enthüllend.
Bis zuletzt und darüber hinaus wird man nicht wissen, ob Torben Robert ist oder – nicht trotz, sondern auch wegen des bösen Endes – Helene es selbst geglaubt hat, sie überzeugt ist oder selbst zweifelt. Diese Balance – oder genauer: Schwebe – solange und mühelos zu halten, ohne einer Lesart Vorschub zu leisten und ohne beide Hauptfiguren darüber irreal oder unglaubwürdig agieren zu lassen (sogar Torben allein mit seiner Geliebten Claudia (Sandra Borgmann)), das ist schone eine Kunst für sich. Hier ist der Film dem Buch gerade in der Distanz überlegen. Einfach weil er viel leichthändiger in den Kopf der Figuren nicht hineinguckt. Bleibt zu hoffen, dass dieses SWR-koproduzierte Drama, einer kleinen Thrillerversion von Max Frischs Stiller, es tatsächlich auf die Kinoleinwand schafft.


II.
Johannes Silberschneider – mit seinem schwarzen vollen Haar und der Physiognomie erinnert er auf den ersten Blick an Götz Alsmann, doch die Augen sind runter, offener, dunkler und präsentieren: einen Mann mit Seele. Silberschneider trat in drei Filmen des Wettbewerbs auf, und alle drei waren eine Freude.

In Ina Weisses DER ARCHITEKT (von Harald Mühlbeyer bei uns bereits irgendwo HIER besprochen) gibt Silberschneider den Pfarrer des verschneiten berglichen Mini-Heimatdorfs, in das es Georg (gewaltig: Josef Bierbichler) samt leicht verschrägter Familie nach dem Tod seiner Mutter (zurück-)verschlägt. Das ist großes Kino und gerade Sandra Hüller kann schauspielerisch dem Patriarchen der Familien (und des Films) genügend Paroli bieten. Doch bei aller Top-Güte des Films insgesamt, bei allen kleinen Skurrilitäten und einzelner, grandioser Szenen, mag die Entscheidung der Drehbuch-Jury, das Buch zu DER ARCHITEKT auszuzeichnen, nicht gänzlich einleuchten. Auch wegen des restlichen Angebots in Saarbrücken.

Silberschneider ist in DESPERADOS ON THE BLOCK von Tomasz E. Rudzik ein namen- und ortloser Mann. Vielleicht Gott, vielleicht Hausverwalter treibt er sich bevorzugt im Fahrstuhl des „Blocks“ herum, dem monströsen grauen Studentenwohnheim in München. Dort versammeln sich auf wenigen Quadratmetern und bis in den Himmel geschichtet junge Menschen aus allen Nationen, die als Fremde unter Fremden einsam sind, zumindest irgendwie wund, und einigen von ihnen geht Rudzik warm, interessiert und distanziert sympathisch nach, auch wenn die Geschichten allesamt zu gut und spannend sind, um wahr zu sein. Was nicht heißt: nicht wahrhaftig. Der gehörlose Motek (Andreas Heindl) liebt von Ferne die Bibliotheksangestellte (Korinna Krauss) und schafft es, sie zu einem „Spiel“-Tag zu überreden, in dem keiner reden darf. Die junge Theologiestudentin Clara (Patricia Moga) will systematisch alle zehn Gebote brechen um Gott zu einem Zeichen zu provozieren. Und der stille Sin aus China bekommt es als „Nachhilfe-Japaner“ mit der frühreifen Hanna (Helen Woigk) zu tun.



Man lacht über den Witz, den bisweilen verbohrten Witz, so wenn Clara ihre Sünden ausheckt und vor allem einen „Ehebruch“ inszeniert. Aber man lacht nie über sie selbst. Und wenn auch Clara zu weit geht, dann bleibt man ihr treu. Wegen der großen Tiefe, dem stillen Verlorensein und der höchst sympathischen Gewissheit, dass in dem großen grauen Block doch jeder seinen Weg finden wird. Rudzik findet genau die richtige Distanz, hat sie alle lieb, seine Protagonisten, geht mit ihnen aber zugleich nicht zu zaghaft um. Dann wieder spielt er die dramatischsten Szenen nicht aus, wendet sich kurz ab, lässt es gut sein, so wenn Sin von Hannas Vater aus dem Haus geworfen wird. Eine bestechende Form des Respekts.
DESPERADOS ON THE BLOCK ist vor Ort gedreht, teilweise mit Laiendarstellern, und das man die von „Profis“ nicht unterscheiden kann, spricht hier für den Film, der vielleicht nicht der „beste“ war in Saarbrücken, aber der unmittelbar warmherzigste (und das eine eben für das andere eintauschte).

In EIN AUGENBLICK FREIHEIT ist Silberschneider ein UNO-Beamter, der in Ankara die Flüchtlinge „verwaltet“. Viele Iraner hat es in die türkische Hauptstadt verschlagen, und dort sitzen sie jetzt fest, nach der gefährlichen und strapaziösen Reise aus der Islamischen Republik und auf dem Weg in den gelobten Westen, wo Familien warten, Freiheit und die Verheißung von etwas Wohlstand. Regisseur und Drehbuchautor Arash T. Riahl folgt Einigen in diesem Niemandsland des Transits, wo man sich arrangieren muss, vom Hotelbesitzer ausgebeutet, vom iranischen Geheimdienst gekidnappt und gefoltert und Tag und Nacht in der Schlange vor dem Flüchtlingsgebäude ausharren kann.



Riashi erzählt dabei auch ein Stückweit seine eigene Geschichte, die er bereits eindrucksvoll in EXILE FAMILY MOVIE (2006) aufbereitete. Neben den Schicksalsschlägen schafft er neben dem großen, wohltuend engagierten politischen Drama einen gekonnten Film über Sehnsucht, Hoffnung und Verzweifelung. EIN AUGENBLICK FREIHEIT bietet wunderbare Darsteller und eine wunderbaren Geschichte voller Trauer, Tragik, aber auch viel und bisweilen bissigem Humor. Da ist der Bauernwitz, mit dem ein Schwan aus dem Park als Hühnchen herhalten muss oder das Gebet auf Nummer Sicher. Der Kurde Manu gaukelt seiner Familie seinen Erfolg in Deutschland vor, nervt seinen Freund mit einer Gasmaske – von denen er ganz viel in seine Heimat schicken will, die dereinst im Krieg mit Giftgas attackiert wurde.



