Filmklassiker im Murnau-Filmtheater: "Sergeant Berry"

Wer sich für deutsche Filmgeschichte interessiert; oder einfach mal einen Hans-Albers-Film sehen möchte; oder mal sehen will, wie die deutsche Ufa amerikanische Genrefilme nachmacht: Der sollte sich am Freitag, 4. März, um 18 Uhr im Wiesbadener Murnau-Filmtheater "Sergeant Berry" von Herbert Selpin ansehen. Darin schlägt sich Hans Albers in typischer Actionstarmanier in Chicago mit Gangstern herum, ehe er an der US-mexikanischen Grenze einer Drogenschmugglerbande auf die Spur kommt.

Der Film läuft im Rahmen der Filmreihe "Filmklassiker entdecken! Aus den Beständen der Murnau-Stiftung", Harald Mühlbeyer wird in den Film einführen.


Sergeant Berry (Regie: Herbert Selpin, 1938)

Hans Albers in seiner Paraderolle als Draufgänger: Als Polizist lässt er in Chicago eine Gangsterbande auffliegen, dann legt er sich an der US-mexikanischen Grenze mit Drogenschmugglern an. Zudem muss er die Zwangsheirat einer schönen Mexikanerin mit einem Schurken verhindern.

Aus einem Gangsterfilm entwickelt sich ein Krimi mit Abenteuer- und Westernelementen – kurz: „Sergeant Berry“ bietet eine Art Panorama der amerikanischen Genrefilme, aus einer ausnehmend deutschen Perspektive inszeniert: Albers, der Abenteurer, spielt zwar einerseits lässig und mit typischer Schnodderschnauze, hängt aber andererseits an seiner respektheischenden Uniform und an seiner lieben Mutter. Action und Spannung werden so in ironische, beinahe parodistische Komik überführt. Und auch Albers’ Starimage wird lustvoll karikiert: All seine Erfolge hat er nur dem Zufall zu verdanken, und eigentlich will er nur zurück zu seiner Mama.
Zudem bietet der Film einen enormen Kaktus und Hans Albers beim Nacktbaden.


Die Filmreihe "Filmklassiker entdecken!", konzipiert von Harald Mühlbeyer, möchte auf deutsche Filmproduktionen aus den Jahren des Dritten Reiches aufmerksam machen, die es verdient haben, dem Vergessen entrissen zu werden.


Die weiteren Filme der Reihe, monatlich im Murnau-Filmtheater:


"Capriccio", Karl Ritter 1938

"Peter Voss, der Millionendieb", Karl Anton 1945

"Wir machen Musik", Helmut Käutner 1942

"Romanze in Moll", Helmut Käutner 1943

Grindhouse-Nachlese Februar 2011 – Gurke und Brood

„Vigilante“, USA 1983. Regie: William Lustig.

„The Brood“, Kanada 1979. Regie: David Cronenberg.


Boris Becker, der verehrungswürdige Kurator der Grindhouse-Filmreihe im Mannheimer Cinema Quadrat, hat mir, so empfinde ich es, einen persönlichen Gefallen getan. Eigentlich nämlich wäre ich bei der Februar-Doppelnacht gar nicht da gewesen, musste jedoch aus persönlichen Gründen meinen Berlinale-Trip vorzeitig abbrechen und konnte nun erleben, wie Becker bei der Zusammenstellung des Februar-Programms meinem Wunsch entsprochen hat: Ich hatte ihn im Januar – meine Abwesenheit im Februar antizipierend – gebeten, irgendwelche Gurken zu zeigen, die mich nicht interessieren würden. Und tatsächlich: „Vigilante“ aus dem Jahr 1983 von „Maniac“-Regisseur William Lustig ist ein wirklich schlechter Film, der auf den unteren Rängen der bisher gezeigten Grindhouse-Perlen rangiert: so schlecht, dass es nicht mal mehr Trash ist.

Die Story ist eigentlich ganz einfach, ein Selbstjustiz-Plot, aber sehr konfus und durcheinander erzählt. Am Anfang sehen wir Blaxploitationstar Fred Williamson, der seine Bürgerwehr einschwört auf den Kampf gegen das allgegenwärtige Verbrechen, gegen die Penner und Punks und Junkies, wegen denen man nicht mehr sicher über die Straße gehen kann, während Polizei, Justiz und Politik kläglich versagen. Wie es halt so ist, wenn’s um innere Sicherheit geht. Dann wechseln wir in ein Mietshaus, wo ein Bösewicht einer schönen Frau nachschleicht und sie auf dem Hausdach vergewaltigt und ermordet. Das Motto ist klar: wo etwas Schönes ist, sind die Schurken nicht weit, um es zu zerstören. Dessen eingedenk sehen wir eine Familienszene im Park, der Sohn spielt mit dem Modellflugzeug, der Papa, der Eddie Marino heißt, von Robert Forster gespielt wird und unschwer als künftige Hauptfigur erkennbar ist, verspricht der Mama, künftig weniger zu arbeiten und mehr für die Familie da zu sein. Und alsbald kommt eine grauslige Szene: Wie ein Mob drogengetränkter Gewalttäter ins Haus der Familie Marino eindringen, wie sie die Mutter jagen, den Sohn ermorden. In dieser Szene geht Lustig kompromisslos vor, geht den ganzen Weg von der Angst der Mutter über die Gewalt gegen Sachen bis zum Versteck des Jungen hinter dem Duschvorhang, dem einer mit Schrotflinte nachspürt, während die Mutter durch den Garten, zwischen all den auf der Leine aufgehängten Wäsche hindurchjagt, um Hilfe schreiend – doch niemand will es hören…

Das ist die beste Szene des Films, radikal durchgespielt bis zum bitteren Ende. Im weiteren Verlauf wird sich dann zeigen, dass Robert Forster kein guter Schauspieler ist, er kann nicht mal die einfachen, klaren Emotionen von Trauer und Wut in Eddie Marino darstellen. Mit immergleichem Gesichtsausdruck, ob vor dem Trauma oder danach, treibt er hilflos durch die Handlung. Der Sohn ist tot, die Ehefrau im Krankenhaus, schwer verletzt, er darf sie nicht besuchen. Der Anwalt des angeklagten Übeltäters ist korrupt, der Richter ein schmieriger Fiesling, die Staatsanwältin hilflos; und noch dazu führt die Handlung Eddie ins Gefängnis wegen Missachtung der Justiz, wo er prompt von zwei bulligen Bullies vergewaltigt werden soll. Wäre nicht Woody Strode in einer Nebenrolle, der ihm aus Gefälligkeit hilft.

Währenddessen geht die Handlung außerhalb des Gefängnisses, auf einem zweiten Gleis, weiter, mit einem Plot, der eigentlich gar nichts mit irgendwas zu tun hat, der aber den Film füllen soll, solange die Hauptfigur untätig im Gefängnis sitzt: Fred Williamson und seine Vigilantengang sind hinter den Dealern und Drogenhändlern des Viertels her, die böses weißes Pulver an Schulkinder verticken. Blutig blutig, wie sie sich immer weiter nach oben foltern, und oh, der eine Dealer schmeißt auch noch aus Spaß einen Gelähmten im Rollstuhl um! Williamson, Ex-Footballstar, hat noch genug Action in den Beinen, um den Schurken über diverse Dächer zu verfolgen und ihn dann zusammenzuschlagen.

Dann kommt Eddie raus, und er verübt ein paar Selbstjustizanschläge – jagt den Mörder des Sohnes über eine Baustelle und schmeißt ihn von oben runter, hat inzwischen auch gelernt, eine Autobombe zu bauen. Und dann hört der Film einfach auf, ohne irgendwelche dramaturgischen Fäden zu entknäueln, ohne irgendwas wirklich zu Ende zu führen. Ohne jemals Spannung erreicht zu haben oder so was wie Stringenz. Ohne etwas anderes als populistisch nach Lynchmob, Bürgerwehr und radikale Optimierung der inneren Sicherheit zu rufen – ganz offensichtlich ein Film der beginnenden Reagan-Ära.

Als zweiten Film zeigte Becker wieder mal einen Klassiker, den frühen David-Cronenberg-Film „The Brood“ von 1979. Der fängt schon mal gut an: Oliver Reed in einer theaterähnlichen Situation spricht mit einem nervösen Mann, in der Rolle von dessen Vater beschimpft er ihn, demütigt ihn böse – „Michael, du hättest besser Michelle geheißen!“ – und kitzelt so aus diesem die Gegenwehr-Reaktion gegen den Vater heraus: nicht nur verbal, auch körperlich, eine Art allergische Reaktion, wenn sich am ganzen Körper rote Pusteln bilden. Eine Demonstration des Psychiaters Hal Raglan, den Reed mit der ihm eigenen brütenden Contenance gibt, für seine selbstentwickelte Therapiestrategie, die er „psychoplasmics“ nennt.

In seiner Obhut auch Nola, die verstörte, gestörte, geschiedene Frau von Frank Carveth und Mutter der kleinen Candice. Frank entdeckt an Candice Spuren körperlicher Gewalt – hat Nola sie geschlagen und misshandelt beim gesetzlich geregelten Wochenendbesuch bei der Mutter in der Anstalt? Ah, man darf Nola das Kind keinesfalls vorenthalten, sie ist gerade in einer entscheidenden Phase der Therapie, wiegelt Raglan ab…

Als die Oma auf Candice aufpasst, wird diese dann von einem Zwergenwesen in rotem Kapuzenanorak brutal ermordet, Candice bleibt noch verstörter zurück, als sie ohnehin schon gewesen ist. Der rote Zwerg, geklaut offenbar aus Nicolas Roegs „Don’t Look Now“ / „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, verbirgt sich im Haus, tötet auch noch Candices Opa. Später treten die Wesen zu zweit auf, killen Candice’s Lehrerin, mit der Frank anbändeln wollte. Und spätestens jetzt ist klar, woher sie kommen: aus der Anstalt von Dr. Raglan…

Das ist durchaus spannend gemacht, ein schöner Horrorthriller, in dem Psychoanalyse, tiefe innere Wut, die Hilflosigkeit eines alleinerziehenden Vaters gegenüber dem Unerklärlichen, die tiefe, traumatische Verstörung eines kleinen Kindes, grausame Mütter und brutale Väter, die nie heilende seelische Wunden verursachen, ineinander verwoben werden. Und dazu, Cronenberg-typisch, körperliche Degeneration: die psychoplasmische Behandlungweise geht nicht nur die Seele an, auch der Körper reagiert, mit roten Pusteln, mit auswucherndem Kehlkopfkrebs – der aussieht wie Jahrzehnte später bei karibikverfluchenden Piratenkapitän Davy Jones; und mit außerkörperlichen Geburten, externer Brut-Gebärmutter, aus der fiese kleine Biester geboren werden…

Mit dem zweiten Film hat Boris Becker den miesen ersten wieder gut gemacht; ich kann schließlich nicht erwarten, dass die 40 anderen des Grindhouse-Stammpublikums mit gleich zwei Gurken an einem Abend abgespeist werden. Im nächsten Monat bin ich wieder offiziell dabei; und ich erwarte das Beste vom Schlechten.

Harald Mühlbeyer

61. Internationale Filmfestspiele Berlin, 10. bis 20. Februar 2011

Ein Berlinale-Bericht von Harald Mühlbeyer, unter anderem mit „The Unjust“, „The Stool Pigeon“, „Heaven’s Story“, „Jagadangchak: shidaejeongshin kwa hyeonshilchamyeo“ – und natürlich mit Bernd.


I. Bernd in Berlin

Wie leuchteten seine kleinen Äuglein so erwartungsfroh, als fielen Weihnachten, Ostern, Geburtstag und die Überreichung einer lebenslangen Freikarte für alle Kinos dieser Welt, bei freier Programmauswahl, auf einen Tag zusammen. Das erste Mal Berlinale: Das war für Bernd Z. (vollständiger Name der Redaktion bekannt) eine sichtliche Freude; und eine vollkommene Überforderung. „Ich bin das kleine Saarbrücken gewohnt!“, jammerte er schon bei unserer ersten Begegnung, und ach, wie unübersichtlich ist die Berlinale! Eine Herausforderung, ohne Zweifel; mit allen den vielen Filmen in gefühlten 47 Filmreihen, von denen der Wettbewerb, eigentlich das Kernstück, nur den geringsten Teil ausmacht. Berlinale Special, mit ein paar Filmen, die so was wie anspruchsvolles Entertainment darstellen, „The King’s Speech“ etwa, oder „Late Bloomers“, eine Komödie über und für die ältere Generation, mit Wettbewerbs-Jury-Präsidentin Isabella Rossellini in der Hauptrolle. Das Panorama, mit seinem schwul-lesbischen Schwerpunkt, mit all den Independent-Filmen, die Reihe, die eine Art Werkschau über das internationale Welt-Arthouse-Kino darstellen will. Das Forum für den jungen Film, mit all den Debütfilmen aus aller Welt, mit den formalen und inhaltlichen Experimenten. Die Perspektive Deutsches Kino mit dem Blick auf frische deutsche Kinofilme. Die doppelte Generations-Reihe, mit Filmen für Kinder und mit Filmen für Jugendliche. Das Kulinarische Kino, mit dem Berlinale-Chef Dieter Kosslick seinem Fetisch, dem leckeren Essen, huldigt. Lola@Berlinale, die Reihe für die internationalen Akkreditierten, die das deutsche Filmschaffen des vergangenen Jahres repräsentiert, mit all den für den Deutschen Filmpreis Nominierten. Und natürlich die Retrospektive, diesmal Ingmar Bergman gewidmet, „dem Vater von der Rossellini“, wie Bernd gekonnt kalauernd witzelte.

