Welch herausragende Filmauswahl das diesjährigen Münchner
Filmfest geboten hat, mag der geneigte Leser daran ermessen, dass er hier an
dieser Stelle von unserem Herrn Reporter Mühlbeyer kaum etwas davon mitbekommen
hat. Der konnte nämlich schlicht wenig Zeit erübrigen, war er doch anderweitig
fleißig: Mit dem Auftrag, für kino-zeit.de die Reihe Neues Deutsches Kino
schreiberisch zu begleiten. Eine Reihe, von der unser Herr Mühlbeyer in diesem
Jahr restlos begeistert war!
So gab es zwei wunderbare Genre-Filme zu sehen:
In „Harms“ spielt Heiner Lauterbach in der Titelrolle einen mythischen Gangster, der noch
einmal einen letzten Coup wagt, immerhin lagern hundert Millionen Euro
abholbereit auf Paletten in der Deutschen Bundesbank. Stur trottet Lauterbach
durch die Handlung, während um ihn herum alles mehr und mehr in Scherben fällt,
so dass nicht mal er, der sich mit all seiner Macht in jedes Gemenge stürzt,
mehr helfen kann.
In „Der blinde Fleck“ spielt Lauterbach ebenfalls mit, in seitlich rasierter Altnazi-Frisur gibt er
den Antagonisten, nämlich Dr. Hans Langemann,
zweiter Mann im bayrischen Freistaat unter FJ Strauß. Vertuschung, Verschweigen,
Ablenkung: Das sind seine Waffen, als der Journalist Ulrich Chaussy tiefer bohrt, als der Abschlussbericht zum Münchner Oktoberfestattentat von 1980
es zulassen wollte. Chaussy hat das Drehbuch geschrieben, Daniel Harrich Regie
geführt – und zwar nicht, um ein Betroffenheitsdrama zu schaffen oder einen
verfilmten Leitartikel, sondern um sich richtig reinzuknien in die
Genremechanismen des Politthrillers, in dem nichts fehlt. Vor allem nicht
Spannung.
Was „Love Steaks“ auszeichnet – das gelingt auch Axel
Ranisch in gleich zwei Filmen: „Ich fühl mich Disco“ erzählt die Geschichte des Jungen Florian, der mit seinem Vater Hanno so gar
nichts anzufangen weiß – der ihn formen will nach einem Männlichkeitsideal, wie
es Hanno selbst – dick, laut, unsensibel – nie hätte erreichen können. Mit der
Mama ist Florian glücklich – bis sie nach einem Hirnschlag im Koma liegt. Nun
bleibt ihm nur noch die Fantasie, um das Glück mit Mutti genießen zu können –
wobei er alsbald Radu kennenlernt, mit ihm Freundschaft schließt und auch
durchaus mehr fühlt… Das Besondere des Films: nicht nur wird schlicht und
einfach die erwachende Homosexualität von Florian geschildert, viel mehr noch
des Vaters Umgang damit. Der nämlich nicht poltert und tobt, sondern die Übernachtung
Radus im Zimmer seines Sohnes nutzt, um so richtig tolerant zu werden. Dabei
hilft ihm der Schlagersänger Christian Steiffen,
dessen Lieder („Ich fühl mich Disco“, „Sexualverkehr“) Sohnemann Flori verehrt,
dem der Papa in der Kneipe ein paar runterhaut, der dafür mit einem Lied („Das
Leben ist nicht nur Pommes und Disco“) und einer Aufklärungs-DVD belohnt wird.
Eine DVD, in der Rosa von Praunheim himself dem verdatterten Papa Hanno eine
Lehrstunde in Schwulsein und Analverkehr gibt. Es wird also nicht
problematisiert – obwohl es der Probleme zuhauf gibt und auch nichts
runtergespielt wird –, doch vor allem geht Ranisch sehr einfühlsam auf seine
Figuren ein, erzählt über sie und aus ihnen heraus und bietet ihnen zudem
fantastische Hilfestellung aus der Imaginationswelt an.
„Reuber“ ist der zweite Ranisch-Film, ein Kinderfilm freilich aus der Kinderfilmreihe:
Eine irre muss auch etwas für die Älteren unter
uns sein.