So liegen in EIN AUGENBLICK FREIHEIT Lachen und Weinen, Freude und Leid nicht nur dicht zusammen, sondern sind ohne einander nicht zu haben. Als Galgenhumor im Angesicht des existentiellen Nichts. Oder wenn die Eltern ihre vom Onkel und dessen Freund nach Österreich gebrachte Kinder endlich in die Arme schließen. So gibt es auch die große Dramatik, Blut, auch Brutalität, aber die sind in gewisser Weise „echt“ und unaufgeregt und im gesamten Bild, das Riahi in seinem ersten Langfilm zeichnet, gut aufgehoben. Man kann dem Film nicht mal vorwerfen, er sei zu „gut“; zuviel Rauheit und Verve steckt darin.
Dieses in vieler Hinsicht ganz große und großartige (und im Wettbewerb das größte) Kino war einer der Favoriten für den Haupt- und den Publikumspreis; bekommen hat er „nur“ den Filmpreis des saarländischen Ministerpräsidenten und den Interfilmpreis. Vielleicht hätten mehr Zuschauer für ihn gestimmt, wäre nach der Premiere am späten Mittwochabend die zweiten Vorstellung nicht schon am nächsten (Vor-)Mittag gewesen und somit mehr Zeit für Mundpropaganda. Ganz sicher jedoch war es – mit Verlaub – eine Schande, dass bei der Premiere, nachdem dem Film in der Vorführung schon der Abspann abgeschnitten und nachgereicht wurde (was freilich mal passieren kann) – dass da die Jury, kaum dass Riashi zu Wort kam, gesammelt den Saal verließ, wohin und warum auch immer (es war halb eins in der Nacht). Die Hintergründe und Gedanken des Filmemachers zu seinem, ja nun, doch auch politischen Thema wurden somit, zumindest vom Gestus her, ignoriert. Wenn das nicht ein Nachteil war gegenüber all den anderen Regisseuren, die nach den Vorführungen Gehör fanden, so war es doch eine Unhöflichkeit ersten Ranges. Immerhin: Jurymitglied André Erkau, mit SELBSTGESPRÄCHE MOP-Gewinner des letzten Jahres, harrte so lange aus wie möglich und wäre wohl noch gerne geblieben, um sich anzuhören, was Rashi zu sagen hatte …

Zum zweiten Teil des Berichts zum Max Ophüls Preis 2009



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Das 30. Filmfestival Max Ophüls Preis (26.01.-01.02.2009) in Saarbrücken (Teil 2)



III.

Den Gewinner des Max Ophüls Preises 2009, UNIVERSALOVE (2008), hatten die wenigsten als Kandidaten auf der Liste. Achselzucken bis Kopfschütteln herrschte nach der Preisvergabe. Aber Thomas Woschitz und die Band Naked Lunch haben einen Film geschaffen, der sicher nicht alle oder gänzlich überzeugen mochte, der aber seine Qualitäten hat, die durchaus preiswürdig sind. Es wäre arg verkürzt, UNIVERSALOVE als einen überlangen Videoclip zu bezeichnen; im Grunde ist er das aber, jedenfalls einer, der einen Iñárritu-Film in sich birgt. Handkamerageführte Bilder zeigen parallele Geschichten aus aller Welt zu dem breiten – na ja, beliebigen – Thema Liebe; u.a. das Liebesleid von zwei Schwulen in Luxemburg; die Liebe einer Frau in Marseille zu einem Mann in Gefahr; ein Japaner, der eine Frau aus der Ferne begehrt, vor allem aber (und überaus stark): eine arme Brasilianerin, die nach einen Autounfall mit dem Star einer Telenovela zusammenkommt, die wiederum überall in der Welt auf den Fernsehern aller Geschichten flimmert. All diese Geschichten, geschweige denn dem Thema, wird vollends auf den Grund gegangen, aber das will der Film auch nicht, der auch vor Pathos und Gebrauchtem nicht scheut (bis dahin, dass zuletzt gar die Zeit stehen bleibt) zugunsten eins fremden, aber gar nicht kalten Blicks von Oben und zugleich ganz Nahe.



Stattdessen unterliegt, nein, ist der Film überdeckt von den Songs von Naked Lunch – was irgendwann auch mal gut ist – und kommt in seinem filmischen Erzählen mit einem Minimum an Dialogen aus. Nicht alle Geschichten versteht man so, manchmal gibt auch nur bedingt eine Geschichte zu verstehen, und in diesen Teppich, der durchaus etwas Erhabenes hat, sind kleine visuell-rhythmische Schmankerl und gestalterische Beachtlichkeiten gewoben wie das Vorwärts/Rückwärts der Homosexuellen-„Episode“: Die sich rückwärts bewegenden Darsteller und Autos werden vorwärts abgespielt (man kennt diesen irritierenden Kunstgriff von David Lynchs „Twin Peaks“-Zwerg), was hier eine ganz neue, durchaus originelle Sinnebene erschließt und mehr „erzählt“ oder enthüllt als es Worte könnten.

Zu den Nachwuchsdarstellerpreisen:

Irina Potapenko, geb. 1986 und zehn Jahre später mit ihrer Mutter von der Krim nach Deutschland gekommen, war bereits in Birgit Grosskopfs PRINZESSIN von 2006 sowie bei dessen Präsentation in Saarbrücken im selben Jahr hinsichtlich Spiels und Erscheinung aufgefallen. Aus dem damals noch kleineren, attraktiven Teenager ist nun eine schöne Frau mit dunklen, ruhigen bis traurigen Augen geworden, die nach der Vorführung von Götz Spielmanns REVANCHE (2008) eine seltene Anmut präsentierte. Seltener hat man eine Darstellerin einfach nur so herrlich dastehen sehen – zweifellos Ausdruck ihrer Theatererfahrung.