Da kann man als Berlinale-Erstling leicht verloren gehen. Am ersten Abend schon lernt man seine Lektion, wenn die Ellenbogen allzu sehr eingefahren bleiben und das Drängeln noch nicht zur vollendenten Kunst gereift ist: Dann kann es passieren, dass man nicht mehr in den Panorama-Eröffnungsfilm reinkommt. Und natürlich gibt es auch gewissen Vorführungen, die nur für die Tagespresse-Akkreditierten vorgesehen sind: auch das ist eine Sache der Erfahrung.

Zum Glück bin da noch ich. Und kann Hilfestellungen geben, so weit die Kräfte reichen. Es ist eben auch so: man begegnet sich ja kaum, und wenn, dann nur in schnellem Lauf vom einen ins andere Kino, vom einen in den anderen Film – und das ist meist nicht der, den der Kollege besuchen möchte. Also schnell einige Ratschläge hingeworfen, Brocken, die zu kauen und zu verdauen allein Bernds Sache sind: im Vorhinein einen Plan erstellen, sich strikt dran halten! Schon morgens auf zack sein, denn früh, vor der ersten 9-Uhr-Pressevorführung, gibt es unten im Pressebereich noch die gesamte Zeitungsauswahl der Republik, nicht nur B.Z., Berliner Kurier und Neues Deutschland, die auf der Beliebtheitsskala der Journalisten auf derselben niederen Stufe stehen, auch TAZ, Berliner Zeitung, Berliner Morgenpost, Tagesspiegel, F.A.Z. und erstmals die Süddeutsche liegen noch aus, bevor die Pressemeute in großem Schwalle alles wegschnappen. Von den Berlinale-Specials der Branchenblätter Variety, Screen, Hollywood Reporter ganz zu schweigen.
Und nein, lieber Bernd: die rosa Zettel mit den Strichcodes fürs Kartenholen – was auch Journalisten in einigen Fällen tun müssen, in welchen, das steht wieder auf einem separaten orangenen Zettel, den man am besten auswendig lernt –, die Zettel mit den Strichcodes muss man nicht den ganzen Tag mit sich rumschleppen. Im Gegensatz zu den anderen rosanen, zu den hell- und zu den dunkelblauen Zetteln, auf denen jeweils die Pressevorführungstermine von Berlinale Special, Forum und Panorama verzeichnet sind. Während die Wettbewerbspressevorführungstermine dem offiziellen Programmheft zu entnehmen sind, die PVs der Perspektive Deutsches Kino dem Timetable-Flyer „Deutsche Filme“, in denen auch die nur für Akkreditierte zugängliche Lola@Berlinale-Reihe zu finden ist. Um einen chronologischen Überblick der täglichen Vorführungen zu erhalten, empfiehlt es sich, einen Tipp Berlin zu erstehen, mit dem Berlinale-Planer; darin natürlich keine Presse- und Akkreditierten-Screenings...

Bernd hat alles tapfer ertragen, und ja: ich habe ihn tatsächlich in Filmvorführungen gesehen, ja sogar in solchen, die er sich vorher ausgesucht hatte, nicht nur in irgendwelchen Zufallskinos, wo grad die Türen offenstanden und die Aufpasser nicht so richtig aufpassten... irgendwann hat er es geschnallt, wann und wie er zu welcher Tageszeit in welchem Kino in welchen Film darf. Freilich, die Hauptsache war etwas schwierig für ihn: dass man auf der Berlinale auf jeden Fall von morgens bis nachts in Filme gehen soll, aus moralischem Anstand, als Akkreditierter hat man eine Verpflichtung. Wie oft aber hatte ich ihn angerufen, und er war gerade – zu frühabendlicher Stunde! – zu Hause, und nicht genug damit: einmal war er gerade auf dem Weg zum SPORT!

Er wird es noch lernen; irgendwann. So ganz alt ist er noch nicht, der kleine Bernd auf der großen Berlinale.


II. Blick nach Asien


Immerhin hat er alsbald verstanden, um was es geht: Filme gucken und über Filme schreiben, und das hat er fleißig getan, der Bernd, unser frisch gebackener Mitarbeiter des Monats. Während ich anderweitig damit beschäftigt war, bei der kommerziellen Konkurrenz meine An- und Einsichten blogmäßig zu verbreiten.

Weil Bernd hier bei Screenshot schon so viele Filme besprochen hat, bleibt für mich nur eines: andere Filme besprechen. Beispielsweise die paar ostasiatischen, die ich gesehen habe.
Die Erfahrung lehrt: In den letzten Jahren waren es meist die Asiaten, die im Gedächtnis blieben, im letzten Jahr „Golden Slumbers“ – nie mehr was davon gehört - , zuvor „Love Exposure“, zuvor Johnny Tos „Sparrow“ oder der To-produzierte Beschattungs- und Überwachungsthriller „Eye in the Sky“. In diesem Jahr… nun: wenn man sich bewusst auf die Suche macht, dann sind die Entdeckungen keine Überraschungen mehr, und das individuell-bizarr-spannende Moment des unerwarteten Schatzfundes entfällt.
So vermischen sich im Gedächtnis die beiden Genrefilme „Bu-dang-geo-rae“ / „The Unjust“ (Korea, Regie: Ryoo Seung-wan) und „Xian Ren“ / „The Stool Pigeon“ (Hongkong/China, Regie: Dante Lam) zu einer Einheit, was natürlich ungerecht ist: Beide Filme sind sich kaum ähnlich, haben ihre je eigenen Qualitäten, und doch fehlt jeweils das Spezifische, das sie zum unverwechselbaren, unvergesslichen Meisterwerk machen würde – was auch immer dieses Charakteristische der Genialität sein möge…

„The Unjust“ – wenn ich mich recht erinnere – ist ein Actionthriller mit starken komischen Momenten; dass wenig gelacht wurde, irritierte den Regisseur im anschließenden Q&A etwas, liegt aber weniger an einem anderen Humorverständnis in Europa als an der Unmöglichkeit, gleichzeitig einer schnellen Bildfolge, einer komplizierten Handlung und englischen Untertiteln zu folgen und dabei noch zu lachen. Es geht um einen Polizeikommissar, der beste seines Fachs, und einen Staatsanwalt auf der Karriereleiter. Beide werden von konkurrierenden Bauunternehmern gesponsort, sprich: bestochen, und ihre Wege kreuzen sich verhängnisvoll, als der Kommissar auf den Fall eines Serienkillers gesetzt wird. Schnelle Ergebnisse sind gefragt, und so pickt er sich eher willkürlich, nach Verdachts-Wahrscheinlichkeit, einen der Verdächtigen heraus und lässt seinen persönlichen Bauunternehmer – sprich: Gangster – aus diesem ein Geständnis herauspressen. Das wiederum bekommt der Staatsanwalt mit, der nun etwas gegen den Rivalen bei der Polizei in der Hand hat – gefälschtes Geständnis, ein Strohmann, der sich als der lange gesuchte Täter ausgibt –, während wiederum der Kommissar dem Staatsanwalt wegen dessen tiefgreifender Korrumpierbarkeit ans Bein pinkeln kann. Ein komplexer Zweikampf der beiden ist das, auf verschiedenen Ebenen von Heuchelei, Drohung, direkter Attacke und gegenseitigen Bestechungs- und Beschwichtigungsversuchen. Und das ganze inszeniert mit sehr trockenem Humor: Bestechungen in immer gleicher Form etwa, mit gutem Essen, einer kostbaren Uhr und einer bezahlt-willigen Geisha wird Wohlwollen erkauft, was zu subtilen Machtspielchen führt: indem man die Geschenke brüsk abweist und sich damit über den anderen erhebt; oder indem man sich alle Kleider vom Leib reißt, um demütige Unterwerfung anzuzeigen. Der Film ist ein großer Spaß, spannend durch und durch; wird er jemals in Deutschland erscheinen?

„The Stool Pigeon“ ist auch ein Polizei-Action-Thriller, freilich ohne Humor, dafür mit tiefer Fatalität. Wie gefährlich Polizeispitzel leben, die in eine Gangsterbande eingeschleust wurden, zeigt der Eröffnungsprolog: die Tarnung fliegt auf, der Gangsterboss und seine Meute sind hinter dem Spitzel her, und sie haben Macheten… Das stürzt den Verbindungs-Kriminaler in einen tiefen moralischen Zwiespalt. Monate später muss er wieder einen V-Mann unterbringen, ein bekannter Gangster ist in der Stadt, er hat etwas vor; und fortan läuft der Film geschickt zweigleisig, als Copmovie, wenn es um den Kriminaler geht, als Gangsterfilm, wenn die Innenansichten der Bande gezeigt werden, in der als Spitzel ein junger Heißsporn fungiert. Der ist zudem Meister bei illegalen Autorennen, was ein paar schöne Verfolgungsjagden generiert; und die Braut des Gangsterbosses verguckt sich in ihn. Während der Kommissar sich kümmert, soweit er kann: da sind große bürokratische Fisimatenten, eine Menge Formulare, bis die Bezahlung – unter der Hand, aber offiziell verbuchbar – für den Spitzel genehmigt sind. Doch die Ethik und deren Dehnbarkeit – einen Ex-Kriminellen mit hohen Schulden und einer Schwester, die auf den Strich getrieben wird, zur Spitzeltätigkeit zu zwingen und im Notfall keine Handhabe zum Eingreifen zu haben –: die ist nicht durch Formulare, durch Vorschriften und verantwortliche Vorgesetzte abgedeckt. Spannungen innerhalb der Bande – Gier, Eifersucht, Verrat und Verdacht – und Spannungen zwischen Polizist und Spitzel – Misstrauen, gewollte emotionale Distanz bei notwendiger professioneller Nähe – bringen starkes Suspense und harte Action. Und nur in den allzu übertriebenen und zu stark betonten Backstories insbesondere des Kommissars – der sich um den zu Anfang halbtot gemetzelten, nun wahnsinnigen Ex-Spitzel kümmert und zugleich seiner Frau nachspürt, die das Gedächtnis verloren hat und ihn nurmehr als Fremden ansieht –, aber auch des Spitzels, der die Gangsterbraut schon von früher kannte, stören ziemlich; werden aber vom Rest der Geschichte rückstandslos verdaut.

„Love Exposure“, Sono Sions meisterliches Grotesk-Epos von der 2009er-Berlinale, hatte knapp 240 Minuten gedauert; „Heaven’s Story“ (Japan, Regie: Takahiza Zeze) legt noch 40 Minuten drauf, und die Filmlänge stört kein bisschen. Freilich fehlt es dennoch an Stringenz, gerade im Vergleich zu „Love Exposure“ – obwohl deren einzige Gemeinsamkeit die Filmlänge ist.
Doch so richtig los geht es bei „Heaven’s Story“ eben erst nach anderthalb Stunden, wenn sich die verschiedenen Handlungen des Films miteinander verknüpfen; davor schien der Film vor allem aus einer Aneinanderreihung von Kurzfilmen zu bestehen, von dem Mädchen, dessen Familie abgeschlachtet wurde, woraufhin der Mörder Selbstmord beging und das Mädchen um seine Rache brachte; von dem Familienvater, dessen Familie gekillt wurde, wobei der Mörder aber der Todesstrafe entging, woraufhin der Hinterbliebene ewige Rache schwor; vom Polizisten, der im Nebenjob ein Killer ist, ein sanftmütiger und freundlicher freilich; von der Rockmusikerin mit Borderline-Psychose. Irgendwann, Jahre später, ist das Mädchen, das die Familie verloren hatte, erwachsen, spürt den Familienvater, der die Familie verloren hatte, auf, und erinnert ihn daran, Rache zu nehmen. Er, inzwischen wieder verheiratet – mit der inzwischen domestizierten Rockerin –, will davon zunächst nichts wissen, lässt sich aber dann doch darauf ein: eine Stellvertreterrache, er spürt dem inzwischen verlassenen Mörder nach, aber nicht zur eigenen Befriedigung, sondern zu der eines Opfers, das keine Rache mehr ausüben kann… Ab da geht der Film seinen Gang, die Geschichten verzahnen sich ineinander, auch der Mörder bekommt ein menschliches Gesicht; und nur die Story vom Polizisten / Killer wirkt etwas angepappt, hat eigentlich nichts mit dem Rest zu tun.
Die Länge, der Spannungsbogen, der sich auftut, wenn man die ersten 90 Minuten geschafft hat, die Stories um Rache und Mord, um Vergebung und Veränderung haben eine starke emotionale Kraft. Gestört allerdings wird die von der unglaublich nervösen Handkamera des Films, für die ich keine ästhetische Rechtfertigung finde. OK: die Zuckungen, wenn die Kamera eigentlich stillsteht und gewollt über intensives Zittern das aufgewühlte Innenleben der Figuren nahegebracht werden soll, hat ja noch eine gewisse Legitimation (auch wenn’s hier übertrieben ist). Doch gerade die Seitwärtsbewegungen der Kamera, von Hand geführt, sind überaus störend; von der Bewegung her ist das ein sanftes Gleiten, ein Fließen, das immer wieder leitmotivisch für die Schauplätze des Films verwendet wird – eigentlich eine klassische, ruhige Etablierung des Handlungsortes, das hier aber mit größtem Geruckel vor sich geht, wie man es von Dogma 95 kennt. Zwei ästhetische Konzepte beißen sich da; und das muss man 278 Minuten aushalten.
Der Film ist dennoch sehenswert, wenn auch mit Abstrichen – er wird, wie mir aus berufenem Munde beschieden wurde, beim diesjährigen Frankfurter Nippon-Connection-Festival laufen.

