Filmfest München 2013: Starker deutscher Jahrgang

Welch herausragende Filmauswahl das diesjährigen Münchner Filmfest geboten hat, mag der geneigte Leser daran ermessen, dass er hier an dieser Stelle von unserem Herrn Reporter Mühlbeyer kaum etwas davon mitbekommen hat. Der konnte nämlich schlicht wenig Zeit erübrigen, war er doch anderweitig fleißig: Mit dem Auftrag, für kino-zeit.de die Reihe Neues Deutsches Kino schreiberisch zu begleiten. Eine Reihe, von der unser Herr Mühlbeyer in diesem Jahr restlos begeistert war!

So gab es zwei wunderbare Genre-Filme zu sehen:
In „Harms“ spielt Heiner Lauterbach in der Titelrolle einen mythischen Gangster, der noch einmal einen letzten Coup wagt, immerhin lagern hundert Millionen Euro abholbereit auf Paletten in der Deutschen Bundesbank. Stur trottet Lauterbach durch die Handlung, während um ihn herum alles mehr und mehr in Scherben fällt, so dass nicht mal er, der sich mit all seiner Macht in jedes Gemenge stürzt, mehr helfen kann.
In „Der blinde Fleck“ spielt Lauterbach ebenfalls mit, in seitlich rasierter Altnazi-Frisur gibt er den Antagonisten, nämlich Dr. Hans Langemann, zweiter Mann im bayrischen Freistaat unter FJ Strauß. Vertuschung, Verschweigen, Ablenkung: Das sind seine Waffen, als der Journalist Ulrich Chaussy tiefer bohrt, als der Abschlussbericht zum Münchner Oktoberfestattentat von 1980 es zulassen wollte. Chaussy hat das Drehbuch geschrieben, Daniel Harrich Regie geführt – und zwar nicht, um ein Betroffenheitsdrama zu schaffen oder einen verfilmten Leitartikel, sondern um sich richtig reinzuknien in die Genremechanismen des Politthrillers, in dem nichts fehlt. Vor allem nicht Spannung.

Was „Love Steaks“ auszeichnet – das gelingt auch Axel Ranisch in gleich zwei Filmen: „Ich fühl mich Disco“ erzählt die Geschichte des Jungen Florian, der mit seinem Vater Hanno so gar nichts anzufangen weiß – der ihn formen will nach einem Männlichkeitsideal, wie es Hanno selbst – dick, laut, unsensibel – nie hätte erreichen können. Mit der Mama ist Florian glücklich – bis sie nach einem Hirnschlag im Koma liegt. Nun bleibt ihm nur noch die Fantasie, um das Glück mit Mutti genießen zu können – wobei er alsbald Radu kennenlernt, mit ihm Freundschaft schließt und auch durchaus mehr fühlt… Das Besondere des Films: nicht nur wird schlicht und einfach die erwachende Homosexualität von Florian geschildert, viel mehr noch des Vaters Umgang damit. Der nämlich nicht poltert und tobt, sondern die Übernachtung Radus im Zimmer seines Sohnes nutzt, um so richtig tolerant zu werden. Dabei hilft ihm der Schlagersänger Christian Steiffen, dessen Lieder („Ich fühl mich Disco“, „Sexualverkehr“) Sohnemann Flori verehrt, dem der Papa in der Kneipe ein paar runterhaut, der dafür mit einem Lied („Das Leben ist nicht nur Pommes und Disco“) und einer Aufklärungs-DVD belohnt wird. Eine DVD, in der Rosa von Praunheim himself dem verdatterten Papa Hanno eine Lehrstunde in Schwulsein und Analverkehr gibt. Es wird also nicht problematisiert – obwohl es der Probleme zuhauf gibt und auch nichts runtergespielt wird –, doch vor allem geht Ranisch sehr einfühlsam auf seine Figuren ein, erzählt über sie und aus ihnen heraus und bietet ihnen zudem fantastische Hilfestellung aus der Imaginationswelt an.