In REVANCHE (2008), dem aktuellen, selten guten Oscar-Kandidaten Österreichs, spielt Potapenko eine Prostituierte, die mit der rechten Hand des Bordellkönigs eine neues Leben wagen will und, nach langem Vorlauf, die „richtige“ Handlung um Schuld und Rache erst in Gang setzt. Ein wenig erinnert REVANCHE an NO COUNTRY FOR OLD MAN, einfach was den ruhigen Duktus und das Erzählen wider die (v.a. Genre-)Konventionen betrifft –, und das einzig große Manko des Films ist, dass Potapenko einem so früh verloren geht. Unaufgeregt spielt sie die Prostituierte mit kleinen Gesten und großer Dichte, geht in dem Milieu aus Sex, Gier und Banalität auf, nicht jedoch unter, und schafft den seltenen Spagat zwischen der kaputten, abgestumpften Nutte, willenstarken „Geschäftsfrau“ aus (und in) der Fremde und dem leichten Mädchen mit dem goldenen Herzen, ohne auch nur einem dieser Standard-Typen als solchem nahe kommen zu müssen. Recht explizit geraten manche ihrer Auftritte, ist sie splitternackt beim Liebesspiel unter der Dusche zu sehen.



Wenn man nach der Vorstellung Potapenko im Gang des Camera-Kinos dank Saalverlegung ohne Mikro über ihre Rolle reden hörte und sie als leise, fast schüchterne und „konzentrierte“ Person erlebte, schätzt man ihren Auftritt auf der Leinwand noch höher ein. Entsprechend war es ein echter Glückfall, die einzige als „Saarbrücker Premiere“ laufende REVANCHE-Vorführung zu erwischen (gerade weil der Film bereits auf dem Siegeszug war und ist).




Auf Herrenseite wurde nach Ludwig Trepte (2006) nun mit Sergey Moya das zweite KELLER(2004/2005)-Kind verspätet ausgezeichnet. Wobei der Film, in dem Moya dieses Jahr im Langfilmwettbewerb zu sehen war, KRONOS. ENDE UND ANFANG, niemanden so recht vom Hocker zu reißen verstand, freilich so manchen Besucher bei der Vorführung aus dem nachmittäglichen Saal spazieren ließ. Olav F. Wehling (FUTSCHICATO) inszeniert eine Familie, die mit dem Auto strandet und sich ergeht hernach im schwerst-mythischen Treiben. Das ist mit grandiosen Bildern in der Ödnis Marokkos mit feinen Darstellern wie Moya als Kronos oder Klaus Grünberg als Uranos inszeniert, jedoch insgesamt harter, gänzlicher spaßfeindlicher, zumindest aber unterironisierter Stoff, in dessen Gewichtigkeit man sich schon suhlen wollen muss. Der Punkt im Titel dürfte dahingehend beredt genug sein.

Auch in Marokko gedreht und ebenfalls mit dem / fürs ZDF (bei KRONOS Theaterkanal, hier Das kleine Fersehspiel) produziert ist Irene von Albertis TANGERINE (2009). Zwei Frauen stehen im Mittelpunkt: Amira (erotisch-drall: Sabrina Ouazani) kommt, weil zu unzüchtig für die Familie (und ihre Männer) in der WG diverser Damen unter, die arm, aber lebensfroh, freilich auch abgeklärt ihr Geld vor allem mit Prostitution verdienen. Pia wiederum (in edler Blässe: Nora von Waldstätten) ist deutsche, die mit Musikern, darunter ihr Freund-in-Beziehungspause Tom (Alexander Scheer) durch Algerien fährt, weil die Männer die marokkanische Musik sammeln wollen.
Wie sich nun Amira an Tom ran macht, um zu einem besseren Leben zu kommen sowie ihr Verhältnis zu Pia, das ist ordentlich inszeniert und in ein Gesellschaftsporträt hinein gezeichnet, dass von der schwierigen Lage der Frauen Nordafrikas kündet. Probleme mit der Anerkennung unehelicher Kinder, die Anfeindungen der Männer, der große Traum vom Showbizz in Casablanca und das alltägliche Leid – in all diesem Unbill werden Amira und ihre Freunde als selbstbestimmte, energische und in ihrem bitteren Witz angenehm unoperhaft gezeigt, bisweilen in ihrer Kampf um Geld und Zukunft gar mit wenig Skrupeln. Gleichwohl oder gerade deshalb, weil es ihm eher um das Sozialgemälde ging, krankt der Film an seiner Dramaturgie, die dahinplätschert. Vor allem der „große“ Konflikt zwischen Pia und Amira, an dem der Film sich weitgehend als Rückblende aufzieht, bleibt Behauptung – vor allem, weil die Figur des Tom zu sehr als reiner Kasper daherkommt, um mit und über ihn irgendwas ernst zu nehmen.


IV

Um keinen Kasper, dafür eine schräge Gestalt geht es in GANZ NAH BEI DIR (2008) von der FICKENDE-FISCHE-Regisseurin Almut Gettos. Phillip (Bastian Trost) ist eine Mischung aus Tony Shalhoubs „Monk“, Buster Keaton und Jack Nicholsons Melvin in BESSER GEHT’S NICHT. Die selbst im Schlaf immer akkurate Bettdecke schlägt er morgens im exakten Winkel auf, arbeitet in der Gelddruckerei, wo er Blüten analysiert, hat als einzige (und beste) Freunde seinen Psychiater und eine Schildkröte und träumt höchstens davon, als Pantomime in einer Kellerkleinkunstbühne zu brillieren. Philip vertritt die Meinung „Zuviel Gut ist nicht gut“ – und aus Angst, sich am Leben zu verletzen geht er ihm möglichst aus dem Weg. Bis ihm eines Tages die Wohnung ausgeräumt und die Schildkröte geklaut wird und er auf die blinde Cellistin Lina (Katharina Schüttler) trifft, vor der er seine Verhuschtheit und Sozialinkompetenz so richtig zur Geltung bringen kann (wobei die dabei „entstehenden“ Behindertenwitze des Films nie selbstzweckhaft geraten). Und schließlich gelingt Phillip gar der – sogar kriminelle – Ausbruch aus der Glaskugel seines Alltags.