Der lustigste Film der Berlinale war „Jagadangchak: shidaejeongshin kwa hyeonshilchamyeo“ / „Self Referential Traverse: Zeitgeist and Engagement“ (Korea, Regie: Sun Kim), bei dem man sich wünschte, selbst Koreaner zu sein, um alles kapieren zu können. Der Film ist ein laut schreiendes Pamphlet gegen die Regierung, gegen Politik allgemein, und im Besonderen gegen ein Vier-Flüsse-Kanalbauprojekt des Präsidenten, das zu Anfang in Form einer albernen Sitcom-Situation haarscharf auseinandergenommen wird, um angereichert mit diversen überzeugend und überzeugt vorgetragenen Verschwörungstheorien zum zwingenden Schluss zu kommen, dass der Präsident bei Wasser Glück, bei Feuer Pech habe. Klar, dass er da lieber Kanäle baut als ein Feuerwerk abbrennt.
Weiter geht es mit einem unglaublich stümperhaften Trailer für einen Film, den wir niemals zu sehen bekommen – ich kann mich gar nicht mehr erinnern, ein Männlein überfällt weißgekleidete Frauen im Wald mit Martial-Arts-Moves; dann kommt, auch das völlig ohne Zusammenhang, der Hauptteil des Films, der den schwierigen Alltag des Polizeimaskottchens Podori beschreibt, auf billigem Video aufgenommen, absichtsvoll mit Bildkratzern versehen, Puppentrick, bei dem auch echte Menschen auftreten, bei dem all die Schnüre, ja: Seile offen zu sehen sind, mit denen Podori bewegt wird; und der Mann, der hinter ihm hockt und ihn auf die Straße schiebt, verbirgt sich kaum. Alles ist vollkommene Farce, grotesker Dilettantismus, und für Nicht-Koreaner völlig unverständlich. Ratten zernagen Podoris Wohnung, und insbesondere auf sein Unterteil, die Styroporbeine, haben sie’s abgesehen, die Podori bei einem früheren Einsatz – offenbar bei heftiger Polizeigewalt gegen Demonstranten – abgefallen sind.
Auf diverse Arten bekämpft er die Ratten, zwischendurch erhofft er sich per Yahoo-Mail Kontakt mit seinem Vater, in der Nebenwohnung wohnen Mama Staat und Papa Regierungspartei, die er so liebt und die ihn regelmäßig vor die Tür weisen. Ein Mädel im unteren Stock spielt Flöte und macht ihm sexuelle Avancen, gibt ihm einen bepimmelten Unterleib, um damit zu spielen, und ist sauer, weil er lieber wieder zurückkehrt, um die Ratten und deren Freunde – offenbar oppositionelle Protestler – brutal zu verkloppen. Und so weiter.
„No Thanks to the Ruling Party“ heißt es im Abspann anstatt eines Dankeschön-Credits, und auch wenn man konkret nichts kapiert: abstrakt versteht man, dass es um puren Anarchismus geht, um reine Lust an der Zerstörung von Handlung, Stringenz, Botschaft und Moral. Und das auf irrlichternd witzige Weise, mit größter Selbstironie – wenn man gegen alles ist, ist man auch gegen sich selbst – und vollkommen ohne Netz und doppelten Boden. 60 Minuten Spaß, Verwirrung, Verstörung, Unverständnis und Vordenkopfgestoßenwerden: das ist es, was Film leisten kann und vielleicht auch sollte.


Harald Mühlbeyer

BERLINALE 2011: WER WENN NICHT WIR (D 2011)

(Wieso) So und nicht anders?


(Von unserem Partnerdienst Terrorismus & Film)


Auf den 61. Internationalen Filmfestspielen in Berlin hat Andres Veiel gerade mit seinem Spielfilmdebüt WER WENN NICHT WIR den Albert-Bauer-Preis gewonnen. Verliehen wird diese Auszeichnung für die Eröffnung neuer Perspektiven der Filmkunst. Das ist fast schon ironisch, denn vor fast zehn Jahren, 2002, hat Christoph Roths für BAADER diesen Preis bekommen, ein anderer „RAF-Film“ (wie WER WENN NICHT WIR zu unrecht bei 3SAT bezeichnet wurde) – und einer, der diese Prämierung weitaus mehr zustand.

Zur Erinnerung: BAADER war eine bestechend unbekümmerte, wüste Collage- und Kolportage-Nummer über die RAF-Rebellenikone Andreas Baader, die zum Höhepunkt den RAF-Frontmann nicht in Frankfurt a. M. verhaften, sondern im Kugelhagel der Polizei sein hollywoodreifes Ende finden ließ, natürlich mit Zeitlupe. Und WER WENN NICHT WIR?

Andres Veiel hat bislang mit Dokumentarfilmen auf sich aufmerksam gemacht, vor allem dem Doppelporträt BLACK BOX BRD über Deutsche-Bank-Sprecher und RAF-Opfer Alfred Herrhausen und das in Bad Kleinen erschossene RAF-Mitglied Wolfgang Grams (andere Dokumentationen Veiels sind DER KICK oder DIE SPIELWÜTIGEN). Mit WER WENN NICHT WIR nimmt er sich einem Thema an, das, wie er meint, bislang in Sachen deutscher Linksterrorismus zu kurz gekommen ist, einem Wegabschnitt der Radikalisierung, die gerne vergessen wird – vor allem im Kino. Es ist die „Vorgeschichte“ der RAF, genauer: die von Bernward Vesper, Gudrun Ensslin und Andreas Baader, gemäß der Dreierbiographie von Gerhard Koenen von 2003 (Versper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus).

Dass Versper nicht in den Untergrund ging und zur Gewalt griff, macht dieses Dreieck besonders spannend. Zu Recht verwies Veiel bei der Berlinale-Pressekonferenz auf das „Nichtvorherbestimmte“: der Stoff mit seinem Zeitabschnitt (oder umkehrt, die betrachtete Zeit und die Lebenswege der historischen und filmfiktionalen Figuren darin) zeigen die Wiedersprüche, die Alternativen, gibt Raum für das alternative „Was-wäre-wenn-gewesen“. Doch langt das? Ist sich der Film damit genug?

Bleiben wir zunächst beim Film selbst.

Ein Nest mit niedlichen Vogelkindern darin. Schnitt auf eine Katze, die heranschleicht. Während die Titel laufen, fallen dem Räuber eines der Tierbabies zum Opfer. Entsetztes Einatmen im Vorführsaal. Natur ist grausam. Bernward Vesper als Junge will die Katze retten, seine Katze. Versteckt sie. Denn sein Vater hat ihm perfide erklärt: nicht seine, Bernwards Schuld sei es, sondern die der Katze selbst, an sich, sie sei das Problem. Sie kommt aus dem Orient. Sei der Jude unter den Tieren.

Bernwards Vater ist Will Vesper, erfolgreicher Blut-und-Boden-Literat des Dritten Reichs, ein von Thomas Thieme als dicker, latent brutaler oder zumindest wenig sympathischer weil un- oder falschherzlicher Vater dargestellter Mensch. Er ist der Übervater, der, den Bernward hassen und vergöttern stets wird, dessen Aufmerksamkeit und Gunst er sich ersehnt, derweil ihn seine Weltsicht und Nazi-Verstrickungen bzw. -Texte abstoßen. August Diehl spielt den erwachsenen Vesper mit einem stetigen Zuviel und Zuwenig an Vater, der fragile, bleiche Diehl mit hohlen Wangen und schattigen Augen, übersensibel, immer zu lebensuntauglich, verfangen zwischen Dekadenz und Schwindsucht.

In Tübingen lernt er als Literaturstudent Gudrun Ensslin und ihre Freundin kennen, bandelt erst mit der Freundin an, dann wird eine ménage à trois draus; schließlich bleibt Vesper an Gudrun hängen und sie an ihm. Er verteidigt seinen Vater gegenüber seinem Professor, dem berühmten Walter Jens, baut mit Gudrun einen kleinen Heimverlag auf, um die Werke des – nun toten – Vaters neu zu publizieren, ein Aufgabe, die er praktisch auf dem Totenbett geerbt hat (ja, so deutlich meint der Film, werden zu müssen).



Lena Lauzemis (im echten Leben mit einem hinreißenden Berliner Dialekt gesegnet), auf der anderen Seite, spielt die junge Gudrun mit Verve und eindrücklich, stets auf der Kippe zwischen Labilität und Unbedingtheit; sie allein trägt praktisch den Film. Sie behauptet sich gegen ihren Vater, einem Pastor, der selbst in der Wehrmacht war und sie nun rügt, Vespers Literatur neuaufzulegen – derweil Bernward in der Kleinbürgerstube mit zu Besuch ist. Die Gedankenstrenge ist der Gudrun aber keine des Intellekts (allein). Die junge Frau ist eine versehrte Seele wie Bernward, und wendet sich dabei in einem ziellosen Akt der Gewissensstrenge auch gegen ihren eigenen Körper. Setzt sich nackt auf Glas, läuft grimmig durch die Straßen mit den Fingerknöcheln der geballten Faust an den Häuserfassaden entlang.

Es ist tatsächlich ein vielschichtiges Porträt, das Veiel von Gudrun Ensslin in WER WENN NICHT WIR zeichnet, eines, das auf die Formung und Herausforderungen der Zeit, ihrer Sitten und Konventionen zur Identität- und Charakterbildung mit einbezieht. Eines, das aber trotzdem nicht aufgeht (s.u.). Auf der Universität siezt man sich noch, der Kuppelparagraph kriminalisiert das Liebesleben von Unverheirateten. Doch immer mehr bricht das auf, auch die politischen Zeiten, Vietnam, Kennedy, die Black Panther künden vom Auf- und Umbruch; die Haare werden länger, kulturell und soziale Experimente erfolgen, Widerstand. Politisierung geschieht. Dazwischen das Auf und Ab in der Beziehung von Vesper und Ensslin, Verlobung, Affäre, Krise im Verlag, eine neue Ausrichtung, „linke“ Buchprojekte gegen das atomare Wettrüsten. Geraucht wird viel, getrunken immer mehr. Gudrun und Vesper ziehen nach Berlin, örtliches Synonym für Alternative und Freiheit; sie bekommen einen Sohn, Felix. Vesper heuert in einem engagierten Verlag an, Ensslin engagiert sich selbst, im Umfeld der Kommune 1. Und lernt dort Andreas Baader kennen.



Erst spät tritt dieser Teufelskerl auf, der exaltierte, virile und immerzu leicht herrisch-unzurechnungsfähige Tatmensch, ein Gegenentwurf zum blassen grübelnden welt- und ich-leidenden Vesper, der selbst immer mehr den Halt verliert. Im alten Kinderbett daheim liegt er und schmiert an die Wand; seine Mutter muss ihn im Schlafanzug aus dem kalten Badewannenwasser retten. Immer mehr fehlt ihm der Halt, der Verstand. Sein großes irrlichterndes Werk Die Reise wird abgelehnt. Gudrun kann er nicht halten, sie geht, verlässt ihn und das Kind. Brandstifterprozess, Verurteilung, Flucht, Untergrund – der Rest ist Geschichte.

WER WENN NICHT WER sollte zunächst ein Dokumentarfilm werden, doch Veiel hat ihn als Spielfilm erzählt, einen durchaus beachtlichen. Der Unterschied zwischen der Dokumentarfilmarbeit und der des fiktionalen Kinos? Die meiste Vorbereitung, so Veiel, sei bei ersterem die die Recherche (die auch hier beim Spielfilm wichtig war) und die Mühe, die Menschen vor die Kamera zu bekommen. Hier nun war es umgekehrt: Das Entwickeln und Erforschen der Figuren erfolgt, nachdem das Buch stand, zusammen mit den Schauspielern bei ausgeprägten Proben und vor der Kamera.

