Grindhouse-Nachlese November 2014: Politischer Striptease und Nazi-Biker-Nackedeis

„Wenn es Nacht wird in Manhattan“ / „Cotton Comes to Harlem“, USA 1970, Regie: Ossie Davis

„Mad Foxes“ / „Los Violadores“ / „Stingray 2“ / "Feuer auf Räder" [sic!] u.v.a., Schweiz/Spanien 1981, Regie: Paul Grau


Werden wir mal politisch, eine Grindhouse-Nacht lang. Und das meint: Werden wir mal grundsätzlich, ein paar Absätze lang.
Der Exploitation-Film entstammt dem Politischen, den gesellschaftlichern und kulturellen Umbrüchen der 1950er und 1960er Jahre; mit Rock’n’Roll-, Biker-, Beach- und sonstigen Teeniefilmen nimmt er die gegenkulturellen Strömungen auf und als Zielgruppe war. Damit steht er im Gegensatz zum klassischen Hollywoodkino, das möglichst die Gesamtheit der Zuschauer im Blick hatte, dafür auch das Genre- und Starkino erfunden hat, die nun auf der anderen Seite der Medaille in niederer Form, vielleicht als pervertierte Travestie, vielleicht auch als qualitativ heruntergeschraubte Billigvariante, auf den Markt strebten.

Die Bürgerrechtsbewegung um die schwarze Gleichberechtigung in Amerika brachte dann innerhalb des gegenkulturell orientierten, gleichwohl auf Gewinn strebenden und daher niedere Instinkte ansprechenden Exploitation-Grindhouse-Trash-Films den Blaxploitationfilm hervor. Der wiederum schlug – wie in vielen (Sub)Genres verbreitet, die als eine Art Geburtsfehler ihren eigenen parodistischen Umschwung schon in nuce mit sich tragen – ab sagen wir ca. 1973 um in die typischen Black-Macho- und Big-Tit-Mama-Action-Klischees, die wir so lieben: schlagkräftige „Nigger“ (Selbstbezeichnung) und nackige Chicks bei diversen Verfolgungsjagden, Prügel- und Schießereien, und das dann in einer deutschen Synchro, die die höchsten der Gefühle hervorruft…

Am Anfang aber stand da eben doch noch der politische Gedanke einer black community, die unter dem Druck von außen, sprich: des Systems der Weißen, zusammengeschweißt wird. Eine schwarze Gemeinschaft, für die diese Filme gedreht wurden, von der diese Filme handelten, und in der diese Community auch siegte. Martin Luther King und Malcolm X werden als Paten benannt; und im Grunde ist die bloße Existenz dieser Filme schon fast so etwas wie die Revolution – oder der erste Schritt hin zur Utopie – der selbstbewussten, selbstbestimmten, gleichberechtigten black people of America.

Dieser politische Ursprung, umgesetzt in filmischen Subtext, wird freilich ins Gefäß des Genres gegossen, und zwar des mehr oder weniger reißerischen des Actionfilmes – weil das die Leute anspricht, weil sich das an der Kasse auszahlt, und wahrscheinlich ist dies auch das, was die Filmemacher von Regie bis Produktion am ehesten können, oder zu können glauben.

Was macht die Baumwolle in Harlem?
In „Cotton Comes to Harlem“, einem der frühen Blaxploitation-Filme, ein Jahr vor „Shaft“, gelingt diese Mischung aus (subtexueller) politischer Relevanz und klarer Publikumsaffinität: Ein Krimiplot mit Actionszenen, punktuellem comic relief inklusive doofem weißen, ja sogar blondem Polizisten, pfiffigen schwarzen Tausendsassas und komödiantisch überzogenen Spektakulärismen auf der einen Seite. Und auf der anderen: schwarze Hauptfiguren; die Bevölkerung von Harlem (bei der sich die Filmemacher im Abspann für die Kooperation bedanken); ein schwarzer Reverend als Vorsteher einer „Back to Africa“-Bewegung, und ein Ballen Baumwolle als MacGuffin, Symbol kontinuierlicher sklavischer Unterdrückung.

Der Reverend - ein neuer Moses?
Der Anfang des Films: Eine Kundgebung von Reverend Deke O’Malley, der eine Art schwarze Zionismus-Bewegung propagiert und Geld sammelt, Anteile für ein Schiff namens „Black Beauty“, das seine Anhänger über den Ozean zurück ins afrikanische Paradies bringen soll. Starker Ausdruck der Unbehaustheit der Schwarzen im zeitgenössischen Amerika – jedenfalls hat O’Malley eine Menge Zulauf. Doch dann – Schüsse, Attentäter, Erinnerungen an Martin Luther King und Malcolm X und ihre letzten Minuten bei öffentlichen Versammlungen – und die 87.000 Dollar, die der Reverend gesammelt hat, sind geklaut.