Das mag alles nicht ganz neu und hin und wieder etwas dick aufgetragen oder wenig hergeleitet sein, aber GANZ NAH BEI DIR ist in Gänze einfach umwerfend im Witz, rundheraus liebenswert und dank der beiden Hauptfiguren, die man sofort mit Haut und Haaren frisst, großes Herzenskino und einfach gut für die Seele. Fast noch abstrakter und artifizieller hätte die Bildgestaltung geraten können, um die Kuriosität seiner Protagonisten zu unterstreichen und die „Märchenhaftigkeit“ seines immer doch ganz diesweltlichen Anliegens zur Geltung zu bringen. Denn die größte Gefahr meistert GANZ NAH BEI DIR bravourös, die Outsider Lina und Phillip geraten zu echten Menschen, sind traurig, lustig, mal kess und grantig, verliebt, böse und alles zusammen und vor allem: aneinander.



„Schuld“ daran sind zweifellos zum großen Teil die beiden Hauptdarsteller: Bastian Trost bringt von SCHLÄFER die lebensechte stille Kümmernis unter der Oberfläche eines Einsamen mit, der sich vor dem Dasein wegduckt – der aber auch in den engen Grenzen durchaus bockig werden kann. Die fantastische Katharina Schüttler (WAHRHEIT ODER PFLICHT) mag man allein schon deswegen von der Stelle wegheiraten, weil wohl niemand so schön am Rand der Unterlippe nagen kann wie sie. Hier kann sie ihr Spiel des Linkischen, Steifen als Blinde perfekt einsetzen, offen und rundheraus den Kopf wackeln und drehen um sich zu orientieren, und ihre leicht näselnde, schleppende Stimme passt nicht nur wunderbar zur sanften Phillips, sondern bringt sie wie ihr ganzes Spiel und Erscheinen in sichere Entfernung zur Komödien-Standard-Version der (über-)lebenslustig-unbekümmerten Frau, die den Einsiedler aus der Höhle lockt.
Wenn denn Philip der Blinden eine Sonnenbrille schenkt, ihr seine Pantomime vorspielt und sie – als sie zum ersten Date zu spät kommt –, lapidar drauf hinweist, sie hätte eben etwas früher losgehen müssen, das mache man so, wenn man irgendwohin gehe, wo man noch nie war – dann geraten diese Momente nicht nur unglaublich witzig und im Spiel der Darsteller tiefgründig, sondern zugleich erstaunlich federleicht. Mit gutem Recht ging an GANZ NAH BEI DIR der Publikumspreis…

… wenn jenen auch ebenso berechtigt SO GLÜCKLICH WAR ICH NOCH NIE von Alexander Adolph hätte bekommen können (er erhielt, immerhin, den Filmmusikpreis). Frank (David Striesow) ist Hochstapler und wird bei einer Gaunerei, kurz nachdem er der fremden Tanja (Nadja Uhl) einen Mantel zu kaufen versuchte, verhaftet. Wieder draußen, kommt er bei seinem sorgenden Bruder Peter (Jörg Schüttauf) unter (dessen Freundin – gespielt von Floriane Daniel – ihn bald wieder loswerden will) und versucht es anständig. Bis er Tanja wiedertrifft, die sich als Prostituierte entpuppt. Weil er nicht anders kann und um sie zu beeindrucken und schließlich freizukaufen, verfällt er wieder auf sein altes „Talent“. Von Adolph mit sicherer Hand inszeniert, ist SO GLÜCKLICH WAR ICH NOCH NIE eine kleine, bestechende Tragikomödie, ernster und realer als GANZ NAH BEI DIR und doch ebenso unangestrengt.
Nadja Uhl hat – mal wieder – eine Paraderolle gefunden (aber sie kann ja sowieso spielen was sie will; man mag ja schon nicht mehr beeindruckt oder zumindest überrascht sein), und auch Devid Striesow überzeugt völlig mit seinem Changieren zwischen Aufrichtigkeit und Vortäuschung wie auch zwischen Schalkhaftigkeit und der ihn stets darin antreibenden Verzweiflung unter der Oberfläche. Sein Tricksen und Betrügen, das Schlüpfen in andere Rollen gerät fast krankhaft, aber der Film will ihm gottlob so nicht auf den Grund gehen: Ein klein Hinweis gibt es am Grab der Mutter, wo Frank und Bruder Peter sich von der Seele lachen, wie die Mama sie als Kinder gezüchtigt hatte. Und so bekommt man auch einen Hinweis auf Peters bisweilen manische Freundlichkeit und seinen Optimismus (auch Schüttauf ist mit seinen leicht wässrigen Augen treffend eingesetzt); die Nutte Tanja treibt ihr Prostituiertenspiel, wenn sie zunächst Frank „wiederkennt“ – kurz, es spielen sie alle Rollen in diesem Film, gaukeln anderen oder sich etwas vor, womit Franks Hochstapelei ein ganz universelle Bedeutung bekommt. Er, der Kriminelle und Kranke ist (und kann es nicht anders sein) in seinen Lügenspielen konsequenter, „echter“, fast aufrichtig wie ein Kind im So-tun-als-ob.
Lustig bis schrecklich witzig ist der Film, aber der Humor geht Hand in Hand mit einer Tragik, die nicht überbordend oder schicksalsschwer gerät und sich zugleich nicht weglachen lassen will. Am Ende darf man ruhig einen Kloß im Hals haben, und dann schließt SO GLÜCKLICH WAR ICH NOCH – wie ABSOLUTE GIGANTEN – im genau richtigen Moment.