Allerdings gibt es auch große Schattenseiten, die den Film an sich und ihn in seinem Kontext als Film zur Vorgeschichte der RAF betreffen und manche, die Veiel als Veiel vorzuhalten sind. Sicher, es gibt einige Momente im Film, die sind schlicht großartig, weil sie in der Fiktion eine ganz besondere Wahrheit aufscheinen lassen und intensiv spürbar machen – so wenn Diehl als Vesper im Frankfurter Brandstifterprozess aussagt: Während er voller politischer Inbrunst seine Verlobte und ihre Tat verteidigt, ignoriert die ihn auf der Anklagebank, schäkert, lacht, flüstert mit Baader. Mit einem verletzten Seitenblick nimmt das Vesper zu Kenntnis; und schon während seiner Rede ist ihre (oder seine) Vergeblichkeit, die seiner Bemühung um Gudrun, aber auch das Ideal des Politisch-Moralischen schmerzlich bewusst geworden. Eine Konstellation, das Geschichtliche und Private, ein Blick, so deutlich kann die Fiktion werden. Der Kampf wird Vesper woanders stattfinden, ohne ihn, und er selbst wird Gudrun nicht mehr zurückgewinnen oder eine eigene Freiheit, einen eigenen Kampfplatz finden. Vesper, die Hauptfigur des Films, ist ein Vergeblicher, der zwischen seinen Schmerzpolen und den großen Auseinandersetzungen, die begonnen haben, innerlich und sozial zerrieben wird. WER WENN NICHT WIR wird mit ihm ein Film über eine Geschichte, die zu Ende ist, ehe die große Historie richtig anfängt.

Das große unmittelbare Manko des Films ist Baader, der erst in der siebzigsten Minute auftritt und von Alexander Fehling schwachbrüstig, lediglich gespielt wird. Als Studenten-Halodri in 13 SEMESTER oder als Zivi in einer polnischen KZ-Gedenkstätte in Robert Thalheims AM ENDE KOMMEN DIE TOURISTEN überzeugte er, hier jedoch wirkt es, als wäre ein Daily-Soap-Akteur engagiert worden, um Robert De Niro zu geben. Was Gudrun an diesem Lackel findet, der aus dem Nichts auftaucht, selbst keine Vorgeschichte mitbringt, wird nicht klar oder nur erahnbar. Er ist nur eine vernachlässigenswerte und vernachlässigte Nebenfigur, eine Chiffre, wie wir sie zu oft gesehen haben.



Generell aber bietet WER WENN NICHT WIR erschreckend wenig Neues, schon gar nicht in Sachen „neue Perspektiven der Filmkunst“ – und überhaupt. Schön, Ensslins und vor allem Vespers Vorgeschichte ist noch recht unterbeleuchtet, aber immerhin hat es schon DIE BLEIERNE ZEIT gegeben, und auch wenn darin die Ensslin-Schwestern Erwachsene sind, erfährt man doch mehr und erhält komplexere Einsichten in die Radikalisierungsprozesse gerade über die Brüche und das Unerklärte als in dem vordergründigen WER WENN NICHT WIR. Veiel, der schon lange, schon in Saarbrücken und auch in Berlin nicht müde wird, auf die sattsam bekannten Bilderbögen zu verweisen (und deren Verwendung zu kritisieren), die typischen Aufnahmen, die gerade DER BAADER MEINHOF KOMPLEX nutze und reinszenierte und die die RAF als Kausalfolge von Vietnam-Protest und Anti-Shah-Demo, von Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke etabliert – Veiel setzt zwar früher an, gewinnt dabei aber entsprechend wenig, sondern gibt viel auf. Auch er kommt nicht umhin, den Brandstifterprozess zum x-ten Mal nachzustellen, nur, dass es statt Dutschke eben Langhans und Co. mit ihren Aktionen ist. Es mag blasphemisch klingen, vor allem für Veiel, der den Film kritisiert, doch letztendlich ist WER WENN NICHT WIR kaum mehr – zumindest nicht hinsichtlich seines Charakters als Historiendrama mit schönen Kostümen und originalgetreuer Kulisse – als Edels und Eichingers DER BAADER MEINHOF KOMPLEX; seine Vorgeschichte.

Sicher, die Figuren sind tiefer, viel- oder eher: mehrschichtiger, aber so viel nun auch nicht, insofern sie gedrittelt erscheinen: ein Teil gehört ihnen, als Charaktere mit Problemen und Dissonanzen. Ansonsten aber werden sie genutzt, um die Zeit zu spiegeln, sich und uns geläufige Meinungen, Ansichten und Positionen zu sagen und, drittens, die Vorgeschichte der RAF als Vorgeschichte der RAF zu etablieren, und sei es nur kontrastiv. Entsprechend ist WER WENN NICHT WIR weniger ein Gegenentwurf zu den altbekannten Geschichten zur RAF und ihrem Stil, sondern schlicht nur eine Ergänzung, die mit dem gleichen Produktionsaufwand und seiner Autoritätsbehauptung auftritt und auch hier durch die Geschichte huscht wie der BMK. Statt der „Fetzendramaturgie“ Eichingers, wird hier nur einem Psychologismus gehuldigt, der bei genauerem Hinsehen auch nur etablierte Rollenzuschreibungen und Erklärungsmodelle nachbetet, die zudem wenig elegant dargeboten werden: Seine Mutter erklärt Vesper, dass er quasi ein Kind Hitlers sei – der Vater hätte keinen Nachwuchs gewollt, aber weil sich der Führer Verstärkung für den Endsieg wünschte, habe man ihn als Dienst am Vaterland gezeugt. Sprach’s – Schnitt – und in der nächsten Einstellung ist der arme Vesper bereist halb dem Wahnsinn anheimgefallen.



Kaum besser und mehrdimensionaler ist das Generationsverhältnis bei den Ensslins, Gut und Böse hier wie dort. Das Vesper’sche Anwesen ist eine kalte, leere Villa, kaltbläulich dargeboten, und wie dabei irgendwas Ambivalentes wie Hassliebe, die doch so prägend für die RAFlinge und viele andere ihrer Zeit gewesen sein soll, bleibt ein Rätsel (auch was die Figur Bernward im Film betrifft). Die Stube der Ensslins wiederum ist eng, muffig und protestantisch steif. Ensslin, die Gescheiteste der Töchter, darf studieren, wirft ihrem Vater vor, es „besser gewusst“ und trotzdem bei den Nazis mitgemacht zu haben; sie ist von Anfang an rebellisch, und der Pastorenvater (Michael Wittenborn mit schmierigen Haarsträhnen) erscheint als gestrenge Duckmaus. Auch hier ist von irgendwelcher Herzenswärme und einem schwierigen Verhältnis weniger zu spüren als schlicht eine grundlegende Zerrüttung, die kaum eine Verpflichtung ahnen lässt. Gerade hier waren wir schlicht schon weiter, gar in der BAADER MEINHOF KOMPLEX, in dem Michael Gwisdeck den Pfarrer Ensslin mit enervierender Verständigkeit in seinen kurzen Auftritten gab oder auch und vor allem in DIE BLEIERNE ZEIT, in der der Vater weit sittenstrenger und Auflehnung provozierender erschien, der aber auch Alain Resnais NACHT UND NEBEL in der Schule vorführte. Und bei Margarete von Trotta war Gudrun, die spätere Terroristin, zunächst das brave Töchterlein…

Selbstzweifel und kritisches Gerechtigkeitsdenken, intellektuelle und ideologische Schärfe, verletztes Selbstwertgefühl und sexuelle Libertinage, das alles ergibt in WER WENN NICHT WIR kein Ganzes, leider schon gar nicht in den Figuren als widersprüchliche, aber ganze Charaktere. Eher erscheinen sie wie Frankenstein-Monstren, zusammengenäht aus biographischen und politischen, individuellen und zeitsymbolischen Einzelteilen – und nochmal ist die dabei die Schauspielleistung zu loben, allen voran die von Frau Lauzemis, die trotz aller Bewegungskräfte die Nähte halten lässt und so famos zu kaschieren versteht.

Angesichts dieser simplen Standardisierungen in Darstellungen und Kausalitäten bleibt die Präsentation der Zerrissenheit von Gudrun und Bernward eindrucksvoll und miterlebbar, aber un- oder nur fadenscheinig oder stereoptyp vermittelt, zumindest auf der persönlichen Ebene. Aber auch auf der zeitpolitischen und sozialen fallen Veiel nur die illustrativen Versatzstücke und inszenatorischen Standards ein, die den BAADER MEINHOF KOMPLEX quasi in die Vergangenheit hinein einfach nur verlängern: In WER WENN NICHT WIR sind es nicht die immer gleichen authentischen Film- und Fernsehdokumentaraufnahmen von Vietnambombern und Studentenunruhen, dafür aber eben Adenauer und die Kubakrise, ebenso illustrativ und musikalisch zeitgenössisch unterlegt. Auch hier ein lustiges Figurenratespiel (Walter Jens hier, und schau mal, der Teufel und der Langhans da!). Wenn gestritten wird, dann laut, und im Zorn müssen Türen geknallt oder etwas kaputt gemacht werden. Und als Ensslin und Vesper nach Berlin aufbrechen, steht sie auf dem Beifahrersitz, streckt den Oberkörper aus dem Schiebdach, recht die Hände nach oben und jauchzt. Hat man ja auch noch nie gesehen.

Die Geschichte des RAF-Films selbst hat Beispiele genug, wie es auch anders (und origineller) geht und gehen kann. Man denke allein schon an einen unterkühlten Petzold-Stil in Figurenführung und Inszenierung.

Nein, auf das typische Bilderinventar, dessen Einsatz Geschichtlichkeit behauptet, Authentizität garantiert und Faktizität festschreiben (oder hereinholen) will, fällt Veiel inhaltlich nicht zurück, aber perpetuieren tut er es doch, semantisch, grammatikalisch, was eigentlich noch schlimmer ist, weil er von ihm selbst kritisierte Gewissheitskino mit WER WENN NICHT WIR einfach nur auf bislang dahingehend wenig erschlossenes Erzählgebiet der RAF überträgt. Noch so viel mehr und so viel anderes sei über Gudrun Ensslin zu erzählen, erklärte Veiel, und der Film erzähle nicht vom Ende her. Das jedoch ist, wenn überhaupt, nur halb richtig, denn natürlich kann Veiel das, was er erzählt, nur erzählen und den Stil, den er nutzt, nur nutzen weil jeder im Publikum weiß, was aus Gudrun und Andreas geworden ist. Und für die, die es nicht tun, wird ein Texttafel am Ende eingeblendet, in dem es noch mal eine aberwitzige Kurzfassung des bundesdeutschen RAF-Dramas gibt, verkürzt natürlich auf die beiden „Helden“ Bonny Ensslin und Clyder Baader.



Vielleicht hat Veiel tatsächlich daran geglaubt, einen Film so drehen zu können, als gäbe es Ensslins und Baaders Extremistenkariere bis hin nach Stammheim und Vespers Freitod nicht, aber dieses bewusst Ausgeblendete (und dieses Ausblenden determiniert den Blick selbst ja schon) steckt WER WENN NICHT WIR von der ersten Sekunde an in den Knochen. Die Rollen und Begründungsmuster und allzu viel in Sachen Wertung und Bedeutungsgebung sind vom Start weg festgelegt.

Immer wieder ist Veiel in der Pressekonferenz auf die aktuelle Wirtschaftskrise (sein anstehendes Projektthema) zu sprechen gekommen. Ein Film, der auch die Gegenwart erklären helfe solle, sei WER WENN NICHT WIR – Protestbewegungen, Aufstände gegen Missstände, damals wie heute aktuell. Auf der Mikroebene, die der Figuren, ist WER WENN NICHT WIR freilich ein bestechendes Drama. Inhaltlich und erzählästhetisch (fast: generisch) vorgefasst wie er ist, bleibt der Film jedoch nur unzulänglich in Sachen Nachspüren und Erkunden der RAF und ihrer Vorgeschichte der Radikalisierung.

WER WENN NICHT WIR erzählt letztlich also erschreckend wenig Neues und schon gar nichts gegen den Strich (auch schon die Rabenmuttervorstellung der Ensslin ist bereits gestrig und als solcher längst im Kino durchgespielt und entsorgt – siehe ES KOMMT DER TAG). Veiel hat gutes Kino geschaffen, auch Filmkunstkino, aber als ein ästhetisches Instrument ist da der schlechte, schlimme BAADER MEINHOF KOMPLEX irgendwie witziger, gescheiter gescheitert, weil er sich als Actionkino mit seiner Stückwerkdramaturgie und der Faszinations-, Schock- und Oberflächenkunde in Sachen Seelensichtung ehrlich-banaler gibt.

Vielleich hätte es die RAF nicht (so) gegeben, wenn Gudrun Ensslin bei ihrem Felix und Bernward geblieben wäre. Vielleicht aber doch – und was dann? Wann kommt ein Film über die Terroristen, die keine geworden sind. Oder endlich mal die aus der zweiten Reihe, die nicht zu dem medialen „Dreiergestirn“ der RAF gehörten?

Bernd Zywietz

BERLINALE 2011 – Goldener Bär für den „Iraner“!


War sich Publikum, Kritik und schließlich auch die Jury einig: Als bester Film erhielt auf der Berlinale 2011 Asghar Farhadi für seinen meisterlichen JODAEIYE NADER AZ SIMIN / NADER AND SIMIN, A SEPARATION den Goldenen Bären – und nicht nur den: der Silberne Bär für die beste Darstellerin ging an das weibliche Ensemble, der Darsteller-Petz an die männliche Riege des von uns HIER besprochenen Films. Zack, so kann es gehen, und berechtigt war es allemal, auch wenn viele auf Lena Lauzemis für ihre Rolle als Gudrun Ensslin in WER WENN NICHT WIR getippt hatten. Aber Andres Weils „Vorgeschichte“ der RAF erhielt den Alfred-Bauer-Preis. Naja – aber dazu ein andermal mehr.