Zum Glück gibt es die unkonventionellen Polizisten „Gravedigger“ Jones und „Coffin“ Ed Johnson. Die nicht vor heftigen Verfolgungsjagden und nächtlichen Schießereien auf dem Schrottplatz zurückscheuen und dabei immer Herz, Ohr und Beine fest in der Bevölkerung verankert haben: Die beiden gehören zur Community, nur dass sie dabei für ein Mindestmaß an Ordnung sorgen. „Wir haben vielleicht Knochen gebrochen, aber niemals ein Versprechen!“ – wo Aufruhr ist, da können die beiden beruhigen und dennoch sicherstellen, dass nicht einfach Recht, sondern Gerechtigkeit geschieht. Zwei eingespielte Buddys mit harten Fäusten, coolen Sprüchen und dem richtigen Riecher, so soll es sein. Ihr Gegenspieler, das wird schnell klar: Deke O’Malley, der Windhund, der Geld sammelt und es selbst klauen lässt, der die Gutgläubigkeit, nein: die Hoffnung „seiner“ Leute ausnutzt und damit immer wieder durchkommt…

Striptease auf Baumwolle
Da fliegen Leute bei Schlägereien oder Autounfällen meterhoch durch die Luft, da gibt es Glanzauftritte der Komiker Redd Foxx („Sanford & Son“) und Lou Jacobi (der Transvestit in Woody Allens „Was Sie schon immer über Sex usw. usf.“), eine liebreizende Dame, die duscht, und eine drehbare Kirchenkanzel als Eingangstor zu einem Geheimgang. Und natürlich als Ziel der Begierde dieser Baumwollballen – was macht der eigentlich in Harlem? Das ist Unterhaltung in schönster Form – und vermengt mit einem trotz allem stets spürbaren politischen Fundament ist dieser Film eine wirklich runde Mischung; produziert von Samuel Goldwyn, Jr., ja: Verbindung zu good ole Hollywood – und am ehesten findet sich die goldrichtige Geisteshaltung des Films, wenn sich eine Stripperin über all diese Ballons und Federn und Fächer beschwert, die ja so gar nichts über die black people aussagen; und am Ende sehen wir sie tanzen auf dem Baumwollballen, die perfekte Verbindung von simplem Reiz-Reaktions-Schema und gesellschaftlich-selbstbewusst-revolutionärem Kontext, wenn der Striptease politisch wird.

Politisch geht es weiter. Naja, so irgendwie politisch. Mit Nazis und so. Vor allem aber: Mit Hal. Der hat eine Art blonden Haarputz auf, den jeder Schlagersänger als too much ablehnen würde; ist so doof, dass sogar sein FDP-Aufnahmeantrag abgelehnt wurde; hat aber ein super Stingray-Rennauto, das dem Film einen seiner vielen Titel gab: „Stingray 2“, womit sich Regisseur Paul Grau – unter dem einfallsreichen Pseudonym Paul Gray – als inoffizielles Sequel an einen inzwischen auch schon vergessenen Film anhängt, in dem Mark Hamill mitspielt. Aber wurscht. Hal jedenfalls hat gescored: mit seiner gerade 18 gewordenen Freundin rauscht er der Defloration entgegen, aber Halt: An einer Kreuzung überholt sie das Böse. In Form einer Gruppe Motorradrocker in so exzessiver Nazi-Leder-Kleidung, dass der innere Reichsparteitag, den wir bei diesem Anblick empfinden, nur von den vor Entzücken im Viereck springenden Marcusstigleggers in uns übertroffen wird (an dessen schönes Bändchen „Nazi-Chic und Nazi-Trash“ wir an dieser Stelle erinnern wollen).

Räder müssen rollen
Jedenfalls: Nach dieser ersten eher unfreundlichen Begegnung geht’s weiter in die Disco, wo die Flasche Privatwhisky wartet, Hal sondert Schleim und Phrasen ab, ein bisschen Rummachen mit der Freundin – hey, ihr 18. muss gefeiert werden! –, und verbale Vorbereitung auf die Entjungferung: „Für mich ist es auch das erste Mal! Ja, ich hatte schon viele Frauen – aber weil es für dich das erste Mal ist!“ Immerhin hat man sich schon vor acht Jahren (!) für dieses First-Time-Fickificki verabredet. Auf der Fahrt zum Bett – die Nazirocker wieder. Sie hauen Hal auf den Kopf und vergewaltigen dessen Babsy (ausgesprochen: „Bäbsi“) – er sitzt in der Ecke, und sehr lange bumst der Nazi-Capo das verzweifelte Mädchen, das damit auch aus dem Film verabschiedet wird. Womit klar ist, dass wir es hier mit einem heftigen inhärenten Zynismus zu tun haben, im ganzen Film, in all seinen Strukturen, und vielleicht ohne es selbst zu bemerken, denn Regie, Mise en scene, Schauspieler, Kamera, Musik, Schnitt – alle sind so herrlich unbedarft! Und aus jedem frame tropft hochkonzentrierte Unmoral! Hach!

Direkt nach der Vergewaltigung will Hal Rache – aber an seine Kleine denkt er nicht mehr, die ist in der Klinik versorgt. Vielmehr schneidet der Film auf ein hohes phallisches Gebäude, wo angeblich die Polizei drin wohnt, die aber auch nicht hilft. Dafür sehen wir Hal im Bett mit seiner Geliebten – also einer anderen jetzt, er hat nämlich viele –, und zudem ruft er seine Kumpels vom Kickboxerkaratekungfu-Club an. Nachts im Amphitheater (!) gibt’s Klopperei, und der Nazi-Führer wird entmannt. Was wir auch so ziemlich genau sehen, wie ohnehin die Penisquote im Film hoch ist.