„Reuber“ ist der zweite Ranisch-Film, ein Kinderfilm freilich aus der Kinderfilmreihe: Eine irre muss auch etwas für die Älteren unter uns sein.
Geschichte von Robby, der vor dem Supermarkt seine kleine Schwester verliert und in den Wald abhaut. Wo er nicht nur einer merkwürdigen Pilzfrau begegnet oder einer guten, wenn auch alten Fee (Ruth Bickelhaupt, Ranischs Oma, die schon in „Dicke Mädchen“ so bezaubernd war). Sondern auch einem fiesen, bösen, so nett tuenden Zauberer und einem grimmigen, polternden, aber sehr hilfsbereiten Räuber. Ranisch zog mit seinem Team in einen Wald in Brandenburg, drehte in einer Woche den Film, wobei Abend für Abend neu überlegt wurde, wie die Story weitergehen könnte. Heraus kam ein toller Film für Kinder – und für Erwachsene. Denn so einfallsreich bösartig wie der Zauberer hat man selten einen Schurken agieren sehen; und ein Kinderfilm, der so sehr das Happy End einer heilen Familie vermeidet,

„Finsterworld“ von Frauke Finsterwalder ist ein Beispiel dafür, dass deutsches Kino nicht mehr gleichgesetzt werden darf mit Eindeutigkeit und eingebauter moralischer Rückversicherung. Was Ironie ist, was reiner Comedy-Sketch, was ernsthafte Aussage, was These/Antithese oder gar, was die Botschaft des Autors sei – das ist in dieser Gewitterwolke von Hasspredigten und Keifereien, von Selbstsucht und langsam gedeihender Perversion nicht mehr auszumachen. Kein Wunder: Der Drehbuchautor ist Christian Kracht, Ehemann der Regisseurin; der genau weiß, wie er sich und seine Ansichten einzubringen hat, ohne sich und seine Ansichten einzubringen… Ein Episodenfilm um einen Pediküre-Künstler mit Fußfetischismus, um einen Polizisten, der gerne ein Eisbär wäre, um eine Dokumentarfilmerin, die zu selbstbezogen ist, um sich für irgendetwas zu interessieren, ein reiches Ehepaar, das über Deutschland abkotzt, eine Schülergruppe, die sich gegenseitig ankotzt, einen einsiedlerischen Waldläufer, der wild wird, als sein Rabe stirbt… Ein Panorama all der Dekadenz und Fäulnis, der man sich kaum entziehen kann, nicht in dieser und vor allem nicht in der Finster-Welt.

Höhepunkt des Filmfestes selbstverständlich: Die Premiere des neuen Helge-Schneider-Filmes „00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse“. Für Schneider war dies das erste Mal, dass er einen seiner Filme vorab auf einem Festival präsentieren durfte – einerseits eine große (längst überfällige) Ehrung, andererseits auch durchaus mit Risiko behaftet: immerhin exponiert man sich auf einem Filmfest, setzt sich schutzlos einem Publikum aus, das vielleicht ja, man kann es nicht wissen, auf Hochkultur getrimmt ist, auf klare Ernsthaftigkeit, und nicht auf das, was Schneider mit seiner Kunst vorhat. Nämlich hinter der Form von Nonsenskomödien und Clownerien die Ernsthaftigkeit der Anliegen so zu verbergen, dass sie dem gemeinen Zuschauer (und vielleicht auch dem gemeinen Schenkelklopfer-Fan) nicht direkt ins Auge springen. Der neue Kommissar-Schneider-Film immerhin bietet einige Ansatzpunkte, ein paar Haken, an die Exegeten und Analysten Interpretationsaufhänger befestigen können. Etwa die Zerrissenheit der Örtlichkeiten, in denen das reale Ruhrgebiet, wo an Originalschauplätzen gedreht wurde, direkt an der spanischen Küste liegt – im Film: „der spanische Teil der Stadt“; oder die Polizeigewalt, die sich nebenher abspielt, wenn in der Tiefgarage ein Verbrecher verkloppt wird und sich der Chief persönlich einen Popograpscher vorknöpft; oder das parodistische Element, das Einflüsse der gesamten Cop-Genre-Filmographie aufnimmt und nebenbei W.C. Fields und Dick und Doof einfließen lässt. Wobei, andererseits: Der Humor ist nach wie vor sehr speziell (was als höchstes Lob zu werten ist!), und manches geschieht auch einfach nur so – Sergej Gleithmann, den die Kameraperspektive als Zwerg darstellt, während Kommissar Schneider aus unerfindlichen Gründen das Gespräch laut rufend führt; oder die Tänzchen, in die der Kommissar ab und an verfällt… Warum nun ausgerechnet dieser Film aus Schneiders Œuvre sich dennoch so offen gibt auch für die, die bisher wenig mit ihm anfangen konnten? Nun: Der Film sieht ganz einfach verdammt gut aus: gedreht auf 16mm, perfekt stimmig ausgeleuchtet, mit ausgezeichneter Ausstattung und dynamischer Montage, in der sich die Ruhe der spanischen Küste gegen die Hektik im Polizeirevier stemmt. Und umwerfend komisch ist er noch dazu!