A TORINÓI LÓ / THE TURIN HORSE von Béla Tarr mit dem Großen Preis der Jury prämiert, den der Ungar mit einem dahingemurmelten Dank entgegennahm und gleich wieder verschwand – ans Mikro wollte er gar nicht. Als bester Regisseur wurde Ulrich Köhler für SCHLAFKRANKHEIT ausgezeichnet, den Drehbuch-Silberbären erhielten Joshua Marston und Andamion Murataj für Marstons THE FORGIVENESS OF BLOOD.



Eine Übersicht über diese und viele weitere Preise finden Sie HIER.

(zyw)

BERLINALE 2011 – Der potentielle Goldene Bär: JODAEIYE NADER AZ SIMIN


Zwei Favoriten präsentierte das Fachblatt Screen mit seiner letzten Berlinale-Sonderausgabe. Das internationale „Kritiker-Raster“ lobt mit der höchsten Punktzahl: den filmkunstgestrengen und -beflissenen Film A TORINÓI LÓ (THE TURIN HORS) von Béla Tarr, der so von der Filmkritik gelobt wurde, dass wahrscheinlich doch der menschenherzerfreuende Bär im Mini-Auto seinen Auftritt einen einem Punkt hatte, an dem ich das Kino bereits verlassen hatte. Der zweite Renner ist Asghar Farhadi Film mit dem sperrigen Titel JODAEIYE NADER AZ SIMIN / NADER AND SIMIN, A SEPARATION – ein Film, der sowohl vom Publikum als auch der Kritik begeistert aufgenommen wurde und tatsächlich, auch weit über den etwas schwächelnden Berlinale-Wettbewerb 2011 hinaus, ungewöhnlich guten ist und der es verdient hat, den Goldenen Bären zu gewinnen. Ob sich auch die Jury dem anschließend – Publikum, Jury, Kritik, drei auf einmal, geht das, darf das? Als entsprechender Kandidat wird er am Potsdamer Platz jedenfalls gehandelt. Vielleicht aus dem Wunschdenken heraus, aber auch mehr als zu Recht und nicht nur, weil er den „Iraner-Bonus“ hat.

JODAEIYE NADER AZ SIMIN, der in den gewöhnlichen Konversationen auf den 61. internationalen Filmfestspielen Berlin schlicht zu „der iranische Film“ wurde, ist kein System-Drama, kein Film, der Verhältnisse anklagt oder Kulturen ausstellt, nichts ankreidet oder bejammert. Punktgenau und fesselnd beobachtet Farhadi, so, wie man es selten gewohnt ist, auch (und gerade) im Westen. Es ist wie ein exzellenter Iñárritu-Film, das heißt: ohne erzählexperimentellen Klimbim und bedeutungsschwangerem Pathos, fast dokumentarisch natürlich, spannend wie ein Thriller und zugleich im Sujet verblüffend bodenständig, fast alltäglich und außergewöhnlich. JODAEIYE NADER AZ SIMIN ist ernst und fokussiert, so gerade und zielstrebig, dass man sich fast nicht traut, mit Worten an ihn heranzugehen, weil er solchen Firlefanz irgendwie links liegen lassen würde, der Film drängt, er hat keine Mission, aber eine umso größere Energie und gelassene Aufrichtigkeit. Das, was gezeigt wird – so hat man stets den Eindruck – würde auch ohne uns, ohne den Kamerablick stattfinden – eine Handlung, die in ihrer Lebensechtheit, ihren Figuren, ihren Schicksalswendungen ganz natürlich und existenziell ist.



Eigentlich geht es nur am Rande oder im Hintergrund im Nader und Simin. Beide – etwa Mitte, Ende dreißig – haben sich getrennt, und der Film beginnt unmittelbar: Mutter und Ehefrau Simin (Leila Hatami) erklärt dem Richter und zugleich uns, dem Zuschauer, die Situation: die Ausreise ist genehmigt, doch Nader (Peyman Moaadi) will nicht mit ihr kommen. Denn sein Vater ist dement, braucht den Sohn; zugleich braucht Simin die Scheidung, sonst kann sie nicht los – doch beide wollen auch nicht auf ihre gemeinsame, jugendliche Tochter Termeh (Sarina Farhadi) verzichten. Der Richter entscheidet salomonisch, in dem er nicht entscheidet.

Schon hier am Anfang wird der Ton festgesetzt, das Tempo, und es wird mit den Klischees aufgeräumt. Simin ist keine unterwürfige, ausgelieferte Gattin, streitet gern und gut; Nader wiederum ist kein herrschsüchtiger Patriarch, sondern einer, der sich um einen alten Mann, seinen Vater kümmert und sorgt, leidet, wie dieser Mensch immer mehr geistig verfällt. Es ist ein Paar der gehobenen Mittelschicht; beide können sie noch miteinander reden, auch wenn die Spannungen und Reibereien stets da sind, auch in ihrer Vernunft. Die große Kluft ist eine andere: Eine Haushälterin muss her; die gläubige Razieh (Sareh Bayat) aus der Unterschicht übernimmt widerwillig den Job. Sie wie ihre Auftraggeber haben ein Leben, Probleme, und Razieh ist erstmal überfordert mit dem Alzeimer-Großvater, der sich einzunässen beginnt. Raziehs Mann soll übernehmen, kann nicht, tut’s nicht, sie kommt stattdessen wieder. Verfolgt den Alten auf die Straße. Muss ihn festbinden. So findet ihn Nadir, es kommt zum Streit, Nasser wirft sie aus der Wohnung, heißt sie eine Diebin…



Wie natürlich läuft alles auf diesen Punkt hin und weiter, alles entwickelt sich mit erstaunlicher Beiläufigkeit, Zufälligkeit, aber auch mit Konsequenz. Das wahre Drama, eines, das nichts mit der Trennung zu tun hat: Razieh, bislang Neben- oder Parallelfigur, verliert ihr Kind, beschuldigt Nader, der sie geschubst hat und ihr Mann will Vergeltung. Streit, Konflikte, Anwürfe, Wut und der Versuch, doch immer wieder vernünftig miteinander umzugehen. Spätestens hier zeigt sich JODAEIYE NADER AZ SIMIN als das Courtroom-Drama, das es ist, doch als ein ganz besonderes: Der Richter sitzt in einem kleinen Büro in dieser iranischen Alltagsbürokratie, ist Beamter und Entscheider zugleich. Es entspinnt sich eine Frage nach Schuld und Sühne, Wissen und Vergeltung, in der letztlich niemand, nicht mal die Töchter unschuldig bleiben, weil auch sie Entscheidung fällen müssen. Anderseits gibt es keine einfachen Lösungen in diesem Film. Und wenn zunächst darum ermittelt wird, ob Nader wusste, dass Razieh schwanger ist, kann man sicher sein – er kann darüber ehrlich selbst keine Auskunft geben; vielleicht ja, vielleicht nein, wahrscheinlich aber beiden zugleich.



In allein zweierlei Hinsicht besticht JODAEIYE NADER AZ SIMIN ungemein: Durch die Figuren und ihre Führung. Nie geraten die vielen, schnellen Dialogzeile zu viel oder zu wenig. Die Figuren selbst bleiben ungekünstelt, werden einem nicht aufgedrängt. Sie wachsen einem nicht ans Herz, aber gerade in der wachen Distanz des Films kommen sie unheimlich nahe. Was nicht zuletzt an den rundum wunderbaren Schauspielern liegt und der „internationalen“, wohl geführten Handkamera, die endgültig beweist, dass es so etwas wie eine nationale Filmsprache nicht mehr gibt – was aber nur bedingt ein Verlust ist, dem der Gewinn der Vergleichbarkeit und einer Verständigung entgegensteht.

Zweitens ist es der Ansatz, der Blick auf den Alltag und sogar das Extraordinäre, der für den Film einnimmt und der sich nicht mit irgendeiner politischen Agenda gemeinmacht. JODAEIYE NADER AZ SIMIN ist ein vielschichtiges und komplexes Sozial- und Beziehungsdrama (im weiteren Sinne), das nicht das Theokratische der Mullahs kritisiert oder irgendwelchen rigiden „traditionellen“ Zustände anklagt. So gut Jafar Panahis OFFSIDE auch ist, es ist doch einen Film, der dem Westen mit seiner Haltung arg entgegenkommt. Leicht ist es, das zu feiern, die Zeichnung des Fremden als solches zu genießen, um nur bestätigt zu bekommen, was man ohnehin schon wusste. Hach, das Religiöse im Staatlichen, Säkularen, ist das nicht gestrig, ergebnislos? JODAEIYE NADER AZ SIMIN hat eine Szene, in dem die Zugehfrau Razieh in ihrem kleinen Adressheftlein blättert, um eine Telefonnummer herauszusuchen: die der Glaubenshotline. Sie ruft an und erkundigt sich: Ob es der Islam erlaube, dass sie den alten Mann, der sich beschmutzt hat, säubert – schließlich sei niemand sonst da. Ein für uns natürlich Akt der Nächstenliebe muss hier erlaubt werden. Lachhaft! Aber wir uns eine solche Telefonnummer nicht manchmal auch wünschen, vielleicht nicht, um religiöse Alltagsfragen zu klären, sondern um uns Beistand zu holen, wenn wir nicht mehr wissen, was zu tun, was richtig und was falsch ist, hinsichtlich auch und gerade ganz konkreter Anliegen, für die wir eine Absolution wünschen?



Doch da ist mehr noch: JODAEIYE NADER AZ SIMIN zeigt auch, welche Lebendigkeit in diesem „gestrigen“ Justiz-, Glaubens- und Gerechtigkeitssystem herrscht. Der Beamtenrichter ist kein Unmensch, sondern um Aufklärung und Gerechtigkeit bemüht. Dass sich der der Fall wie die Figuren nicht einfach in Richtig und Falsch auseinanderdividieren lässt, ehrt den Film, verunglimpft aber auch nicht die Figur des Richters selbst. Ein selten gelungener Spagat. Und schließlich zeigt JODAEIYE NADER AZ SIMIN eine archaisch anmutende, letztlich aber weitaus zivilere Grauzone und „Ersatzgerechtigkeit“: Das Blutgeld, das Aushandeln einer Entschädigung auf privater, nicht jedoch persönlicher Ebene. Im Grunde – und das ist der größte Affront gegenüber der steifen Verfahrensgerechtigkeit des Westens, in der Recht vor allem nach dem bemessen wird, was am Ende eines avisierten idealen Prozesses herauskommt – zeigt der Film eine Eigenjustiz der Menschen und des Glaubens, die ihren Figuren und damit den Menschen noch innere Werte und Aufrichtigkeit zubemisst. Verpflichtungen, die jenseits von Justiz liegen, die mit persönlicher Ehre und Verantwortung zu tun haben. „Moderne“ Gerechtigkeit geschieht in JODAEIYE NADER AZ SIMIN in einem zentralen Punkt nur, weil unspektakulär auf „archaische“ Verpflichtungen verwiesen wird – was unser „aufgeklärtes“ Selbstverständnis peinlich unterläuft. Das funktioniert nur, weil Farhadi seine Figuren – und den Menschen – Gutes zutraut; es ist ein letztlich sehr humanes, überhaupt nicht zynisches Bild, dass der Iraner zeichnet, und daraus gerade seine „Thriller-Spannung“ zu ziehen versteht.

Zuletzt aber entscheidet auch JODAEIYE NADER AZ SIMIN gar nicht, bleibt am Ende provokant neutral – und wirft den Zuschauer auf sich selbst zurück, bietet ihm kein Angebot, nicht mal eines, an dem er sich abkämpfen könnte, weil er selbst andere Meinung ist. Letztes Jahr hat Asghar Farhadi für DARBAREYE ELLY den Silbernen Bären bekommen. JODAEIYE NADER AZ SIMIN hätte dieses Jahr nicht nur den Goldenen verdient, weil er in perfektem Maß, drängend und unwiderstehlich mitreißend, dabei spröde und packend eine wie gewachsene Geschichte erzählt. Sondern weil diese Geschichte uns von einem fremden Land erzählt und gerade damit uns den Spiegel vorhält, der schwer macht, sich kulturell, gesellschaftlich und politisch zu distanzieren – oder überlegen zu fühlen. Und einer, der uns ganz sachlich ins Herz trifft und darüber leise, nachhaltig: bis ins Mark.

Bernd Zywietz

BERLINALE 2011: Ja wo laufen sie denn...


Ok, keine faire Kritik, aber nach zwei Stunden gefühlter Zeit (die im Kino vielleicht dreißig gedauert haben, oder nur zwanzig) habe ich mir Béla Tarrs A TORINÓI LÓ (THE TURIN HORSE) nicht länger anschauen wollen (hoffte ich doch noch auf eine Karte für den viel gepriesenen und von mir heute morgen verpassten iranischen Film JODAEIYE NADER AS SIMIN - doch da war kein reinkommen mehr).