Was haben wir gelernt in dieser Exposition? Hal ist ein Arsch. Die Nazis sind Ärsche. Die Frauen
Vergewaltigt und alsbald vergessen
sind McGuffins. Und im Weiteren wird gerächt und gegengerächt, hin und her, mit Maschinenpistolen und Handgranaten gegen den Karateklub, dann Hal hinterher – und ganz plötzlich weiß man als Zuschauer gar nicht mehr, woran man ist. Weil ein nackter Mann und eine nackte Frau im Bild auftauchen, deren Leibesmitte in Großaufnahme, und der fummelt an ihr rum, am Strand, und sie lässt es geschehen, und er beschwört seine Liebe, und sie so: jaja, und er so: liebst du mich, und sie so: jajajaja. Dann taucht Hal wieder auf in seiner Stingray, wir freuen uns, dass wir uns noch im selben Film befinden, und weil Hal ein viel geilerer Stecher ist als der Schlaffi vom Strand, schließt sich die Nackige als Hitchhikerin unserem Helden an, der mit ihr aufs Landgut seiner Eltern fährt. An den eigentlichen Grund seiner Fehde mit den Nazirockern, an die Vergewaltigung oder wenigstens vielleicht an die verpasste Entjungerferung denkt Hal jetzt keine Sekunde mehr. Auf dem Landgut: Die Mama im Rollstuhl, der Papa Typ alternder Intellektueller, der Sohn reitet mit seiner Neuen aus. Die immer denselben Pullover anhat, während Hal, stilbewusst wie immer, ständig sein Outfit wechselt, auch mehrmals am Tag: Muss ja nicht immer der olle Pullunder sein mit dem bunten Muster, das auf unglaublich irritierende Weise die Rallyestreifen der Stingray repetiert…

Innere Werte
An dieser Stelle ist es ratsam, darauf aufmerksam zu machen, dass wir es hier mit einem der trashigsten Trashstreifen der Weltgeschichte zu tun haben. So schlimm, dass sich sogar Produzent Erwin C. Dietrich schämte und in den Credits verleugnen lässt! So schlimm, dass die Nazis immer mal wieder keine Hakenkreuze in ihren Armbinden tragen – das scheint von einem letzten Rest Verantwortungsgefühl bei den Filmemachern zu zeugen (freilich aus Selbsterhaltungstrieb heraus), die nämlich vermutlich bei den Außenaufnahmen eben doch keine Hoheitszeichen nationalsozialistischer Provenienz vorführen wollten; Drehgenehmigungen gab es wahrscheinlich eh keine. Jedenfalls: Im Freien keine Swastikas, dafür im Haus. Einer der wirklich üblen Continuity-Fehlern, den wir krass bemerken, als die Bande das Landgut überfällt und der Film wieder in seinen Gore-Modus rutscht, mit der Heckenschere im Rachen des Garten-Boys, mit den MG-Salven durch diverse Leiber, und der netten spanischen Haushälterin werden bei lebendigem Leib die Eingeweide herausgerissen.

Ja: Der Film wurde in Spanien gedreht, das versucht er auch gar nicht zu vertuschen, wiewohl die Synchro das dennoch nicht mitgekriegt hat und Hals Wohnung penetrant in der Marktstraße verortet.

John Cleese-Ähnlichkeitswettbewerb (letzter Platz)
Der wird nach Bumsi-Freuden und Familiegemeuchelt-Schock zornig und zieht los, jetzt aber mal persönlich die bösen Nazibuben so richtig ranzunehmen. Dafür hat er sich ein Gewehr besorgt – bzw. drei – nein: eigentlich doch nur eines, das aber von Szene zu Szene seine Gestalt wandelt, von Schrotflinte über Winchester zu Pumpgun, wie ja auch die Nazis von Einstellung zu Einstellung in derselben Szene diverse Waffen in den Händen halten. In seinen Fehlern ist der Film konsequent! Haben wir zuvor den obersten Rocker-Lackaffen beim Pissen gesehen, nackt im Garten, der dann von seinem Kameraden in den Popo getreten wurde und ihm – Penisalarm! – nachstieg, als sei er Beamter im Ministry of Silly Walks, sehen wir ihn jetzt aufm Klo sitzen, das Hal hurtig in die Luft sprengt. Ein schöner Tod! Noch schöner, dass er in der nächsten Szene durch ein Filmstudio muss, und zwar durch das Set eines Filmes namens „Mad Foxes“, der dort gerade gedreht wird – postmoderne Selbstreflexivität, ick hör dir trapsen! Einer der Nazis wird bei seiner Domina gekillt, und am Ende – nein, das muss man gesehen haben. Was der entmannte Oberführer in seiner Freizeit gebaut hat. Und was dem Film letztendlich doch ein Happy End verleiht: weil nämlich alle Unsympathen tot sind. Sprich: alle Filmfiguren.

So, wie wir’s uns ja auch im wirklichen Leben wünschen, wo an allen Ecken Nazis hocken oder gewalttätige Lackmeier, tumbe Schläger und üble Flittchen: Über die lachen wir hier, ja, wir lachen, hahaha, wir lachen die Schrecken realer politischer oder gesellschaftlicher Quatschköppe und Gewaltextremisten weg, weil in diesem Film alles nur eitler Tand ist. Und weil wir’s wissen, genießen wir’s.