Die deutsche Kinoreihe des Münchner Filmfestes zeigte etwas, das hoffentlich zum Trend werden wird: Dass das deutschen Kino weit darüber hinaus ist, ein gesetztes Problem zu verfilmen – wie es in den Vorjahren in diversen deutschen Reihen auf diversen Filmfestivals zu beobachten war –, dass sie vielmehr tatsächlich eine Geschichte filmisch er- und begreifen. Das mag an veränderten Ansätzen bei den Filmemachern liegen; das mag auch daran liegen, dass die Kuratoren andere Werke – nämlich eben: tatsächlich Filme statt Bebilderungen – aussuchen (seit 2012 besorgt Christoph Gröner dieses Geschäft in München, und seine diesjährige zweite Amtszeit lässt für die Zukunft Großes hoffen); vielleicht aber, und das wäre langfristig gesehen die schlechteste Option, ist dies schlicht ein Ausnahmezustand, der schon im Herbst in Hof nicht mehr gilt. Immerhin aber: Diese Filme dieser Reihe dieses Festivals sind in der Welt. Und da bleiben sie auch.
Und jetzt muss nur noch das Publikum bemerken, dass sich hier Vieles und vielleicht Entscheidendes tut.


Harald Mühlbeyer

NOW YOU SEE ME: Kaputtgetwistet - oder: Das Elend mit der Billig-Surprise


Alexander Gajic auf seinem Blog „Real Virtuality“ hat angesprochen, was ich hier noch vertiefen möchte, etwas, das ihn – wie mich – eminent gewurmt hat und Anlass bietet für eine generelle Reflexion zu einem Phänomen, das gerne den Zuschauer und mehr noch die Erzähltheorie umtreibt: den Plottwist, also die überraschende Wendung, die die Lesart eines Films auf den Kopf stellt.

Naturgemäß spoilert dieser Text im Folgenden (wenn auch sehr diffus), und wer meint, die entsprechenden Filme (namentlich unter anderem DIE UNFASSBAREN / NOW YOU SEE ME oder THE TOURIST) „unbeleckt“ sehen zu müssen, sollte hier aufhören zu lesen. Andererseits kann dieser Text ärgerliche dramaturgische Möchtegern-Überraschungen ersparen, unerfreuliche Meta-Plottwists, sozusagen (die Überraschung, wie überraschend schlecht die Überraschung ist). Ist vielleicht auch was wert...  

 
Stein des Anstoßes ist der in den USA zum Publikumserfolg avancierte NOW YOU SEE ME, der tatsächlich – und das ist das unerfreuliche – bis zum letzten Drittel tatsächliche flotte und sympathische Unterhaltung unter der Regie des schwungvollen Franzosen Louis Leterrier bietet. Michael Caine spielt hier mit – und kein Film mit Michael Caine kann eigentlich, wegen Michael Caine, schlecht sein!

Jesse Eisenberg, Woody Harrelson, Isla Fisher und Dave Franco geben in NOW YOU SEE ME vier Schmalspurzauberkünstler, die von einem mysteriösen Mastermind zu den „Vier Reitern“ verschworen werden, die schließlich in Las Vegas, New Orleans und New York eine Wahnsinnsshow abziehen – eine, in der eine Bank ausgeraubt wird, ein Versicherungsfinanzier für die Hochwasseropfer von Louisiana bluten muss etc. David Copperfields als Robin Hood; eine starke Idee, und man ertappt sich dabei (einmal mehr und ein merkwürdiges Phänomen), sich den Film als eine neue Quality-TV-Serie der Marke LOST, BREAKING BAD oder THE KILLING zu wünschen, einfach, um den Einfallsreichtum und das Potenzial der Figuren in eine Mehr von Erzählzeit und Spannungsbögen aufgefangen und zur Geltung gebracht zu sehen. 

Zweierlei macht NOW YOU SEE ME aber letztlich kaputt.