Der Berlinale-Begleittext zum TURINER PFERD:

„Am 3. Januar 1889 tritt in Turin Friedrich Nietzsche durch die Tür des Hauses Via Carlo Alberto 6. Nicht allzu weit weg von ihm hat der Kutscher einer Pferdedroschke Ärger mit einem widerspenstigen Pferd. Trotz all seiner Ermahnungen weigert sich das Pferd, sich in Bewegung zu setzen, woraufhin der Kutscher die Geduld verliert und zur Peitsche greift. Nietzsche nähert sich dem entstehenden Gedränge und setzt dem brutalen Verhalten des Kutschers ein Ende, indem er schluchzend seine Arme um den Hals des Pferdes legt. Sein Vermieter bringt ihn anschließend nach Hause, und zwei Tage lang liegt er bewegungslos und stumm auf dem Sofa, ehe er berühmte letzte Worte spricht und noch weitere zehn Lebensjahre stumm und umnachtet unter der Obhut von Mutter und Schwestern verbringt. Was mit dem Pferd geschah, wissen wir nicht.“ So Béla Tarr im einführenden Vorspanntext seines Films. Er beschreibt in unmittelbarem Anschluss an das Ereignis mit großer Genauigkeit das Leben des Kutschers, seiner Tochter und auch des Pferdes. Gedreht hat der ungarische Regisseur in seiner unverwechselbaren Handschrift: mit langen Kameraeinstellungen, in Schwarzweiß und unter weitgehendem Verzicht auf Dialoge.


Nun, warum wir von dem Pferd nix mehr wissen, liegt daran, das nix zu wissen gibt. Zumindest hatte bis jetzt Tarr wenig von der Mähre zu berichten - und sogar auf dem Presseserver ist das einzige Filmfoto pferdelos (s.o.).

Fünf Minuten schaut die tatsächlich beeindruckende Kamera zu, wie der Bauer mit dem Gaul vor dem Karren durch den Sturm zockelt, dabeim beobachten wir ohne Schnitt und mit peinvoller Genauigkeit, wie das Tier abgespannt und der Wagen im Schuppen verstaut wird, im Haus des Bauern Tochter ihrem Handwerk nachgeht, zwei Kartoffeln kocht, von der eine der Bauer dann mit den Fingern mampft, wobei er sich selbige immerzu verbrennt, dann wird abgeräumt, im Bette folgt nächtens ein Denkwürdiger Dialog (der Bauer hört die Holzwürmer nicht mehr. Was das bedeutet, wird er gefragt. Weiß er auch nicht). Am nächsten Morgen holt die Frau Wasser, zieht dem Bauern dieStrümpfe ann, das Pferd wird wieder angespannt und da bin ich raus, nicht als erster und vermutlich nicht als letzter. Die meiste Zeit unterliegt dem Ganzen eine Musikentlosschleife (von Mihály Vig), die an Philip Glass' KOYAANISQATSI-Soundtrack erinnert.

Vielleicht verpasse ich gerade in den letzten zwei Studen des TURINER PFERDES nie gesehene Alieninvasionen, psychodelische Welten, packende Seelendramen und -einsichten, das Große Ganze, ästhetische Orgasmen und einen lustigen Bären, der in einem winzigen Auto im Kreis fährt, auf dass jedes Menschenkind seine Freude daran hat wie noch nie zuvor.

Aber irgendwie glaube ich das nicht, und so schön, existenzialistisch und unmittelbar kann die Kamera gar nicht sein, wenn sie einfach nichts Interessantes zu zeigen hat (und SO gut, dass man sinnlich in diesen rustikalen Alltag gezogen wird, IST sie auch wieder nicht).

Keine Geduld, nicht fähig, das Reduzierte zu schätzen, ein schändliches Sich-nicht-drauf-einlassen-Wollen oder -Können? Mag sein. Dafür geh ich jetzt und verbrenn' mir bei McDonnald`s gegenüber des Berlinale Palasts an den Pommes die Finger.

(zyw)

BERLINALE 2011 – Entschlackendes Kino


Dass Kino die Seele ergötzt, den Geist bereichert und das Auge schult war klar. Nun ist aber auch gesichert: Filmschauen macht (oder hält) schlank. Der schlagende Beweis: Bevor der werte Rezensent und Verfasser dieser wohlig verspielten Zeilen letzte Woche in den Berlinale-Trubel hineintaumelte, wog er noch ein Kilo weniger. Da nun in der Zwischenzeit in Sachen Sport nichts ging, eher durch ungesunde Nahrung und auch nicht gerade taillenschonende Alkoholika der Wanstausweitung zugearbeitet wurde, belegt die heutige Gewichtsmessung nach der dann doch für Rücken und Kreislauf notwendigen Ertüchtigung (auch, ja auch gerade zu Filmfestivalzeiten - da mag der Co-Redakteur Mühlbeyer noch so höhnen und lästern tut das gut und Not): Ein Kinomarathon verbrennt Kalorien! Im Sitzen und durch die Augen. Schön, vielleicht nur auf der Berlinale, wer weiß. Aber weit wichtiger ist die Frage: Wie geht das denn, physikalisch und so?

Na klar, rufen nach kurzer Denkpause alle und klatschen sich mit flacher Hand an die Stirn: Die Spiegelneuronen sind’s! Dank diesen vollziehen wir unbewusst und im Kleinen, aber effizienten Maße die Muskeln nach, was wir sehen. Weshalb Ihr Screenshot-Korrespondent in der Hauptstadt gestern quasi mitgetanzt hat mit Pina Bausches Ensemble in der Vorstellung von Wenders 3D-Wunderwerk. Oder sich heute ins Schlachtengetümmel gestürzt hat, mit Ralph Fiennes und Gerald Buttler.

Womit feinst ziselierte ein Übergang gezaubert ist zu: CORIOLANUS.



Die Shakespeare-Adaption ist Fiennes Regiedebüt, für das er vor und hinter der Kamera eindrucksvolle Namen versammelt hat. Fiennes selbst spielt die Hauptrolle des römischen Staatssoldaten Caius Martius – nach seinem Sieg über die entsprechende Stadt "Coriolanus" geheißen –, der für Krieg und Ehre lebt, zugleich sein Volk verachtet. Gerald Butler gibt den gleich ehrwürdigen Gegenspieler Aufidius vom feindlichen Volk der Volsker (ja, ich kann doch auch nix für diese Asterix-Namen!). Vanessa Redgrave spielt (wie stets und unheimlich dreidimensional, auch ohne Shutter-Brille) Coriolanus Mutter. Weiterhin geben ein Stelldichein: James Nesbitt, Brian Cox, Jessica Chastain, Ashraf Barhom, Lubna Azabal (die letzten Beiden: PARADISE NOW, THE KINDGOM)... Das Drehbuch stammt von GLADIATOR-, ANY GIVEN SUNDAY- und AVIATOR-Autor John Logan, die Kamera verantwortete HURT LOCKER- und GREEN ZONE-DP Barry Ackroyd. Und gerade dass ist genial - nein, nicht, dass wir so fancy Filmfachkürzel wie „DP“ (Director of Photography) hier lässig einstreuen, sondern: Dass Ackroyd und Fiennes das Drama der englischen Bühnengroßmeisters nicht im vierten Jahrhundert vor Christi in Rom ansiedeln, sondern in der Jetzt-Zeit, mit allem Drum und Dran und gefilmt wie ein modernes Polit- und Kriegsdrama. Moderne Anzüge tragen die Senatoren; die rebellischen Plebejer, die Brot fordern, sind Analogie zu Untergrund- oder Antiglobalisierungsgruppen; Zusammenfassungen erfolgen auf einem Nachrichtenkanal und das politische entscheidungsreiche Streitgespräch, mit dem sich der Coriolanus unwohl, widerwillig und hilflos aus der Meinungsmorast ziehen will, in einer Talkshow. Auf der anderen Seite ist Krise, Krieg und Kampf in Kulisse, Stil und Ausstattung eine Mischung aus Balkan-, Irak- und Nordirlandkonflikt (gedreht wurde in Serbien). Und gerade wenn der Titelantiheld breitbeinig in Olivgrün auf einem Stuhl hockt, gemahnt Fiennes erschreckend an einen Balkan-Warlord, zu jeder Grausamkeit bereit. So erfährt das elisabethanische Theater mehr grausame Realität, als sie vielleicht tragen wollte - warum sonst schon damals der Sprung in die ferne Vergangenheit, das zeitlich-fiktionalisierende des Gegenstands?



Aber warum geht es? Tatsächlich ist Coriolanus ein eher unbekannteres Herrschafts- und Königsstück Shakespeares. Während einer Hungersnot führt der stolze, unbeugsame Caius Martius nach innen im Namen des Senats ein strenges Regiment, stoppt einen Sturm des Volkes auf die „Kornkammer“ – und verdient sich praktisch im Alleingang seine Sporen gegen die Volkser mit ihrem Anführer Aufidius, Caius Bruder im Geiste. Nach dem Zurückschlagen des Feindesheeres soll Caius Coriolanus in die Politik, befeuert von seiner Mutter, der Ehre und Ruhm ihres Sohnes mehr gilt als sein Leben. Doch Politik und ihre alltäglichen Ränke und Verstellungen sind Coriolanus' Sache nicht; seine Abscheu vor dem römischen wankelmütigen Volk will und kann er nicht verbergen – eine Anti-Politiker schlechthin, Wunsch- und Kopfgeburt für die heutige Zeit. Missgünstige Senatoren, die ihre Pfründe bedroht sehen, Intrigieren gegen ihn stacheln das Volk auf – bis schließlich Coriolanus, dem man (zurecht?) Tyrannen-Aspirationen zuspricht, verbannt wird. Verstoßen wandert er durch die Lande – und schließt sich schließlich seinem ehemaligen Erzfeind an, um gemeinsam gegen Rom zu ziehen…

Eine besondere Energie prägt die Verfilmung CORIOLANUS mit seiner Verquickung aus Alt und Neu, Ästhetik und Stoff, und vielleicht sollt man viel mehr von Shakespeare ins Gewand von modernen Genre- und sonstigen Darstellungsstandards packen, um zu zeigen, wie packend und zeitlos der Stoff ist - wie oft es aber auch eines bestimmten Updates braucht, um die Schwere tragbar und allgemeingültigen Fragen, die die Dramen des vielleicht berühmtesten Bühnendichters der Menschheit nach Willy Millowitsch auszeichnen, frisch und erkennbar zu halten. Fiennes selbst gab in der erschreckend uninspirierten Pressekonferenz im Hyatt an, dass ihn Baz Luhrmanns ROMEO + JULIET ihn in Sachen Aktualisierung angeregt habe.

Modern die Waffen, gefleckt die Uniformen. Ackroyd zeigt, wie man vernünftig und zielgenau mit einer Handkamera umgeht, wobei die traditionellen Dialoge Shakespeares immerzu beibehalten werden und so ungemein packend dem alten Tragödienstoff eine neue, auch ganz taktile, affektive, rohe körperliche Erscheinungsform verpasst wird, mit der man von Englischlehrer im Unterricht sich auch und gerade als Bub gerne malträtieren lässt. Die große „Straßenschlacht“ gemahnt in ihrer Physikalität an BLACK HAWK DOWN, wuchtige Schüsse und Explosionen, Blut und Homo- und Schreckerotik, vor allem im dumpf, düster und brütend Zweikampf der beiden unbedingten Heroen. Doch zwei Problemen machen dem Film zu schaffen und lassen ihn zum Ende hin auslaufen, ausdünnen: Die Scharmützel am (relativen) Anfang bleibt einziger Gewalthöhepunkt, der Rest Ehren-, Figuren- und Politologiedrama ohne äquivalentes kinetisches und körperliches Potential. Mag man Shakespeare auch Ehre tun: Der Zuschauer von heute fühlt sich final um eine martialische Schlachtenplatte, die Rache an und in Rom, betrogen - da weiß Irrwisch Lars von Trier, allen Ethos hinwerfend, sein Finale in DOGVILLE schlicht treffender, befriedigender, ja, in seinem Ingrimm fast "shakespear’scher" zu gestalten.



Der zweite Punkt ist die historische Zeitgemäßheit des Stückes. Sicherlich ist Coriolanus als Figur und didaktisches Prinzip ein Faszinosum sondergleichen (eines, das Fiennes nach eigenem Bekunden nach der Theateraufführung nicht mehr losließ). Doch zum einen ist er als solcher und – zusammen mit seiner „faschoiden“ Mutter – eher Gedankenkonstrukt als Charakter. Zum anderen durchweht den Film qua Vorlage eine gestrige Einstellung – gar: Logik – die just in diesen Tagen, da die Kinoadaption auf der Berlinale gezeigt wird, so ganz gegen die aktuelle Weltanschauung und das politische Zeitwissen gestrickt scheint: Angesichts der Proteste, Aufstände, Revolten und Umstürze vor allem in Tunesien und Ägypten gegen Auto- und Kleptokraten ist das Bild, das CORIOLANUS von „Plebs“ als williger, unzurechnungsfähiger Verfügungsmasse für windige Ränkeschmiede und undankbar gegenüber ihren Kriegshelden (die es in die Politik verschlägt; und was sie als Unwillige dort zu suchen haben, kommt in CORIOLANUS eben nicht zur Sprache) zeichnet, ebenso eine Schattenmalerei wie Shakespeares unfaires, diffamierendes Stück Der Kaufmann von Venedig. Sicher, Militär und politische Macht sind gerade im Nahen Osten (wieder) ein Thema, aber eben mit mehr Realismus, mit besseren und zugleich weniger falschen Vorstellungen was Demokratie ist und sein kann.