Harald Mühlbeyer

Filmkritik: "Liebe mich!" von Philipp Eichholtz

Von unserem Geschwisterblog "Ansichtssache - Zum aktuellen deutschen Film"



„Von Oma gefördert“ ist dieser Film laut Vorspann – eine andere Produktionsfirma wird nicht genannt. Und der Abspann konstatiert: Gedreht nach dem „Sehr guten Manifest“ von Axel Ranisch. Das heißt insbesondere: In einem Schwung gedreht, in einem rauschhaften Arbeitsvorgang. Mit einem kleinen Filmteam, beweglich und spontan. Improvisiert ohne ausgefeiltes Drehbuch. Und: Tragisch und komisch. In Freiheit selbstbestimmt und unabhängig entstanden, gedreht von glücklichen Filmemachern, ein Bioprodukt der deutschen Filmlandschaft.

„Liebe mich!“ ist ein persönlicher Film: „Ab und an trifft man auf Menschen, an denen man wächst. Für mich war Sarah so eine Person“, sagt Regisseur Philipp Eichholtz: „Nach drei Jahren Sehnsucht, Herzschmerz und Liebeskummer ist dieser Film eine Liebeserklärung an alle lauten, impulsiven und fordernden Menschen, die ihre Fehler und Macken offen und mutig nach außen tragen.“

Sarah: Sie hat einige Macken. Ziemlich große sogar. Und das Tolle am Kino ist: Figuren, die im richtigen Leben nerven würden, kommen einem im Film nahe. Sarah macht zu Anfang für ihren Freund Frühstück, liebevoll und allzu übereifrig. Er hat nicht die Zeit und die Kraft, sie in ihrer Nähesucht (die sich nur in kleinen Nuancen ausdrückt) zu ertragen. Also Streit. Also schmeißt sie ihren Laptop nach ihm. Der fliegt durchs Fenster. Scheibe kaputt, MacBook sowieso. Und Sarah auf der Straße.

Huhn und Hummel
Dort wartet Axel Ranisch auf sie. Im Bienenkostüm. Sie im Hühnerkostüm. Und die beiden verteilen Flyer an die Berliner Passanten, ihr Job neben dem Studium. Geldsorgen genug, ein neuer Laptop kostet 2000 Euro. Und ein rasendes Temperament zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Zwischendurch wütend. Und alsbald verliebt. Nämlich in den Laptopverkäufer…

Impulsiv ist Sarah, sie denkt nicht immer nach. Oder um es mit den Worten ihres Vaters (Peter Trabner wieder Mal in einer Glanzrolle) zu sagen: Wenn man fünf Minuten nachdenkt, weiß man, dass das bescheuert ist; die Lösung einer Gehirnamputierten. Nämlich: Ihre eigene Wohnung für einige Monate unterzuvermieten, dafür 2000 Euro zu erhalten, um das MacBook zu kaufen – und auf der Straße zu stehen. Und beim Papa einzuziehen. Und bei dessen schwangerer Freundin. Ausgesetzt dem Sarkasmus ihres Erzeugers, den dieser in Hochform auf ihr ablädt. Wenn er nicht unvermittelt in die autoritäre Rolle fällt: Ellbogen vom Tisch! Spülmaschine einräumen!

Philipp Eichholtz weiß offenbar, wovon er erzählt. Der Laptopverkäufer Oliver sei Oliver Jerke nachgestaltet, mit dem Eichholtz schon seit Schulzeiten befreundet ist, der nun den Film mitproduzierte. Und Sarah – Sarah ist Sarah, und da lässt sie sich nicht dreinreden. Wild verliebt zieht sie mit Oliver durch Berlin, zwischendurch zündet sie des Nachts das Moped ihres Ex-Freundes an, um anderntags die überflüssigen Möbel aus ihrer untervermieteten Wohnung bei diesem abzuladen. Abladen zu lassen – denn den Umzug muss Oliver, ihr Neuer, bewerkstelligen, sie selbst traut sich nicht und ist lieber Eisessen gegangen. Sarah, wie sie leibt und lebt: Launisch und leidenschaftlich, ungestüm und aufbrausend, kratzbürstig und liebesbedürftig

Philipp Eichholtz mit Filmförderung
Mit sechsseitigem Drehbuchentwurf ist Eichholtz an die Sache rangegangen, mit einem Budget von 4000 Euro. Und hat daraus ein kleines, großes Drama eine irrsinnige Komödie um Liebe und das Vergehen der Liebe geschaffen.

Harald Mühlbeyer



"Liebe mich!"
D 2014. Buch, Regie: Philipp Eichholtz. Kamera: Fee Scherer. Schnitt: Daniel Stephan. Musik: Luca, Ezra Furman, Cotton Jone. Produktion: Oliver Jerke, Philipp Eichholtz.
Darsteller: Lilli Meinhardt (Sarah), Christian Ehrlich (Oliver), Peter Trabner (Papa Dieter), Eva Bay (Natascha), Axel Ranisch (Dennis).
Länge: 80 Minuten.
Noch kein Verleih, noch kein Kinostart...

Cinema Quadrat sucht Zuflucht

Das Cinema Quadrat ist in Mannheim in der Ostkurve der Ringstraße um die Quadrate-Innenstadt beheimatet, im Erdgeschoss des Collini-Centers. Dieses besteht aus zwei Gebäudeteilen, einem 95 Meter hohen Wohn-Hochhaus und einem kleineren Bürokomplex, in dem eine Menge städtischer Ämter untergebracht sind.
Oder besser: waren.