Der eine Punkt hat schon kunst- oder medientheoretische, wenn nicht gar -philosophische Gründe bzw. Dimensionen. So sind Zaubershows live auf der Bühne ein Erlebnis, auf der Leinwand aber nur Behauptung, nicht mal Abklatsch. Das heißt, dass der echte Illusionist mit Kaninchen im Hut und durchgesägter Frau enorm dann von seiner Faszination einbüßt, wenn der Kinematograf mit seiner ganz eigenen Magie auftritt und diese im zuwiderläuft. Georges Méliès zauberte etwa mit Stopptricks, DER STUDENT VON PRAG beunruhigte qua Doppelbelichtung und damit der Evokation eines „Doppelgängers“.

Wenn nun aber Zaubertricks gefilmt und filmfiktional behauptet werden, heben sich die „Magien“ der unterschiedlichen Medien, der Live-Bühne und des Kinos, auf; die schwebende Isla Fisher in einer Seifenblase fesselt in NOW YOU SEE ME vielleicht das Publikum auf den Sitzen innerhalb der erfundenen Welt des Films, weniger aber uns jenseits dieses „Show-Rooms“ weil im Zweifelsfall doch nur läppische filmische Illusionsmittel, vom simplen Schnitt bis zur digitalen Bildretusche uns den Sense of Wonder zumindest im Kinosessel austreiben oder wenigstens nur erzählte Behauptung sein lassen.

Ein anderer, schwerwiegender „Fehler“ hängt eng damit zusammen. In NOW YOU SEE ME wird zwischen Magie, Zauberei und letztlich Gaunerei ein Unterschied gemacht, die ganze Philosophie und Botschaft des Films beruht bzw. zielt darauf. Das Problem ist jedoch, dass NOW YOU SEE ME selbst letztlich auf nichts anderem beruht als auf simplem, gemeinem und läppischen Betrug. Er verrät seine eigene Figuren und seine narrative Ethik, zudem: das Publikum. Er versetzt es am Ende nicht in Staunen oder betört es zumindest mit seiner Fingerfertigkeit, sondern führt es ganz unelegant in Irre, lügt ihm ins Gesicht. NOW YOU SEE ME ist letztlich zauberhaft wie ein Taschendieb.

Dass die Zaubertricks auf der Bühne der fiktionalen Welt für den Zuschauer vor der Kinoleinwand noch halbwegs interessant sind, mag noch angehen, insofern sie aufgeklärt und entlarvt werden. Wobei freilich die Realisierung dieser Tricks, die Vorbereitung, der Ablauf samt Timing, wundersamer anmuten als wenn man es mit echter, übersinnlicher Magie zu tun hätte. Geschenkt. Auch, dass der letzte Auftritt der „vier Reiter“ (deren Charaktere der Film schmerzlich zu kurz kommen lässt), den dramaturgischen Steigerungsbedingungen sehr lasch ausfällt und in Panorama-Shots belanglos gerät – sei’s drum.

Zum wahren Ärgernis wird NOW YOU SEE ME, wenn sich am Ende die für den Zuschauer qua emotionaler Anbindung und Erzählzeit unzweifelhafte Haupt- und Identifikationsfigur als geheimer Hintermann und Strippenzieher entpuppt, der hier nicht nur einen wackeligen Racheplan entwickelt, sondern diesen auch hanebüchen exekutiert sieht.

Ist das aber nicht auch Magie? Zauberei? Oder: Ablenkung hier, Fingerfertigkeit da? Nein. Denn die „Erzählpositionen“ bei jeder Magie-Vorführung sind klar verteilt, damit ein Vertrag geschlossen zwischen Zauberkünstler und Publikum. Ihr da unten, ich da oben – ich mit meinen Wunderstücken, ihr mit eurem skeptischem Blick. Die Frage hinter jeder Nummer, die beklatsch wird, lautet ja schließlich nicht: Wie kann es sein, dass da tatsächlich ein Hase aus dem Hut kommt? Wie ist es möglich, dass eine Frau entzweigesägt wird oder in einer Kiste verschwindet? Sondern: Warum schafft es der Illusionist, offenkundig, was rational unmöglich ist, so aussehen zu lassen, als würde es tatsächlich geschehen? WAS genau das ist, ist letztlich gar unerheblich.