Die hehren Worte, selbstgerechten und -gefälligen Phrasen und überkommenen Werte in Sachen Vaterland, Stolz, Ehre und Heldentum sind schlicht und gottlob so „out“, dass das erzählerische Update von CORIOLANUS den ganzen ideologischen, verblendenden Plunder umso mehr dysfunktionaler erscheinen lässt. So funktioniert der Film gerade in seinem neuen Gewand immer nur als kritische Analyse oder aber Drama, selten aber zusammen, und wenn der tote Coriolanus zuletzt auf eine LKW-Ladefläche geworfen wird, ist das – gewollt oder nicht – beredtes Sinnbild für sich: auf den Müllberg der Geschichte mit ihm; runter mit den Pfunden des durchgereichten fadenscheinigen Pathos. In diesem Sinne ist Fiennes handwerklich und darstellerisch beeindruckendes Kino-Stück gerade in seinem (weltanschaulichen) Scheitern lehrreicher und aufklärerischer, als es viele Gutmenschenfilme mit ihrem wohlfeilen So-müsste-es-sein gerne sein möchten.

Bernd Zywietz

BERLINALE 2011: PINA


Nur zwei Filme gesehen heute – muss auch mal reichen. Obzwar ich mir LES CONTES DE LA NUIT / TALES OF THE NIGHT gerne angeschaut hätte: ein 3D-Scherenschnittfilm. Klingt so absurd wie die Existenz des Billigplagiats von PARANORMAL ACTIVITIES, soll aber wunderschön und faszinierend gewesen sein. Doch ausgeschlafen wollt ich, weswegen ich mich gegen halb elf aus dem Haus macht und siehe da: nicht nur, dass es schneite, sondern das Filmgewerbe war fast vor die (Vorübergangs-) Haustür gekommen. Wenn der Berg eben nicht zum Propheten… Nein, tatsächlich standen Reflektoren und Scheinwerfer vor dem CD- und Plattenladen in der Zossenstraße. Der Film habe noch keinen (oder nur einen Arbeits-) Titel, beschied mir der freundliche junge Set-Runner. Und wer ist der Regisseur?, fragte ich, worauf er antwortet: Pssst! Weil sie gerade drehten, mit Ton und so. Aber auch danach wusste er nicht, was er mir erzählen dürfte, so ließ ich ihn in Ruhe seine Tagewerk verrichten, fuhr zum Potsdamer Platz und sah:

PINA von Wim Wenders. Und auf einen Nenner gebracht ist der Film schlicht: Wow! Schon lange hatte Wenders einen Kinoprojekt mit und über Philippine "Pina" Bausch bzw. ihrem Tanztheater Wuppertal geplant, bislang aber nicht den richtigen Ansatz gefunden – bis schließlich die neue 3D-Technik es erlaubte, das Räumliche von Körpern und ihrer Choreografie angemessen zu erfassen. Dann ist Pina Bausch 2009 überraschend gestorben. Ohne sie entstand nun PINA in einjähriger Arbeit als eine Hommage an die Tänzerin und Direktorin, eine Ehrung, Verbeugung, fast eine Anbetung. Kein Film über Pina Bausch (in Sachen Information ist in PINA nichts zu holen), sondern „mit“ ihr, für sie, über das, was sie kreierte.



Manche Wenderismen suchen den Film heim, Firlefanz, wie die wenige Originalaufnahmen von ihr, die als Film im Film projiziert sind auf eine Leinwand - immer noch eine mediale Schichtung bedeutet das. Ihre Schauspieler sitzen vor graurissiger Kulisse, schweigen, schauen in die Kamera oder dran vorbei, während ihre Stimme aus dem Off kurze Erinnerungsstücke zu Pina und der Arbeit mit ihr liefern. Viele waren ergriffen, auf der Leinwand, davor, auf der Pressekonferenz im Hyatt nach der Vorführung, doch irgendwann ist es – bei aller Genialität und Größe der Person – eben auch mal gut mit der Ehrfurcht und Hagiografie dieser Frau, die über allem schwebt. ABER: Die Ehrerbietung ist ohnehin Trauerarbeit und -stück und überdies berechtigt bzw. angebracht - eigentlich stört die Erinnerungshuberei nur, weil der Film ansonsten in einem ganz anderen, so großartigem Vermächtnis schwelgt, einem, das einen mit Haut und Haaren betört, packt und fasziniert, so dass man davon nicht genug bekommen will. Denn was an Tanzsequenzen, zusammengestellt aus verschiedenen Stücken, PINA bietet, ist schlicht atemberaubend. Doch es ist nicht nur das Glanzwerk der Tänzer, der Choreografie und Kulisse, die Faszination von Körpern, Raum und Bewegungen, durchaus auch humorig; nicht nur auf der Bühne, auch in einer Wuppertaler Schwebebahn, auf einer Verkehrsinsel. Nein, PINA ist nicht nur Pina.



Zwar beteuert Wenders immer wieder, dass er dem, was Pina konzipiert, erdacht und geschaffen hat, so treu und ehrfurchtsvoll zurückhalten, wahrhaftig wie möglich begegnet ist. Einzig das Licht auf der Bühne sei für die Aufnahmen höher gedreht worden. Doch tatsächlich hat Wenders selbst und sein ganz eigener Blick gehörigen Anteil an diesem staunenswerten Wunderwerk des Kinos, einfach weil er die Sprache des Tanztheaters mit der des Films ergänzt, bereichert und multipliziert hat und so etwas Neues und Eigenes geschaffen hat. Die Montage kommt hinzu, die dezente, aber wichtige Kamerabewegung selbst, unterschiedliche Einstellungsgrößen. Und natürlich: die dritte Dimension der Stereoskopie, die hier den besten Beweis liefern dürfte, dass 3D tatsächlich die Zukunft des Kinos bedeuten kann, nicht für alles, hier aber auf jeden Fall. Sogar die kleinen Schwächen haben ihre ihren ästhetischen Mehr- und Eigenwert: Draußen, vor den Scheiben der Schwebebahn wirken die Straßenzüge flächig wie gemalte Kulissen und eröffnen doch Räume, durch die sich der Zuschauer hindurchbewegt. Dann wieder eine Wahnsinnsspielerei: Die Kulisse des „Café Müller“-Stücks als Setzkasten, in dem Wegbegleiter von Pina die Künstler - Tänzer, Darsteller, "Körpermaler" – beobachten, wie die gerate tanzen (spielen, "malen").

Diese Räumlichkeit ist keine, die für eine irgendwie natürliche mimentische Wiedergabe oder Wahrnehmung steht, auch wenn sie tatsächlich die Tiefe, Örtlichkeit, Dynamik und Nähe veranschaulicht, ach was – spürbar und erlebbar macht. PINA ist Kunst über Kunst und dabei multimedial und pan-, pluri-, metadimensional (auch der Ton und die phantastische Musik, die mehr ist als nur Ergänzung). PINA ist kein Film, sondern ein Ereignis - etwas, das man erfahren muss, in das man eintauchen, sich wegtragen lassen muss, dabei ruhig auch mal auf die Entzifferung der Sprache des Bewegungen und ihres Zusammenspiels verzichten kann (oder die bei aller Ironie traditionellen Geschlechterrollenzuschreibungen, die die gesamten Arrangements und Figuren durchziehen als allzu überkommen und vor allem eintönig betrachten, aber auch einfach mal hinnehmen sollte).

Auch wenn das Wenders sicher vehement abstreiten würde und es dem respektlos dem Tanztheater gegenüber erscheinen mag: Eine Originalvorführung für den Zuschauer mit fester Perspektive und Distanz beizuwohnen, kann dagegen nur schwächeln und höchstens mit etwas benjamin’sches Auratisches dagegensetzen.

Die übliche Filmkritik jedenfalls, die nur mit Worten hantieren kann – und nein, vortanzen tue ich Ihnen diesen Text nicht, sorry – muss hier die Waffen strecken.

Den zweiten Film heute war der irische THE GUARD. Angesichts des Solitärs PINA sei darüber ein andermal geschrieben.



PINA ist auf der Berlinale noch an folgenden Terminen zu sehen:

Mo 14.02. um 14:30 Urania
Mo 14.02. um 22:00 Urania
Fr 18.02. um 17:30 Urania


Bernd Zywietz

BERLINALE 2011: Schaffe, schaffe...

Thomas Gottschalk hört auf, Screenshot Online fängt an – dabei muss der Autor dieser Zeilen sich eigentlich schämen: Jeden Morgen finden sich tagesaktuelle Berlinale-Sonderausgaben von Screen, The Hollywood Reporter oder Variety druckfrisch in den Presseanlaufstationen. Die Filme des letzten Tages oder die neuesten Deals werden in diesen fein redigierten und gelayouteten Heften bekanntgegeben. Von einem solchen Redaktionsoutput eingeschüchtert, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Branchenpostillen nebst den Freiexemplaren der SZ oder der FAZ einzusacken und mich ins Kino zu trollen, zu den ersten Pressevorstellungen, die im Berlinale Palast um 9.00 Uhr starten.

Dort kann man sich – da sind auch die Internationalen Filmfestspiele Berlin keine Ausnahme – direkt hinter die Jury setzen, im Dunklen dreist sein und an Isabella Rossellinis Haar schnuppern oder Aamir Khan mit kleinen Papierkügelchen bewerfen, ohne dass einem seine indischen Bodyguards oder sonst wer von seiner Entourage einem Arges tun kann. Aber wer will das schon, schnuppern oder werfen. Die Schönen oder zumindest Berühmten aus nächster Nähe beim Tuscheln, Nasebohren oder Einnicken zu beobachten (was im Gegensatz zu mir Isabella Rossellini oder Aamir Khan keineswegs getan haben, na, vielleicht mal tuscheln), ist schon Spaß genug und überhaupt, noch spannender ist es, dem Geschehen noch weiter vorne, auf der Leinwand zu folgen. Oftmals zumindest.

MARGIN CALL von J.C. Chandor startete das Wettrennen um den Goldenen Bären, aber wahrscheinlich haben Sie in Ihrer Tageszeitung oder sonstwo schon genug Geschwärme von diesem Finanzthrillerdrama gehört. Weshalb an dieser Stelle einfach nur gesagt sein soll: Es stimmt! Ok, ein wenig genauer dann doch: MARGIN CALL – der Terminus bezeichnet die Deckung von Buchschulden – ist nicht nur mit Kevin Spacey, Stanley Tucci, Paul Bettany, Jeremy Irons und Demi Moore hochkarätig besetzt, dazu noch mit glänzendem Nachwuchs wie „Mr. Spock“- (aus JJ Abrams STAR TREK) und Heros-Darsteller Zachary Quinto (der auch koporoduzierte) bestückt, sondern formale wie inhaltlich ein Glanzstück, bei dem man WALL STREET getrost vergessen kann. Brillant ist die Idee, das dialoglastige, aber nicht -überfrachtete, famos in Szene gesetzte Stück in rund eineinhalb Tage "stattfinden" zu lassen, wobei zwei Drittel der Erzählzeit auf eine schicksalhafte Nacht fallen, in der die kleinen und großen Geldmacher und -vernichter in ihrem Kammerspiel in und auf ihrem Hochhaus (samt kleineren Abstechern in das entleerte, entseelte Manhattan drumherum) eine existenzielle Konfrontation meistern müssen. Einer, bei der nicht nur ihre Firma oder das gesamte Finanzsystem am Abgrund steht.



Vieles kann man an MARGIN CALL beklatschen und bestaunen, die Dialoge, die Schauspielkünste oder allein die Produktion selbst: Drehbuchautor und Regisseur Chandor hatte zuvor nur Kurzfilme und Werbeclips gedreht; die erste Finanzierung für den Stoff ging den Berg runter, und unabhängig stemmte er das Projekt im zweiten Anlauf, wobei eine New Yorker Hochhausetage zugleich Set und Unterkünfte abgab. Bemerkenswert ist aber auch das Gefühl für die Wirtschaftskrise als eine Art Schicksalsmacht, die hier allerdings – mit Anlehnung an die Lehman-Pleite – einen dezidierten menschengemachten und aus der Not geborenen Ausgangspunkt zugeschrieben bekommt. MARGIN CALL erinnert ein wenig an einen Katastrophenfilm, nur, dass es eine "zweite" Natur ist, deren Heimsuchung am Horizont erscheint, und dass die Herren im feinen Zwirn entscheiden müssen, ob sie diese selbst und bewusst von der Leine lassen, um selbst noch einmal davon zu kommen, oder gerade stehen und mit dem Schiff untergehen. Jeremy Irons konnte in der anschließenden Pressekonferenz noch so sehr von Moralität schwadronieren: die Manager, inklusive dem bedenkenträgerischen Trading-Chef, gespielt von Spacey, der um seinen Hund trauert, sind in MARGIN CALL zu Recht nur Leute, die ihren Job machen, so gut sie es können, und für die Geld nur mehr abstrakte Zahlen sind - Menschen, die auch nur in einer sozial- und arbeitsteiligen Welt leben. Amoralisch? Ja. Unmoralisch? Nein. Schlicht weil sie einem ganz eignen Ethos und einer ganz eigenen Logik folgen. Irons Figur verachtet die Armen, da unten, da draußen, doch er weiß auch: Es hat immer schon Reiche gegeben (und Wirtschaftskrisen), und sie hier, in der Bank, machen den Wohlhabenden die Drecksarbeit, geben für sie den Sündenbock. Das klingt zynisch. MARGIN CALL aber stellt Broker und Dealer, Manager und Analysten als ebenso entfremdet aus wie den kleinen Fabrikarbeiter, der täglich nur das Fließband vor Augen hat - und immerhin noch etwas produziert. Aber selbst wenn sie mit ihrem Panoramablick im zigsten Stock hoch über der Stadt mal etwas mehr Weitsicht auf das große Ganze haben, bezahlen diese Geldmenschen gerade für diesen einen immensen inneren Preis.