Denn dieser Büroteil ist baufällig. Die meisten Behörden sind schon ausgezogen. Das Cinema
Collinicenter mit Wohn- und Büroturm
Quadrat harrt noch aus, muss noch ausharren: Denn eine neue Bleibe ist noch nicht gefunden. Dabei steht schon seit fast zwei Jahren ein Gerüst um das Gebäude, nicht für Renovierungsarbeiten, sondern als Schutz, weil sonst Betonbrocken aus der maroden Fassade herunterfallen könnten. Aus gewöhnlich gut informierten Kreisen verlautet, dass die Miete für das Gerüst die Stadt Mannheim monatlich einen hohen fünfstelligen Betrag kostet. Eine Renovierung lohne sich nicht; ein Abriss aber sei kompliziert. Denn der Wohnturm, der von der Eigentümergemeinschaft stets in Schuss gehalten wurde, ist nicht betroffen vom Verfall; beim Büroturm aber habe die Stadt wohl versucht, Geld zu sparen durch mangelhafte Instandhaltung...

Nun ist es aber so: Beide Gebäudeteile stehen auf einer Betonplatte, unter der sich die Tiefgarage befindet. Wird ein Teil abgerissen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich der andere Teil wie auf einer Wippe absenkt...

Wenn man sich durch das Labyrinth von Gerüststelzen durchmüht, findet man den Weg ins Cinema Quadrat. Klar ist aber: Das Collini-Center hat keine Zukunft, das Cinema Quadrat muss irgendwann raus. Und sucht mit zunehmender Verzweiflung ein Gebäude, das sich für den Kinobetrieb eignet. 99 Plätze, ein Foyer, ein Raum für den supermodernen 4k-Projektor...

Am 26. Novermber sind die Vertreter der Stadt Mannheim ins Collini-Center geladen, um über die Situation zu informieren, um sich auszutauschen über das weitere Vorgehen. Und um überhaupt das Cinema Quadrat auf der Prioritätenliste etwas nach oben zu schubsen. Immerhin ist es eines der ältesten kommunalen Kinos in Deutschland, getragen von einem emsigen Verein, der ein ausgezeichnetes Programm zusammenstellt, zudem jährlich zwei bundesweit beachtete Symposien veranstaltet, im Frühjahr als Dialog zwischen Filmwissenschaft und Psycholanalyse zu einem Regisseur, im Herbst als intensive Betrachtung eines Themas mit Vorträgen und Werkstattberichten.

Beim diesjährigen Symposium kamen direkt Einladungen: die MFG-Filmförderung in Baden Württemberg wollte das gesamte Kino nach Stuttgart umziehen lassen, der Bundesverband der kommunalen Filmarbeit lockte gar nach Berlin. Aber klar: Auf jeden Fall will der Verein in Mannheim bleiben. Fraglich ist nur, wo.

müh

Hofer Filmtage 2014: Folter, Vergewaltigung und Mord

Die Kamera streicht in sanftem Lichtschein über den schönen Frauenkörper, mit halbverhangenen Augen blickt die junge Frau den Zuschauer an, und erst langsam merken wir, dass die Hände, die über ihre Haut streifen, nicht sehr zärtlich sind. Dass Angst im Blick der Frau steht. Dass ihr Mund geknebelt ist. Auftakt zu einem kleinen thematischen Schwerpunkt bei den diesjährigen Hofer Filmtagen, der mit Entführung, Vergewaltigung und Tötung die düsteren Seiten des Lebens bebildert.

Alsbald werden ein paar handliche Pakete gefunden werden, im Kofferraum eines Autos, in Mülltonnen, auf einem Friedhof verteilt: „A Walk Among the Tombstones“, der am 13. November in die Kinos kommt, schwelgt im ganz, ganz Bösen, und lässt Liam Neeson als privater Ermittler ohne Lizenz in Abgründe schauen. Neesons Figur Scudder ist das ziemlich gewohnt, hat sich seine eigene private Psychohölle gebaut, weil Neeson eben immer wieder Ex-Alkoholiker, Ex-Brutalos spielt, die von der Vergangenheit eingeholt werden.

Regisseur Scott Frank schafft es dabei tatsächlich, über den Standard-Neeson-Faktor hinaus eine hardboiled-Atmosphäre zu schaffen, in der jeder des anderen Wolf ist, oder sein kann, in der keiner unschuldig ist, und wenn doch, dann ist er – besser: sie – alsbald tot. Scudder wird von einem Drogenboss beauftragt, dessen Frau entführt und zerstückelt wurde; bald merkt er, dass hier Serientäter ihr Unwesen treiben, und bald wissen wir auch, wer diese sind – kein Whodunnit ist das, andererseits: auch kein Suspense-Thriller, weil Scudder selbst über weite Strecken kaum bedroht ist; sondern ein Blick auf das Böse an sich, auf das, wonach die übrigen Verbrechen einigermaßen normal erscheinen; auf das, woran sich der traumatisierte Scudder wieder einigermaßen aufrichten kann.

Ja, die Bösewichter: Die sind wirklich ganz konsequent gezeichnet, sadistische Soziopathen, gewalttätig und gefühllos – und das bis ins Ultimative hinein: Wie geht es eigentlich bei einer Partnerschaft zweier irren Serienkillern so zu? Leider kann Frank seinen Film nicht wirklich ausbalancieren – vor allem die Figur des jugendlichen TJ nervt in seiner penetranten Sidekickhaftigkeit, ein Straßenkid, das sich dem unwilligen Scudder anschließt, damit der nicht ganz alleine durch die Düsternis der Stadt wandeln muss – sehr überflüssig und dem Flow des Films stromabwärts ziemlich im Wege.