NOW YOU SEE ME kündigt nun diesen Vertrag (der auch der klassische Erzählvertrag ist) einseitig auf, um sich hernach gleichsam – tataaa! – zu verbeugen, als habe er eine Leistung, das Staunen, der Kunst geliefert, eine, die er versprochen hat.

NOW YOU SEE ME hält sich nicht an die Regeln des eigene Showbiz, präsentiert einen unbefriedigenden Plottwist wie zuvor schon THE TOURIST von Florian Henckel von Donnersmark (der freilich dieses Thrillerwrack nur „geerbt“ hat). In beiden Filmen ist die (Haupt-)Figur (in NOW YOU SEE ME noch mehr als in THE TOURIST) nicht der, für den wir ihn halten. Das ist deshalb problematisch, weil wir schlichtweg ja nur jene Informationen über den Charakter erhalten, den der Film uns liefert! Wir investieren Emotionen in ihn/sie, kognitiven Aufwand, um ihre/seine Position, den Wissensstand, die Beurteilung der Lage nachzuvollziehen. Schließlich heißt es aber: ätschebätsch, die (fiktionale) Figur, der ihr folgtet, dachte, fühlte anders, wusste mehr, dann ist das schlicht unredlich, betrügerisch – vor allem aber: dumm.

Unredlich, weil uns der Film u.a. die Figur zeigt, wie sie gemäß unseres mentalen Bilds von ihr handelt – unbeobachtet, außer von uns (damit: nur für uns). Das ist Schlimmer als der von Gajic angeführte Traum in „Dallas“, der einfach die Serien-Geschichte von und Bobby Ewings Tod negierte, denn immerhin verwies der Zug auf eine, wenn auch ad hoc, eingefügte Erzähl- bzw. Interpretationsperspektive. So etwas wäre in NOW YOU SEE ME auch ohne Weiteres möglich gewesen – einfach, in dem man die reizende Interpol-Beamtin Alma alias Mélanie Laurent (INGLOURIOUS BASTERDS) zur Zentral- und Reflektorfigur gemacht hätte und nicht den sympathisch knautschigen Marc Grüffelo äh, Ruffalo, der am Ende des Film nicht mal die Größe hat, sich vor uns zu Verbeugen oder Schimäre (wie Keyer Soze).  

Dumm deshalb, weil die Filmgeschichte zeigt, wie man durchaus, mit erzählerische Lauterkeit und Finesse verblüffen kann, auch, was die Hauptfigur als Erlebnisträger und handlungserschließenden Stellvertreter des Publikum anbelangt. THE SIXTH SENSE von M. Night Shyamalan ist so ein Fall, den ich nicht nur deshalb liebe, weil der Film letztlich gar ohne finalen Plottwist ein würdiger, eigenständiger Film gewesen wären, sondern auch, da wir stets über den selben Wissensstand wie die Figur verfügen. Erst und nur zusammen mit dem Protagonisten erfahren, erleben wir, dass er ein Geist ist; wir sind mit seiner Verwirrung kurzgeschlossen, und die humanistische Botschaft erfährt ihre Doppelung hin auf die narrative, die strukturelle Ebene. Der Überraschungsfaktor hebt darauf ab, wie eng wir tatsächlich die ganze Zeit über mit dem Helden verknüpft waren – und: wie subjektiv.

Ein anderes Beispiel: THE USUAL SUSPECTS / DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN, in dem sich die (wohlgemerkt: Binnen-)Erzählung als derart unzuverlässig entpuppt, dass wir gar nicht mehr entscheiden können, was „erfunden“ ist und was wahr (innerhalb der fiktionalen Welt). Gerade dieser Film liefert genau das Gefühl eines magischen Tricks, denn NOW YOU SEE ME auf der Dialogebene feiert, selbst aber narrativ leichthin in die Tonne tritt.

Sicher, schlechte, sprich unmotivierte, selbstzweckhafte und (sowohl eigen- wie allgemein erzählerisch) unlogische Plottwists gab und gibt es immer wieder. Bisweilen denke ich auch, dass FIGHT CLUB besser ohne explizite mentale Doppelgängerei der Hauptfigur funktionierte. Schön auch, wie Anfang der 2000er in Filmen wie THE JACKET (2005) oder Marc Forsters STAY (2005) derartige Plottwists gar nicht mehr der „kognitiven“ Cleverness wegen verwendet wurden, sondern insbesondere – oder vor allem – rein der emotionalen, humanistische Valenz der Filme (der Effekt nicht als einer der Konstruktion, sondern des Affekts). Und dabei auch ihre Schlüssigkeit selbstbewusst und überaus einnehmend preisgaben. Etwas übrigens, das nur kleingeistige Ignoranten sich über das Ende der Serie LOST beschweren lässt, die nicht verstehen, dass die größte Überraschungswendung dieses TV-Hits eine ist/war, die letztlich (und: immer schon) nicht das Hirn mit seinem Genrewissen etc., sondern des „Herz“ zum Hauptzielpunkt der Narrativattacke erklärte.