Auch von EL PREMIO, zu Deutsch „Der Preis“, die mexikanisch-französisch-polnische-deutsche Koproduktion von Paula Markovitch haben Sie garantiert schon gehört oder gelesen. Hier aber vielleicht ein paar „Fakten“ mehr dazu: Statt der 115 Minuten hätten es 60 ebenfalls getan. Auch die politische Parabel, die in Rezensionen gerne in den Vordergrund rückt, ist eher eine unkonkrete Sache. Dass (oder ob) es sich um Argentinien zur Zeit der Junta als Schauplatz handelt, ist praktisch wurscht, man sieht es EL PREMIO mit seinen reduzierten Kulissen eigentlich auch nicht an, und überhaupt ist es eine zeit- und ortlose Geschichte, die von der Mutter und Tochter in der windgebeutelten Bude am Meer handelt, davon, dass Mama Furcht und Abscheu vor und auf die Polizei oder das Militär hat, dass die Tochter, die in die Schule geht, nichts erzählen darf, dann aber bei einem Aufsatz, von der Armee ausgeschrieben vom Leder zieht… usw.



Fast symbolistisch geraten einige Bilder, karg und geduldig ist der Blick. Was den Film aber wirklich und wahrlich und unabhängig von seiner Story, Botschaft oder was auch immer sehenswert macht, ist die kleine Paula Galinelli Hertzog mit ihrem roten widerspenstigen Schopf, den Sommersprosse und der Zahnlücke im frechen Grinsen. Man kann sich gar nicht sattsehen an der Göre, halb Wildfang, halb Kobold: wenn sie mit ihrer Freundin spielt, durch die Dünen kugelt oder bei ihrer Mutter ihren Dickkopf durchzusetzen versucht. All die Vielfalt und Facettenreichtum an Kichern, Glucksen, Kieksen und Schreien, dem Schmollen, Granteln oder einfach ganz mit sich selbst Beschäftigt-Sein ist so echt und unvermittelt, so freimütig und unverstellt, so sehr Spiel als wäre die – in dieser Hinsicht kongeniale – Kamera gar nicht da. Für die Lebendigkeit sind die 115 Minuten doch wiederum viel zu wenig.

Was aber gab es noch? Natürlich die große Galavorstellung von OFFSIDE zu Ehren von Jafar Panahi: Während in Ägypten Mubarak am Freitag zurücktrat, versammelte sich die Hautevolee im Berlinale Palast, um ihre Solidarität mit dem Iran inhaftierten und mit einem Berufsverbot belegten Regisseur zu demonstrieren. Sein Film, 2006 mit dem Silbernen Bären prämiert, war aber selbst ein Erlebnis: Ein Nachmittag in Teheran, in dem unterschiedliche Mädchen, die sich ins WM-Qualifikationsspiel Iran gegen Bahrain schmuggeln wollen (Frauen ist der Zutritt verboten), fliegen auf. Sie werden und am Rande des Stadions eingepfercht, wo wiederum die armen Polizisten ihre liebe Not mit ihnen haben.

Es ist ein schlichter, ebenso wie schlauer, witziger, lebendiger und hintersinniger Film, den Panahi damals für extrem wenig Geld hingezaubert hat; einer, der die gestrengen Sitten vorführt, jedoch warmherzig mit denen umspringt, die sie durchzusetzen haben. Eine hysterische oder islamo-faschistische Diktatur sieht anders aus, fühlt sich anders an - so einen Iran gibt es also auch? OFFSIDE stellt die absurden Moral- und Geschlechtervorstellungen bloß und bietet im Gegenzug eine patriotisches Gemeinschafts-, ein „Wir“-Gefühl an, eines ohne Geifer, sondern Freude. OFFSIDE ist ein Film, der so elegant und charmant kritisiert, dass man ihm eigentlich nicht böse sein kann. Außer man will es partout.



Nach BUNGALOW (D 2002) und AM MONTAG KOMMEN DIE FENSTER (D 2006) hat „Berliner Schüler“ Ulrich Köhler mit SCHLAFKRANKHEIT am Samstagmorgen seinen neuen Spielfilm vorgestellt, der weit weniger statisch und in der Steifheit seiner Momente weniger kühl und durchkomponiert wirkt. Sinngetränkt und doch in sich selbst seltsam verschlüsselt erschienen diese gestrengen Beobachtungen, die nicht kryptisch waren, bisweilen gar aufreizend alltäglich, mit dem sezierenden, langatmigen Blick aber doch geheimnisvoll entlarvend wirkten. Vorbei der Spaß – die Hitze Kameruns hat das Eisig-Teutonische auftauen lassen, und so gerät SCHLAFKRANKHEIT schon zu Beginn regelrecht geschwätzig: Der Entwicklungsarzt Velten (glänzend: Pierre Bokma) holt mit seiner Frau (Jenny Schily) die gemeinsame Tochter vom Flughafen ab, wo sie aus Deutschland gelandet ist. Dabei wird parliert; in eine Polizeikontrolle geraten sie, danach: kleine und größere Episoden entspinnen sich um die geplante Heimkehr der Familie, wobei der Doktor, halb Kolonialherr, halb Albert Schweitzer eigentlich seinem Herzen nach hier bleiben will.

Nicht im Einzelnen, im Großen, sondern aus den Augenblicken und Begebenheiten formt sich ein Psychogramm, eine Geschichte. Und Schnitt: die zweite Hälfte des Films beginnt in Paris, von wo sich der schwarze Arzt Nzila (Jean-Christophe Folly) aufmacht, um Veltens Schlafkrankheits-Projekt für die Geldgeber zu evaluieren. Nzila ist das Land, der Kontinent trotz seiner Herkunft fremd, im Gegensatz zu Velten, der mittlerweile im Kameruner Busch eine neue einheimische Familie inklusive Frau und hausgemachten Kind (das Nzila zur Welt bringen soll, ehe es ihn krankheitsbedingt umhaut) gefunden hat. Zum Ende hin entspinnt sich etwas, das wie eine unaufgeregte unspektakuläre, eine köhler’sche Kurzvariante von Josef Conrads Heart of Darkness anmutet, der man bedeutungsmäßig etwas abgewinnen kann, nicht aber muss, ich hab’s jetzt auch nicht verstanden oder mir was drauf gereimt, sehenswert war’s trotzdem, denn irgendwie, intuitiv durchdacht erscheint alles, teil eines großen Ganzen und richtig - und ein Flusspferd spielt eine ganz ganz kleine, aber feine Rolle. Ich muss aber auch gestehen, dass ich zwischendrin, für fünf Minuten oder so, eingenickt bin, vielleicht auch nicht, ich kann’s gar nicht sagen. Geht es also um Zivilisationskritik, Lebenswege, Heimat? Etwas Mystisches hat SCHLAFKRANKHEIT zum Schluss, und ist doch rational in seiner Betrachtung zugleich.

Wach und ganz bei Sinnen sei empfohlen: DIE AUSBILDUNG, der in der Reihe Perspektive Deutsches Kino läuft. Dirk Lütters Debüt handelt von dem jungen Jan (Joseph K. Bundschuh), der in einer Softwaredienstleistungsfirma am Servicetelefon die Lehre macht. Seine Mutter arbeitet in derselben Firma, ist Betriebsrätin, derweil ihr Boss Tobias (Stefan Rudolf ) den jungen Mann beiläufig für kleine Spitzeldienste einspannen will – schließlich steht die Entscheidung über die Übernahme nach Ende der Ausbildung demnächst an. Und dann kommt noch eine junge Zeitarbeitskraft Jenny (Anke Retzlaff) in die Abteilung, in die sich Jan verliebt und sie sich in ihn.

Auch in DIE AUSBILDUNG ist es eher die Momentaufnahme, die Situation und Stimmung, die im Vordergrund steht (Köhler- und Maren-Ade-Freundin Valeska Grisebach (ALLE ANDEREN) hat das Drehbuch mitbetreut). Klar, aber auch immer leicht ironisiert sind die Aufnahmen, wortkarg die Szene, reizen zum Lächeln, sind ein Genuss. Das ist keine (oder nicht nur) stilistische Spielerei, sondern ganz der Figur des Jan geschuldet, die in ihrer Reduziertheit ebenso wunderbar von Bundschuh dargeboten wird wie von Anke Retzlaff die vorsichtige Arbeitszigeunierin Jenny, die fragile Lohnnomadin. Nicht nur zaubert Lütters mit seinem Kameramann Henner Besuch und den beiden Jungdarstellern zwei bezaubernde und trotz (oder gerade in) der Strenge der Kompositionen zärtlich-vorsichtigste Kuss-Szenen, vor allem der Figur des Jan geben Inszenierung, Buch und Darsteller eine Abgründigkeit, die der Film nicht ganz auflöst. Engagiert und verhuscht erscheint der schlacksige 20-jährige, frühstückt und vespert brav mit Mama und Papa, frönt aber mit demselben, besonnen, leeren groß- und glanzäugigen Gesichtsausdruck einem Konsumverhalten über seine Verhältnisse hinaus, was ihn unheimlich werden lässt. Wie zum Sport kauft er sich teure Klamotten und Schuhe, um sie noch im Einkaufszentrum kaputt zu machen und wieder umzutauschen. Ein Training für den eigenen Job? Ein Test wie weit man damit kommt? Beginn, einer Déformation oder besser Perversion professionnelle? Erschreckend, wie wenig es Bundschuh braucht, um kaum ohne eine Regung im Gesicht Freude in eine Enttäuschung umkippen zu lassen.



Aus Andeutungen oder als Miniaturen und umso stichhaltiger präsentiert der Film die großen und kleinen Bedrohungen, Hierarchien und Entmenschlichungen des Berufslebens; nie gibt es Räume ganz zu sehen, geschweige denn das Firmengebäude von außen. Ulkige, gar satirische Momente ergeben sich, entstehen erst durch Bildkomposition, durch Lakonie, Andeutungen, aber auch etwas Kafkaeskes erfüllt den Film mit seiner Welt, die man nur zu gut kennt, die Büromöbel, die Auslegeware, die runden Abdeckungen im Boden für die Steckdosen- und Netzwerkverbindungsdosen. Dazu die Wiederholungen: Monotones bieb und Durchgehen beim morgentlichen Einchecken in den Job, und mehrfach sehen wir aus der Ich-Perspektive den Blick auf die Straße Jans Fahrt nach Hause, immer denselben Weg entlang. Punktgenau trifft Lütters so die kleinen Markierungen, die eine Ausbildung oder den geregelten (und ausliefernden) Arbeitsalltag strukturieren, routinieren und beherrschen. Die Story, Jans kleines, fast – aber nur fast und umso schwerwiegendere – unschuldiges, argloses Petzen und sein (nicht nur berufliches Abhängigkeits-) Verhältnis zu dem erschreckend offensichtlichen, falsch jovialen Tobias, der bedenkenlos mit Managementfloskeln wie mit Ninja-Sternen um sich wirft, ist eher ein Notgerüst. Nicht unwichtig oder rudimentär, sondern etwas, bei dem sich das Eminente dazwischen abspielt.

Wie Lütter nach der Vorführung ganz richtig bemerkte, herrscht ein Mangel an Thematisierungen des Arbeitslebens in Spielfilmen (nimmt man mal – so könnte man ergänzen – Ärzte und Polizisten aus), obwohl der Mensch soviel Lebenszeit mit Schaffen und Malochen verbringt und dieses Tun ihn so stark definiert. Eine verblüffende korrekte und einfache Einsicht, und es ehrt Lütter – wie André Erkaus mit seinem Kurzfilm 37 OHNE ZWIEBELN oder seinem Max-Ophüls-Preis-Gewinner 2008 SELBSTGESPRÄCHE –, dass er sich dem Gegenstand annimmt, ohne in Sozialtristesse zu verfallen oder einer Überstilisieurng zu verafllen. Verblüffender aber noch ist, wie viel Gemeinsamkeiten so unterschiedliche Filme wie der Erstling DIE AUSBILDUNG und MARGIN CALL gerade darin haben ...


Bernd Zywietz