Geschichte von Robby, der vor dem Supermarkt seine kleine Schwester
verliert und in den Wald abhaut. Wo er nicht nur einer merkwürdigen Pilzfrau
begegnet oder einer guten, wenn auch alten Fee (Ruth Bickelhaupt, Ranischs Oma,
die schon in „Dicke Mädchen“ so bezaubernd war). Sondern auch einem fiesen,
bösen, so nett tuenden Zauberer und einem grimmigen, polternden, aber sehr
hilfsbereiten Räuber. Ranisch zog mit seinem Team in einen Wald in Brandenburg,
drehte in einer Woche den Film, wobei Abend für Abend neu überlegt wurde, wie
die Story weitergehen könnte. Heraus kam ein toller Film für Kinder – und für
Erwachsene. Denn so einfallsreich bösartig wie der Zauberer hat man selten
einen Schurken agieren sehen; und ein Kinderfilm, der so sehr das Happy End
einer heilen Familie vermeidet,
„Finsterworld“ von Frauke Finsterwalder ist ein Beispiel dafür, dass deutsches Kino nicht mehr
gleichgesetzt werden darf mit Eindeutigkeit und eingebauter moralischer
Rückversicherung. Was Ironie ist, was reiner Comedy-Sketch, was ernsthafte
Aussage, was These/Antithese oder gar, was die Botschaft des Autors sei – das
ist in dieser Gewitterwolke von Hasspredigten und Keifereien, von Selbstsucht
und langsam gedeihender Perversion nicht mehr auszumachen. Kein Wunder: Der
Drehbuchautor ist Christian Kracht, Ehemann der Regisseurin; der genau weiß,
wie er sich und seine Ansichten einzubringen hat, ohne sich und seine
Ansichten einzubringen… Ein Episodenfilm um einen Pediküre-Künstler mit
Fußfetischismus, um einen Polizisten, der gerne ein Eisbär wäre, um eine
Dokumentarfilmerin, die zu selbstbezogen ist, um sich für irgendetwas zu
interessieren, ein reiches Ehepaar, das über Deutschland abkotzt, eine
Schülergruppe, die sich gegenseitig ankotzt, einen einsiedlerischen Waldläufer,
der wild wird, als sein Rabe stirbt… Ein Panorama all der Dekadenz und Fäulnis,
der man sich kaum entziehen kann, nicht in dieser und vor allem nicht in der
Finster-Welt.
Höhepunkt des Filmfestes selbstverständlich: Die Premiere
des neuen Helge-Schneider-Filmes „00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse“.
Für Schneider war dies das erste Mal, dass er einen seiner Filme vorab auf
einem Festival präsentieren durfte – einerseits eine große (längst überfällige)
Ehrung, andererseits auch durchaus mit Risiko behaftet: immerhin exponiert man
sich auf einem Filmfest, setzt sich schutzlos einem Publikum aus, das
vielleicht ja, man kann es nicht wissen, auf Hochkultur getrimmt ist, auf klare
Ernsthaftigkeit, und nicht auf das, was Schneider mit seiner Kunst vorhat.
Nämlich hinter der Form von Nonsenskomödien und Clownerien die Ernsthaftigkeit
der Anliegen so zu verbergen, dass sie dem gemeinen Zuschauer (und vielleicht
auch dem gemeinen Schenkelklopfer-Fan) nicht direkt ins Auge springen. Der neue
Kommissar-Schneider-Film immerhin bietet einige Ansatzpunkte, ein paar Haken,
an die Exegeten und Analysten Interpretationsaufhänger befestigen können. Etwa
die Zerrissenheit der Örtlichkeiten, in denen das reale Ruhrgebiet, wo an
Originalschauplätzen gedreht wurde, direkt an der spanischen Küste liegt – im
Film: „der spanische Teil der Stadt“; oder die Polizeigewalt, die sich nebenher
abspielt, wenn in der Tiefgarage ein Verbrecher verkloppt wird und sich der
Chief persönlich einen Popograpscher vorknöpft; oder das parodistische Element,
das Einflüsse der gesamten Cop-Genre-Filmographie aufnimmt und nebenbei W.C.
Fields und Dick und Doof einfließen lässt. Wobei, andererseits: Der Humor ist
nach wie vor sehr speziell (was als höchstes Lob zu werten ist!), und manches
geschieht auch einfach nur so – Sergej Gleithmann, den die Kameraperspektive
als Zwerg darstellt, während Kommissar Schneider aus unerfindlichen Gründen das
Gespräch laut rufend führt; oder die Tänzchen, in die der Kommissar ab und an
verfällt… Warum nun ausgerechnet dieser Film aus Schneiders Œuvre sich dennoch so
offen gibt auch für die, die bisher wenig mit ihm anfangen konnten? Nun: Der
Film sieht ganz einfach verdammt gut aus: gedreht auf 16mm, perfekt stimmig
ausgeleuchtet, mit ausgezeichneter Ausstattung und dynamischer Montage, in der
sich die Ruhe der spanischen Küste gegen die Hektik im Polizeirevier stemmt.
Und umwerfend komisch ist er noch dazu!
Die deutsche Kinoreihe des Münchner Filmfestes zeigte etwas,
das hoffentlich zum Trend werden wird: Dass das deutschen Kino weit darüber
hinaus ist, ein gesetztes Problem zu verfilmen – wie es in den Vorjahren
in diversen deutschen Reihen auf diversen Filmfestivals zu beobachten war –,
dass sie vielmehr tatsächlich eine Geschichte filmisch er- und
begreifen. Das mag an veränderten Ansätzen bei den Filmemachern liegen; das mag
auch daran liegen, dass die Kuratoren andere Werke – nämlich eben: tatsächlich Filme
statt Bebilderungen – aussuchen (seit 2012 besorgt Christoph Gröner
dieses Geschäft in München, und seine diesjährige zweite Amtszeit lässt für die
Zukunft Großes hoffen); vielleicht aber, und das wäre langfristig gesehen die
schlechteste Option, ist dies schlicht ein Ausnahmezustand, der schon im Herbst
in Hof nicht mehr gilt. Immerhin aber: Diese Filme dieser Reihe dieses
Festivals sind in der Welt. Und da bleiben sie auch.
Und jetzt muss nur noch das Publikum bemerken, dass sich
hier Vieles und vielleicht Entscheidendes tut.
Harald Mühlbeyer