Keine Angst vor Klischees, vor Trashmomenten hat der kleine deutsche Thriller „True Love Ways“ von Mathieu Seiler, und genau deshalb, weil er diese Elemente bewusst einsetzt oder zumindest in Kauf nimmt, passt hier der etwas billige Look hinter der Schwarz-Weiß-Fassade der Bilder, das zuweilen etwas unterkomplexe Spiel der Darsteller, die Orientierungslosigkeit der Film-Topologie in labyrinthischen Kellergängen und die Überambitioniertheit von Beginn und Ende, die das Ganze in eine merkwürdige Traumstimmung versetzen, in der die Ebenen des Films mehrfach verschwimmen.

Séverine will sich von ihrem Freund trennen, weil sie von einem schönen Mann geträumt hat. Und sie fühlt sich beobachtet, durchs Fenster, durch die merkwürdigen men in black im Park, durch diese starrende Rollstuhlfahrerin… während Freund Tom in der Kneipe von einem eleganten Herrn angesprochen wird mit tollem Ratschlag, die Freundin wiederzugewinnen: ein fingierter Überfall, sie dann als Held des Tages erretten…

Im Fernsehen die Übertragung einer Schönheitskönigin-Wahl sowie eine Diskussion über Snuff-Videos, und schon sind die Pole abgesteckt: Bösewichter verfolgen Séverine im Wald, sie flieht in ein Landgut,eine schlossähnliche Villa, dort wird sie Zeuge von Folter, Vergewaltigung und Mord an der Schönheitskönigin, aufgezeichnet mit der Kamera zum Verkauf an zahlungskräftige Home-Entertainment-Sadisten. Flucht, Versteck, Zurückschlagen: Séverine ist sowieso tatkräftig und selbstbewusst, sie weiß sich zu wehren; und der Film weiß in diesem Mittelteil auch sehr genau, die richtigen Akzente zu setzen: Der Tonmann des Snuff-Filmteams, der mittels seines empfindlichen Mikrophons nach akustischen Spuren Séverines lauscht; der verwunschene Märchenbrunnen im Wald; und der Retro-Charme mit Wählscheibentelefon und VW-Käfer im Schwarz-Weiß-Ambiente, durch den Seiler einen zeitlosen Rahmen schafft…

Ein ziemlich guter Film in seiner bewussten Entscheidung, in der C-Klasse zu spielen, der lediglich gegen Ende seine Dramaturgie allzu sehr ins Schlingern bringt; der aber über weite Strecken schönen Spaß bereitet.

Im Gegensatz zu einem anderen deutschen Film, in dem alles falsch und dumm ist, in dem sich der Wille zur Satire vollständig auflöst im Unvermögen an Dramaturgie, Figurenzeichnung und Erzählperspektive. Andreas Arnstedt, der zuvor den reichlich entbehrlichen Hartz-4-Porno „Die Entbehrlichen“ gedreht hat, lässt nun in „Der Kuckuck und der Esel“ einen durchgeknallten Hinterwäldler, der als Identifikationsfigur herhalten soll, einen arrogant-schleimigen TV-Redakteur entführen, um diesen endlich für das Drehbuch zu begeistern, an dem er schon so lange rumdoktert. Jetzt ist das ganze schon mal grundsätzlich eine recht larmoyante Konstellation: Ein Drehbuchautor und Regisseur, der ungefördert und ohne TV-Anstalt einen Film dreht über einen Drehbuchautor, der bei den Redaktionen der Öffentlich-Rechtlichen regelmäßig aufläuft und keinen Fuß in die Tür kriegt… Eine Haltung von beleidigtem Trotz scheint den Film zu durchziehen, im Hintergrund – aber das eigentlich Schlimme ist das, was offen in den Bildern zur Schau getragen wird.

Da haben wir Conrad, den zögerlichen, naiven Drehbuchautor, der mit seiner Familie in einem Wohnwagen im Wald wohnt und der seit Jahren an seinem Drehbuch „Der Orangenhain“ laboriert, seit Jahren hingehalten wird vom TV-Redakteur; da haben wir Stuckradt Halmer, gespielt von Jan Hendrik Stahlberg, rückratloser Schleimer und Opportunist des öffentlich-rechtlichen Systems; und, vor allem, Papa Ephraim, der seinen Sohn Conrad zur Entführung von Halmer antreibt und dessen Willen mit allen Mitteln bricht. Ihm einen Zahn zieht, mit der Beißzange; einen Wanderer, mit dem Halmer aus seiner Gefangenschaft heraus Kontakt aufgenommen hat, kurzerhand erschießt – und Halmer die Leiche entsorgen lässt, ihm auch vorher nochmal genüsslich klar macht, dass dieser Tote ein liebevoller Familienvater war… Später dann, in einer ekelerregenden Szene, wird Halmer vom degenierten Knecht des Nachbarhofes in den Arsch gefickt.