RIMINI von Peter Jaitz: Das ist ein etwas schräges, trockenes – eben österreichisches Ding, auf HD gedreht. Um zwei Männer geht’s, deren Wege sich am Schluss kurz kreuzen: Alex (permanent genervt und fatalistisch: Andreas Winter) schmeißt seinen Projektleiterposten hin und streift lebensgeekelt, selbstverloren und bisweilen verhaltensauffällig durch die Stadt ohne mit sich selbst so recht auszukommen. In der Studentin und Kameraassistentin Anna (Sissi Noé) findet er eine Freundin, die er überzeugen will, über ihn einen Dokumentarfilm zu machen. Der Kriminalbeamte Hanis (Robert Reinagl) wiederum, außer Dienst seit er einen Verdächtigen gehauen hat (was prompt bei YouTube landet), ist privat auf der Hatz nach einer jugendlichen „Happy Slapping“-Bande. Die filmt sich dabei, wie sie arglose Passanten attackieren, um dies dann ins Internet zu stellen – und planen, da ist sich Hans (irgendwie, irgendwann) ganz sicher, was ganz Großes. (Auch von Alex und Hans landen den Film über Aufzeichnungen im Netz, eine nette Idee des Verwebens der Geschichten.)
RIMINI erzählt lakonisch bis maulfaul dahin, schert sich nur widerwillig ums Nachvollziehen, gar nicht um irgendwelche seelischen Innenräume und ist darin eine Wonne. Denn was Jainz eigentlich sagen oder worauf er hinaus will, ist nicht so klar. Man weiß nur, dass er ganz recht damit hat. Ein bisschen ein Film wie ein ewig mies gelaunter Freund, den man gerade deshalb so gern hat.

Nicht ganz rund erschien TAUSEND OZEANE von Luki Frieden trotz des wunderbaren Namens des Regisseurs und Drehbuchautors. Max Riemelt spielt Meikel (richtig, wie der englische „Michael“) der sich vom Vater und Autohausbesitzer Ulrich (Thierry van Werveke) missmutig in dessen Fußstapfen drängen lässt. Just als Vizechef der Belegschaft vorgestellt, wird Meikel von seinem besten Freund Björn (Maximilian Simonischek) „entführt“, auf die Malediven, wo sie einen Traumurlaub verbringen. Björn entschließt sich, da zu bleiben, Max fliegt heim, entschlossen, bald wieder den Kumpel zurück zu holen. Doch in der Heimat dreht er langsam am Rad, Mysteriöses passiert – und die recht schnelle Lösung (die der Film und Frieden selbst gar nicht als Pointe oder Plottwist verkaufen) ist, dass Max tatsächlich nach einem Autounfall im Wachkoma liegt. Die Malediven-Insel ist hier das Jenseits.



TAUSEND OZEANE ist fein gefilmt, mit einigen stilistischen Ideen, die originell bis unaufdringlich überzeugen (so die „Unschärfe“ in Meikels Blick oder die konsequente Draufsicht in der Rückerinnerung an die Kinderfreundschaft von Meikel und Björn). Doch der Film, der noch Familien- und schließlich schnell Sterbehilfedrama sein will, verzettelt sich in seinen Umschwüngen, TAUSEND OZEANE ufert aus. Steht am Anfang der – stets passive und daher wenig spannende – Meikel und sein schleichender „Realitätsverlust“, kippt die Perspektive nach der Enthüllung seines Zustandes nach außen – womit auf einmal auch das Surreale seiner Innenwelt überhand nimmt. Bei diesem Auf-den-Zuschauer-hin-Erzählen, dem der Blickwinkel zu folgen hat, gehen einem die Figuren etwas verloren. Auch, die (immerhin sehr filmische) Überdeutlichkeit, mit der erklärt wird, wie manche Realitätsfetzen von Meikels Unterbewusstsein wie inkorporiert werden, trägt nicht dazu bei, den TAUSEND OZEANEN mehr Tiefe zu verleihen. Freilich: Hauptdarsteller Max riemelt sich üblich-gekonnt durch den Film und der leider kurz vor der Premiere verstorbene Thierry van Werveke macht TAUSEND OZEAN sehenswert.

Als bester Kurzfilm wurde in Saarbrücken SCHAUTAG (2009) von Marvin Kren ausgezeichnet. Mit Johannes Allmayer, Eckehard Hoffmann und Anneke Kim Sarnau hochkarätig besetzt und vorzüglich gefilmt, erzählt er souverän und intensiv eine Geschichte, die durchaus für einen Langfilm gereicht hätte, so aber in 20 Minuten zugleich mustergültig ausgespielt wird.



Drei Handlungsfäden werden da versponnen: drei Jungs und ihre gefährliche Mutprobe, ein Autoverkäufer, der von Frau und Kind gedrängt wird, jemanden zu besuchen und ein älterer Herr, der sich im Keller ein altes Video anschaut. Alle Stränge kommen zu ihrem Recht, werden schließlich zusammengeführt (und zugleich doch nicht) und machen SCHAUTAG zum Shyamalan’schen Drama auf höchstem Niveau.