Was nun NOW YOU SEE ME so fragwürdig macht, ist, dass die echten, solide und funktionierende Storyverblüffungen nach wie vor in der Filmlandschaft möglich und zu finden sind – wenn auch (wieder) an den Rändern oder jenseits des Mainstreamkinos. THE TALL MAN von Pascal Laugier, der zuvor mit MARTYRS intelligent schockte, gaukelt gar mit den Genreerwartungen selbst – so sehr, dass die läppischen 5,9 Wertungspunkte auf dem Idiotentummelplatz IMDB schon wieder eine Auszeichnung sind.

Wenn aber Alexander Gajic in seinem Blogbeitrag Danny Boyle mit SHALLOW GRAVE als Gewährsperson für die Unterwanderung der Publikumserwartungen heranzieht, ist das zugleich unglücklich wie bezeichnend, weil Boyle selbst mit seinem aktuellen Film TRANCE (Buch: Joe Ahearne u. John Hodge – letzterer Autor von SHALLOW GRAVE) bei aller visuelle Brillanz eine Erzählung vorgelegt hat, die aufs Enttäuschendste nur auf der Oberfläche und fern, gar über Gebühr entfernend, von den Figuren „twisted“ auf das jede der dramaturgischen Kniffe zur freudlosen Wendungsonanie oder gar -routine verkommen. Standard. Reine Akrobatik, ohne Herz und Hirn. Und ohne Körpergefühl. Man kann sie übrigens auch in anderen (nicht nur) dahingehenden Fehlzündungen der letzten Zeit beobachten: in dem erbärmlichen Untergang der ansonsten gloriosen DIE HARD-Reihe A GOOD DAY TO DIE HARD (wobei sich der Vergleich lohnt mit dem erfolgreich plottwistenden DIE HARD 2 – DIE HARDER). Oder dem modernen Derivat WHITE HOUSE DOWN. Ebenfalls abgenudelt und der ästhetischen Wucht unwürdig in seinem Pointilismus. STOKER von Chan-wook Park.

Entsprechend ist NOW YOU SEE ME vielleicht ein extremes, aber kein Ausnahme-Beispiel für den Schindluder, den man mit der Handlungsführung, dem eigenen Sujet und Thema, wie mit dem Intellekt (etwa der qua Filmwissen geprägten kognitiven Kompetenz) des Zuschauers derzeit in Hollywood und darüber hinaus treibt.

Mehr Innovation, zumindest aber Besonnenheit und Respekt von und im Umgang mit dem Plottwist tut Not – und damit auch mit dem Publikum selbst.

   
zyw

Filmfest München 2013: Jakob Lass und "Love Steaks"

Lustigerweise beginnt Jakob Lass seinen Film "Love Steaks" so, wie Brigitte Bertele "Grenzgang" anfangen ließ: Mit einem pinkelnden Mann. Bei Bertele: Jens Eidinger, der aus Frust über Studium, Professor und Freundin ein Goethe/Schiller-Plakat anpisst. Bei Lass richtet steht Clemens (Franz Rogowski) als Silhouette an einer Strandklippe, zunächst zusammengeklappt wie ein Taschenmesser, eher einem Felsen gleich, dann richtet er sich auf zum Wasserlassen und wandert mit seinem Rucksack auf dem Rücken in ein Hotel. Dort beginnt er seine Arbeit als Masseur im Wellnessbereich; doch das Mythische der ersten Bilder ist da schon gewichen zugunsten eines dokumentarischen Anstrichs - denn Lass hat mit seinen paar Darstellern und seinem kleinen Team tatsächlich in diesem Hotel an der Ostsee gedreht, während des laufenden Betriebs, mit den Hotelangestellten, die sich als Nebenfiguren selbst spielen.