Conrad macht das alles mit, diesen ganzen väterlichen Faschismus von Ephraim, der allzeit sein Judentum raushängen lässt und vom Holocaust-Verbrechen brabbelt; während das Drehbuch, das Conrad geschrieben hat, halt wirklich scheiße ist, eine Liebesschmonzette zwischen Hardliner-Jüdin und Hamas-Aktivisten: im Grunde genau das, wonach sich die TV-Redaktionen die Finger lecken, in der Behauptung des Films aber viel zu anspruchsvoll für die Fernsehlandschaft – und ein Beispiel für die wilde, beliebige Verteilung von Spott, die Arnstedt betreibt, der sich über alles soweit lustig macht, bis nichts mehr übrig bleibt, keine Haltung, keine Perspektive. Der dieses lächerliche Drehbuch von Conrad als lächerlich behauptet, zugleich aber die TV-Redaktion-Bürokratie karikiert und ganz haltlos Salven wider die deutsche Filmkultur loslässt, die an sich nicht unrichtig sind (der kulturelle Bruch durch das Naziregime, der bis heute spürbar ist) – dies aber dem sadistischen Protofaschisten Ephraim in den Mund legt, bei dem alles, was er sagt und tut, falsch ist – eben außer seiner Schelte auf Kino und TV, die sich so ziemlich mit Arnstedts Meinung decken dürfte…

Ein erbärmliches Schauspiel, dieser Film; gedreht von einem Regisseur, der sein Handwerk nicht versteht, der wirre Ansichten wirren Figuren in den Mund legt und das als Kommentar zur Kulturlosigkeit verstanden wissen will. Einer, der rumwitzelt über die Obsession von Fernsehredakteuren über die zwanghafte Ambivalenz von Figuren, der andererseits selbst turboambivalente Figuren zeichnet vom Fascho-Juden, der in seiner Freizeit malt, oder vom Schleimer-Redakteur mit Down-Syndrom-Tochter.

Klar trifft Arnstedt manchmal empfindliche Punkte, und mitunter spielt er lustig mit den Klischees von Redakteuren und Drehbuchautoren – aber eben nur punktuell, und in einem Kontext, der alles wieder zunichte macht. Dennoch – vermutlich für diese Art satirischer Medienschelte – hat er für seinen Film in Hof den Förderpreis deutscher Film erhalten – wobei geflissentlich übersehen wurde, mit welch gefährlichen antisemitischen Topoi er spielt, wenn sein Ephraim, der Sadist, das große Wort von der deutschen Schuld im Munde führt, mit der er seine psychopathischen Aktionen rechtfertigt; und auf welch widerwärtige, ja unmoralische Art Entführung, Folter, Vergewaltigung und Mord durch den Holocaust legitimiert und zudem gleichgesetzt werden mit der Ablehnung eines Drehbuchs.

Präzision in der Inszenierung, Klarheit in der filmischen Vision, Konzentration beim Thema: Diese Tugenden exerzierte Eric Cherrière mit seinem Langfilmdebüt „Cruel“ beispielhaft durch: Wir folgen Pierre, der zuhause seinen alten Papa pflegt, der im Wachkoma liegt; der täglich tapfer seinen Weg zur Arbeit geht in einer Recyclingfabrik; der gerne die Abenteuerbücher seiner Kindheit à la „Die Schatzinsel“ liest; der in der Garage liebevoll den alten Citroën herrichtet, einen Wagen mit Einschusslöchern im Kofferraum, das Auto, in dem De Gaulle beim Attentat von 1962 saß. Und der im Übrigen im hinteren Winkel seines Kellers, dort, wo Opa im Krieg Juden versteckt hielt, eine Pritsche hingestellt hat, ein kleines Tischchen, in den Wänden sind Ketten verankert, und hier hält er seine Entführungsopfer gefangen, unterhält sich mit ihnen freundlich, bis er sie brutal und schnell hinmetzelt.

Pierre ist Serienkiller mit eigenem Manifest: In zehn Punkten hat er seine Richtlinien für sich aufgelistet, keine Zeugen bei der Entführung, keine Anhaltspunkte auf ein Verbrechen am Tatort, Ausschlusskriterien für seine Opfer wie Geschlecht, Alter, Hautfarbe gelten nicht, die Tötung erfolgt jedesmal mit einer anderen Waffe. Blutige Verbrechen sind Teil seines Alltags, in dem wir ihn begleiten, eine eintönige Existenz in Toulouse. Eine melancholische Stimmung über Leben und Film, ein Gefangensein im Dasein in einer Stadt, in der elf Jahre lang die Killerserie nicht auffällt, weil sowieso ständig Leute verschwinden; eine existentielle Einsamkeit, der man nicht entfliehen kann, auch nicht, wenn man sich zeitweise Gefährten im Keller festkettet, diese entsorgt, wieder neue findet…

Cherrière öffnet den Kopf und das Herz des Killers für den Zuschauer, der abgestoßen ist und zugleich fasziniert von diesem Mann, der mit klarer Überlegung und präzisem Plan vorgeht, der ganz normal ist mit einem, nun ja, kleinen Fehler in seinem Verhalten. Erklärt wird nichts, mit der Psychologie wird gespielt: Pierre erzählt des Öfteren Geschichten von seiner Mutter, die seinen Irrsinn erklären könnten, doch es sind jedesmal andere, und wahrscheinlich sind sie jedesmal gelogen. Der Vater ist menschliches Gemüse – das dann doch irgendwann ihre wahre innere Bitterkeit offenbart, das ist einer der wenigen Ansätze, Pierres Charakter zu erklären; ein Charakter, der völlig menschlich ist: ein Charakter, der sich verliebt, in Laure, die nichts weiß über Pierre und nichts wissen darf, eine Liebe, die heiß und innig ist, die still wächst und in der sich beide, Pierre und Laure, aneinander aufrichten; eine Liebe, die unmöglich ist, die keine Zukunft hat, die aber so lange dauern soll wie möglich.