Den Kurzfilmpreis gewinnen hätte auch der Kurzfilm EDGAR (2009) dürfen, der neben SCHAUTAG vor allem in der Abgerundetheit an der Spitze der Kleinode lag, die vor den Langbeiträgen geboten wurden. Titelgebender Edgar ist Rentner, der sich unnütz fühlt, in einem Kaufhaus um Arbeit nachfragt und unfreiwillig zum Dieb wird, was im letztlich zugute kommt… Mit zwölf Minuten knapp halb so lang wie SCHAUTAG und weniger „groß“ in seiner kleinen, feinen Story-Idee bietet EDGAR dagegen in amüsanter und sympathischer „Verpackung“ ein ernstes Thema, dem hier so gerecht wird, wie es nur geht. Produziert haben EDGAR Tidi von Tiedemann und Dirk Wellbrock von Kontrastfilm in Mainz, geschrieben und inszeniert wurde er vom Schauspieler Fabian Bush. „Trotzdem“ (sprich bei allem Lokalpatriotismus und angesichts der – oft bestätigten – Vorurteilen gegenüber den Filmemacherfertigkeiten von Schauspielern) besticht der Film durch seine gewitzte Geschichte, die Inszenierung und natürlich Buschs Darstellerkollegen wie Wilfried Dziallas, Julia Brendler und Charly Hübner.



Auch wenn die Abschlussparty diesmal nicht in der dafür zu engen „Garage“, sondern im Congress Center (nach der dortigen Preisverleihung) mit dem Kuschligkeitsfaktor einer Waschstraße stattfand, war und bleibt das 30. Filmfestival Max Ophüls Preis ein alles in allem runder Geburtstag mit Ecken. Einer, von dem man – wie nach jeder zünftigen Feier – mit dickem Kopf und Bauch heimkommt. Und sich aufs nächste Mal freut.




Die Preisträger des Filmfestivals Max Ophüls Preis 2009 in der Übersicht

Max Ophüls Preis: UNIVERSALOVE (R: Thomas Woschitz)

Filmpreis des saarländischen Ministerpräsidenten: EIN AUGENBLICK FREIHEIT (R: Arash T. Riahi)

Darstellerpreis: SERGEJ MOYA

Darstellerinnenpreis: IRINA POTAPENKO

Kurzfilmpreis: SCHAUTAG (R: Marvin Kren)

Preis für den Mittellangen Film: TORPEDO (R: Helene Hegemann)

Dokumentarfilmpreis: ALIAS (R: Jens Junker)

Interfilmpreis: EIN AUGENBLICK FREIHEIT (R: Arash T. Riahi)

Preis der Schülerjury: KLEINER SONNTAG (R: Philip Ramspeck)

Publikumspreis: GANZ NAH BEI DIR (R: Almut Getto)

Filmmusikpreis: SO GLÜCKLICH WAR ICH NOCH NIE (R: Alexander Adolph)

Förderpreis der DEFA-Stiftung: EIN TEIL VON MIR (R: Christoph Röhl)

SR/ ZDF-Drehbuchpreis: DER ARCHITEKT (R: Ina Weisse)



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Der Filmkünstler Sebastian Linke


Meister der Mainzer Schule

von Bernd Zywietz

I.

Der Sammler steht in einem Keller und präsentiert der handgeführten Kamera die aufbewahrten gebrauchten Kondome in einem Schränkchen. Jedem ist eine Frau zugeordnet. Wobei eines der Präser den nachfolgenden Damen wie dem Sammler selbst – so erklärt dieser plötzlich ernst – das Leben gerettet hat.

Mit dem Aids-Aufklärungsspot „Der Sammler“ hat Sebastian Linke dieses Jahr den ersten Preis beim clip&klar-Wettbewerb der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gewonnen. Im Fernsehen war er daraufhin, in der Zeitung. Und gerade deshalb ist es fast schon billig, mit dem kleinen, schnodderigen und in dieser seiner Weise höchst gelungenen Film einen Bericht über Linke aufzumachen. Einfach, weil da mehr ist und war, schon vorher. Nicht nur in Mainz, aber auch dort oder besser: gerade hier.

Obwohl auch regelmäßiger Beitragslieferant für das Hamburger KurzFilmFestival ist Linke vor allem das, was man eine lokale „feste Größe“ nennen kann. Was soviel heißt wie: Mit ihm ist zu rechnen, auf dem FILMZ-Festival, Short Cuts oder dem Open Ohr Festival, auf dem er 2007 mit Gerald Haffke und „Das erste Mal“ den ersten Preis gewann.

Mehr noch aber ist Linke für Rheinland-Pfalz schlichtweg wichtig, weil er – bundes- oder weltweiter Erfolg hin oder her – jemand ist, den man (nun) stolz vorzeigen kann, der zeigt, was am Rhein möglich ist und auch geschieht, der aber zugleich als veritabler Kritiker auch in eben jene Richtung zielt. Linke kann mit Verve davon berichten, was hier prinzipiell schiefläuft. Das ist kein simples, wohlfeiles Lamentieren über zu kleine Fördertöpfe, sondern ein Verweis auf falsches Denken.

Das Problem, so der Autor, Regisseur, Produzent, Cutter u.v.m, sei, dass das sich selbst als Medienstadt verstehende Mainz samt dem Bundesland drumherum meint, sich in Sachen Film bei all seiner tatsächlichen Dimension zu sehr mit den Falschen, den Großen, messen zu müssen: mit Ludwigsburg, Berlin, mit Hollywood. Viele Entscheider in den Förderstellen und Auswahlgremien schielten entsprechend aufs Glatte, Gelackte und die kalkulierten inhaltlichen Trends, ohne zu erkennen, dass einerseits auch gewisse Filmhochschulen in Deutschland mit ihren technischen und finanziellen Möglichkeiten praktisch überfordert sind. Derweil – andererseits – sich im kleinen Mainz eine freie, authentische und spielerische Sprache entwickelt hat, die vor Ort schlichtweg nicht wahrgenommen wird. Sie hat das Zeug für einen eigenen anerkannten Stil, für Profil: Die Mainzer Schule – und Sebastian Linke selbst ist dafür Beleg und Repräsentant.

Solche Kritik klingt freilich immer erstmal nach chronisch missverstandener Künstlerei, der das Publikum zu dumm und die Förderer zu ignorant sind. Auch Linkes Plädoyer für gute Filmkunst als etwas, das offen sein darf, nicht alles erklären und bis zum Letzten durchkonzipiert sein muss, macht ihn dahingehend verdächtig.