Clemens nächtigt im Putzraum, wo Hausmädchen und Zimmerkellner jederzeit Zutritt haben; lernt die Techniken des Energiewegschaufelns kennen, die richtigen Duftessenzen für seine Kundinnen, wie man sich das Handtuch vors Gesicht hält, um sie diskret sich entkleiden zu lassen. Und allmählich lernt er auch Lara (Lana Cooper) kennen.
Die arbeitet als Azubi in der Küche, ist ins ruppige, neckende, eingespielte Team integriert, macht jeden Spaß der Kollegen mit, trinkt auch mal hier ein Schlückchen und da noch eins. Und bemerkt ebenfalls Clemens, der so ganz anders ist. Sie burschikos, draufgängerisch, energetisch; er sanft, aufrichtig, schüchtern, naiv.

Sie geht auf ihn zu. Sie nimmt ihn sich. Macht sie sich einfach über ihn lustig, den tollpatschigen Typen aus der Wellness, nuschelnd mit seiner Hasenscharte? Du strahlst den puren Sex aus, sagt sie, das ist ironisch gemeint, wie sowieso alles bei ihr ironisch ist, so ironisch, dass es ihr schon wieder ernst ist.

Jakob Lass schafft es, aus seinen dutzenden Stunden Filmmaterial genau diese eine Geschichte herauszuschälen, diese Story, diese Charaktere. In kleinen, subtilen Gesten und Momenten und in großen Aktionen, in raumgreifenden Späßen trifft er den Nerv seines Films: eine amour fou, mit dem, der straightforward und direkt ist und der, die alles als Spiel begreift, als uneigentlichen Unernst. Die den Polizisten ins Gesicht lacht, wenn sie sie wegen Trunkenheit am Steuer verhaften, die Clemens zur Verarsche des Hotelmanagers anstachelt, die anarchische Zerstörungsenergie in sich trägt.

Clemens, der Sanftmütige, will sie heilen, geht mit ihr eine Wette ein: Sie lässt den Alkohol. Er lässt die Angst. Tatsächlich öffnet er sich nach außen - doch ihre Überdrehtheit lässt sich kaum bändigen. Denn es geht um Energie, um das Umlenken von Energie, was Clemens ayurvedisch mit seinen Händen überm Bauch der Massagekundinnen vollbringt, was bei Lara nicht funktioniert. Meditation, Entspannung, zur Ruhe kommen ist nicht drin; und Lass führt diese Konstellation der zwei Extreme nicht nur zu glänzend komischen Momenten, sondern auch zu einem melodramatischen Finale, in dem Lügen und Missverständnisse, unendliche, aber fehlgeleitete Aufopferung und das spöttische Spiel sich auftürmen bis zum blutigen Kampf am Strand. Und zum blutigen Kuss, der sie endgültig aneinander bindet.

"Love Steaks" - das ist ein, ich sage es frei heraus, recht doofer Filmtitel. "Ein Luxushotel. Steaks werden gebrutzelt, Speckröllchen massiert. Clemens (zart) kommt als Frischling in den Wellnessbereich. Lara (gut durch) muss sich im Küchenrudel behaupten." - so lautet die offizielle Auflösung der Metapher, der Film käme gut ohne sie aus.
"Love Steaks" - konkret bezieht sich das auf eine der ersten Liebesszenen des Films, in der Küche, eine unvergessliche Annäherung über Bande der beiden. Lara, aufgedreht wie eh und je, interessiert sich für Penisse, hat Clemens einen Blut- oder einen Fleischschwanz? Sie will auch wissen, wie das mit dem Blasen ist, alles im kindlich-spielerischen Modus, steckt sich den Finger aus der Hose, Clemens auf den Knien - das erinnert an Friedkins "Killer Joe", letztes Jahr auf dem Münchner Filmfest. Dann nimmt sie Clemens nackt in die Kühlkammer, packt ihn mit vakuumverpacktem Steak ein; denn sie will wissen, wie das ist mit dem Schwanz und der Kälte. Ein Liebesakt ist das, wie er selten zu sehen ist; verdreht, aus dem Spiel heraus konsequent, auf extrovertierte Weise schüchtern, sehr fleischlich, erotisch, aber gar nicht sexuell. Und Beweis für Jakob Lass' Einfallsreichtum, wenn es um seine Charaktere geht, um das Formen einer Geschichte um sie herum


Harald Mühlbeyer