Allerdings sind Linkes Filme allesamt zwar unterschiedlich ausgefallen, manchmal spröder, manchmal kalauernder, aber immer gelungen, sehbar und vor allem sehenswert – witzig und gewitzt.

Ein Einblick kann man sich auf der Homepage seiner Produktions„firma“ s-bust-show machen, auf der über dreißig seiner Filme zu sehen und dazu mit lohnenden Notizen versehen sind. Diese Anmerkungen, unterhaltsam geschrieben, geben Auskunft über die Entstehungsgeschichte und Realisierung der Filme, machen so das eine oder andere Manko verständlich (und den Film noch besser) und liefern nebenbei praktische Tipps, z.B. wie relativ einfach und doch verblüffend ein Gummiboot mit gekenterten Seeleuten auf hoher, sonniger See zu haben ist. Im trockenen Studio natürlich.





II.

Sebastian Linke, 1974 in Mainz geboren, studierte die letzten zehn Jahre an der Mainzer Kunstakademie, die er als Meisterschüler der Filmklasse nun verlassen hat. Mit familiärem Künstler-Background versehen, war für ihn klar, selbst auch die kreative Richtung einzuschlagen. Dass er nach einigen Irrwegen durch die Akademie und vorbei an ungeeigneten Dozenten schließlich beim Film landen würde, war eigentlich nur folgerichtig: Schon als Kind zeichnete und animierte er am Amiga 500 wie besessen Bilder und tobte sich mit Soundsamples aus.

Bildkreation, -bearbeitung und Montage, Tongestaltung und Musik, all diese Gestaltungstechniken fand Linke im und beim Film, den sinnvollen Rahmen dazu in der Filmklasse. „Film packt, fängt ein“, so Linke, eine Kunstform, die auf vielen Ebenen erzählt, welche sich wiederum multiplizieren.

Linkes Neugier gilt immer auch dem Blick auf die (Film-)Leinwand selbst. Er arbeitet, spielt und untersucht die Perspektive gegenüber des Films. Sowohl im Erzählen, als auch im Gestalten.

Der 10-minütige „Mangia“ (1998) persifliert nicht einfach nur die Elemente des Film Noir. Und „Carne Vale!“ (20 min., 2004), der brillante, spontan und schnell gedrehte Zombiefilm, in dem Untote guerillataktisch durch den Rosenmontagsumzug wanken und es damit zum eigenen DVD-Release schafften, ist nicht bloß einer der intelligentesten Beiträge dieses Horror-Genres, weil er dessen Regeln zelebriert.

Da klingelt es an der Wohnungstür, eine Figur öffnet. Keiner da. Ein Blick nach links und rechts den leeren Gang hinunter – und als die Figur den Kopf wieder geradeaus richtet, steht da – Buh! – plötzlich und unmittelbar vor ihr eine eklige Maskenfratze. Das ist nicht nur großartiger Mumpitz, effektiv und ungemein komisch, es zerlegt auch ganz konkret, leichthändig und ohne akademisch zu werden die Mechanismen der Manipulation und des film(künstlerischen) Blicks im Standard.

Was Linke wohl zum unseligen „Katze im Schrank“-Standard eingefallen wäre?

Allgemeiner und weiter geht er mit dem 3-minütigen Filmexperiment „the Art & the Audience“ (2005), das dem Kunstwahn nachgeht, genauer der leidigen Dauerfrage, ob, wie und wann Film Kunst ist und sein kann. In einer Reihe von „Einzelaufnahmen“ sind Besucher des Tages der offenen Tür (des „Rundgangs“ ) der Kunstakademie zu sehen, die im Rahmen einer Vorführung mit Irgendwas auf der Leinwand umzugehen versuchen. Tatsächlich hat Linke sie ohne nähere Angaben über Sinn und Dauer abwechselnd und ausschließlich schwarzen und weißen Bildern ausgesetzt – und dabei gefilmt. Ihre Reaktion auf dieser enervierenden Vorstellung wurde ihnen später vorgeführt. Mit deutlich gnädigeren Reaktionen.

Leider hat Linke, wie er selbst bemerkt, diese Präsentation nicht wiederum dokumentiert. Auch fehlt auf der Homepage noch der „echte“ Ausgangsfilm. Doch hier wie auch beim mit Gerald Haffke gedrehten „Gold“ (2008) wird deutlich, wie fatal eng Ulk und Ästhetik, Kunst und Kalauerei verwoben sind. Man kann auch sagen: wie Anspruch für sich und Aufklärung darüber hinaus doch auch und vor allem Spaß machen können und dürfen. Vielleicht gar: müssen.

Dem Erzählen selbst fühlt Linke folglich immer wieder auf den Zahn. Im „Heimatfilm“ „Rechts des Rheins…“ (2 min., 2004) lässt er einen Reiseführer einen genial doofen Mainz-Witz erzählen, der durch die reine Zelebrierung über sich hinausreicht. Auch findet sich bei ihm weiterer Pointenstoff wie „Wunschmaschien“ (2 min., 2003), eine Art Sketch auf höchstem „Badesalz“-Niveau oder dem frühen Horror-Thriller „Jesus zu Gast bei Gabi Schaf“ (30 min., 2003), bei dem – Achtung, Spoiler! - eine Frau dem mörderischen Wahnsinn verfallen ist, weil sie Jesus dereinst mit ihrem Cognac vergraulte. Empfehlenswerter noch ist das „Doku-Drama“ „Am Ende des Regensbogens“ (ca. 12 min., 2001), dessen Schluss vor allem im Wechselspiel mit seiner Gattungsform überrascht.

Neben diesen Pointen-Filmen finden sich bei Linke aber stets auch Meisterstückchen, die eine Art Auflösung verwehren und die gerade deshalb irritieren und verdutzen – schlicht weil man irgendwie das Gefühl hat, es müsse doch noch „was“ kommen (z.B. „Genesis“ (2005), „Babyshake“ (2006) „Das erste Mal“ ). Linke selbst sieht das anders: Alles, was zu sagen sei, sei eben gesagt. Und tatsächlich stehen diese Filme auf diese Weise als Erleben mehr und eindringlicher „für sich“ und bleiben so haften; ähnlich und doch jenseits eines Monty-Python-artigen Gags mit ohne Pointe. In diesen Situations- und Stimmungsfilmen, die weniger erzählen als miterleben lassen, ist Linke besonders in der immer etwas verkanteten Stimmung am besten. Alles ist witzig – so findet Linke. Man könnte auch sagen: Alles ist irgendwie – schräg.

Dazu passt die lebendige Kameraarbeit, die auf das Stativ verzichtet, um sich näher auf jenes Geschehen einlassen zu können, das sich vor ihr entfaltet. Das Zusammenspiel der Gestaltungselemente und Ebenen findet sich bei Linke – selbst Musiker – im Fluss von „Vis À Vis“ (3 min., 2001) und macht klar, warum er sich gut vorstellen kann (und sich dafür eignen würde), Musikvideos zu inszenieren.



III.

“Eine s-bust-show-Produktion“: das ist selbst bereits eine Sprachwitzelei mit Understatement. In ihr steckt jedoch eine Spur jenes bisweilen staubtrockenen Humors, dem in aller Ironie oder aber Freude am Absurden, am Surrealen oder dem reflektiert Plumpen und „Gefundenen“ bisweilen etwas Grimmiges innezuwohnen scheint. Etwas, das den Filmen Sebastian Linkes – bislang über 40 an der Zahl - eine ganz eigene Note verleiht. Unbehagen und Humor fallen bei Linke ohnehin manches Mal zusammen. Seine längsten Arbeiten, „Jesus zu Gast bei Gabi Schaf“ und „Carne Vale!“, widmen sich dem Unheimlichen – und so auch sein Abschlussfilm „Pilù oder das andere Leben” (24 min., 2007).

Für Linke bedeutet gutes Filmemachen, sich seinen vor allem auch technischen Möglichkeiten und Bedingungen bewusst zu sein. Daher auch der oft raue Charme der Filme. „Pilù“ zeichnet sich dagegen durch einen eher edleren, gleichwohl trügerischen Look aus. Der Film handelt von zwei nicht ganz unbedrohlichen Jugendlichen aus einer Drückerkolonne. Das Mädchen (gespielt von der eindrucksvollen Carolin Freund) und der Junge (Fabian Döring) landen bei einem etwas runtergekommenen Mann (Ulrich Cyran), der ihnen die alte Geschichte von der körperraubenden Hexe Pilù erzählt und beiden Unterschlupf gewährt...

Der Film führte Linke 2007 zum „Short Film Corner“ des Festivals in Cannes und wurde von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden mit dem „Prädikat Wertvoll” ausgezeichnet. In deren Begründung heißt es: Das „Umkippen des Films von einem modernen Vorstadtdrama in ein romantisches Schauermärchen gelingt dem jungen Filmemacher in seiner Abschlussarbeit mit altbewährten, dafür aber wirkungsvoll eingesetzten Mitteln. Die Räume wirken fremd, ihre Einrichtung passt nicht zu ihrem Bewohner und dieser wirkt, selbst wenn er bewusstlos zu Boden fällt, als würde er die Situation steuern und beherrschen.“

Das „altbewährt, aber wirkungsvoll“ schmeckt etwas unangenehm relativierend, und es gilt für „Pilù“ höchstens, wenn man ihn mit Linkes übrigen Filmen vergleicht. Tatsächlich zeichnet sich „Pilù“ durch etwas ganz Eigenes, Schräges unter der schönen (auf diese Weise nicht aber gelackten) Oberfläche aus. In dem Film geht es um mehr als nur „gut erzählen“, sondern darum, etwas Irritierendes in der sommerlichen Wohnsiedlung mitzuerleben, auf das man nie endgültig den Finger legen kann und vor allem nicht legen will.

Auch „Pilù“ zeichnet sich durch eine Pointe aus, fast einem Plottwist. Mag die Auflösung auch nicht gänzlich neu sein, gerät sie und damit der Film so originell und eindringlich, weil nicht alles explizit und auserzählt daherkommt. Als Zuschauer fröstelt man umso mehr, angesichts dieses eigenwillig direkten Blicks aus dem Augenwinkel.

Die Filmwelt ist Sebastian Linke mittlerweile zu klein geworden – zumindest, was sein geplantes Großprojekt „Das Akademion“ betrifft. Von einer Internet-Angelegenheit ist es über die Idee des überlangen Spielfilms nun zum Serienkonzept gereift. Inhalt: Der angehende Künstler Anton macht sich auf ins Königreich Akademion, wo ihn nicht nur fragwürdige Lehrmeister erwarten, sondern vor allem auch ein Endlager voller vergessener Kunstwerke aus allen Epochen und Herren Länder.

Mit dem „Akademion“ bleibt Linke sich im Sinne von „Gold“ & Co. treu: Nicht nur verspricht das Projekt mit seinem kaum zu bändigenden Potential, dem (Un-)Wesen der Kunst und ihrer Geschichte – auch lehrreich – auf den Zahn zu fühlen, sondern sich zudem ihren Betrieb zur Brust zu nehmen. Biographisch bedingte Seitenhiebe sind von Linke zu erwarten – und viel mehr dazu.

Produzenten, auf die „Das Akademion“ noch wartet, aber auch sonstigen Interessenten und einfach all jene, die ein wenig Zeit in sehenswerte Kurzfilme investieren oder in Kontakt mit ihrem „Macher“ treten wollen, seien noch mal auf die attraktiv aufgemachte Homepage Sebastian Linkes verwiesen:

http://www.s-bust-show.de

Dass er selbst nicht an die großen Filmhochschulen abgewandert ist (denn „da wollte schon jeder hin" ), sollte uns freuen.

Glück gehabt, Mainz.