Zwischen Thriller, Horror, Krimi und Melodram findet Cherrière den richtigen Weg für sein Porträt eines Serienkillers in einem Film, der keinen ungeschoren davonkommen lässt. Auch nicht den Zuschauer.

Harald Mühlbeyer

Grindhouse-Nachlese September 2014 – Exekution und Sternenkriege

„Sûpâ gun redei Wani Bunsho“ / „Die Exekution”, Japan 1979, Regie: Chûsei Sone.

„Uchu kara no messeji“ / „Sternenkrieg im Weltall“, Japan 1978, Regie: Kinji Fukasaku.



Die gute Nachricht ist: Es wird, voraussichtlich im Februar oder März, wieder einen Viel-Filme-Grindhouse-Tag geben – zwar nicht mehr sieben am Stück, dafür immerhin fünf – und die in grundsolider 35mm-Projektion.

Die andere gute Nachricht ist: Auch zwei Filme können an einem Samstagabend eine Menge Spaß bereiten. Zumal, wenn es eigentlich mindestens vier sind – denn in „Die Exekution“ stecken mindestens drei Krimis drin, in unterschiedlichen Genrevariationen: Polit-Korruption, Rape&Revenge, Banküberfall.
Aber zu Anfang haben wir den Filmbeginn… Eine Familie beim Abendessen, die Tochter mault wegen Hausaufgaben, der Papa will Baseball gucken, die Mama nörgelt rum und deckt den Tisch ab – und ein lautes Krachen ertönt, die Wand zerbirst, ein Polizeiauto rast ins Wohnzimmer und bleibt kurz vorm Esstischchen stecken. Draußen sehen wir: Einen toten Polizisten am Steuer, und eine reichlich derangiert wirkende Frau taumelt über den Bordstein. Die herbeigerufenen Ordnungshüter sammeln sie ein, bringen sie zur Wache – und wir erkennen, dass sie Mitglied der Spezialeinheit Alligator ist bei der Fahndung gegen Korruption. Mit ruppigen Methoden. Und trotzigem Selbstbewusstsein.

Sie heißt Mika, und sie wird angesetzt gegen Bestechungszahlungen eines Rüstungskonzern. Klar: Ein Wespennest, in das sie, die unangepasste Polizistin, da sticht. Zudem bekommt sie einen ungeliebten Partner zugeteilt: die Geheimdienstlerin Rin, mit der sie alsbald durch dick und dünn geht. Ermittlung, Beschattung, Verhör, auf die unkonventionelle Art. Abends geht Mika schlafen – und lässt den Rüstungsbonzen unbeaufsichtigt. Schon wird er von Mobstern übers Geländer geschubst, 20 Stockwerke sehen wir ihn runterfallen. Er war schwul; seine neueste Knabeneroberung wird anderntags von den Bösewichtern an einer Straßenkreuzung unter einen LKW geschubst. Mika und Rin fassen den einen, auf’m Parkdeck ist ein Auto nicht abgeschlossen, darin wenden sie ihre erweiterten Verhörmethoden an; inklusive Kieferverrenken, als er partout nicht aussagen will. Mit aufgesperrtem Maul, sabbernd, erschießt ihn darauf der Kollege… Eine der vielen erinnernswerten Szenen, denen Schlag auf Schlag weitere folgen. Etwa Verfolgungsjagd durch eine Industriebrache, inmitten von Bauschutt beim Abbruch der Fabrik – 20 Motorradfahrer gegen ein Auto, Verstecksuche, rasendes Brausen durch die Flure der ausgeräumten Gebäude, Ausweichen vor der Abrissbirne. Und schwupps, der Beginn des nächsten Filmabschnitts.

Mika wird gefangen genommen von den Gangstern, in eine enge, dunkle Kammer gesteckt. Nackt; unter Drogen gesetzt; vergewaltigt; vollgepisst – es ist widerlich, der Film kramt nun in den ganz dunklen Ecken der schlimmsten Perversionen, die die Bösewichter sich ausdenken können. Ein Film des Pinku Violence-Genre ist dies, sprich: Nackedeis und Gewalt, beides wird zur Genüge dargeboten. Aber, und das ist das interessante, nicht auf voyeuristische Art, eben nicht als „Exploitation“; sondern als Abbild der schlechtesten Seiten der Menschen. Mika wird zum Junkie gemacht, wird wieder und wieder rangenommen, schließlich auf eine Müllhalde transportiert, high und benommen soll sie hier krepieren. Nur dass Rin schon ihre Spur aufgenommen hat, eine krasse Schießerei auf der Deponie, die vor allem durch die lächerlichen Sprünge so richtig bekloppt wirkt, die Rin und ihr Gegner vollführen: Hops, um übers Autodach zu blicken, peng, schießen, runter wieder in Deckung… hüpfende Schießfrösche, ein totaler Stilbruch, das ist das Problem des Films: Er könnte, wäre er sorgfältiger gemacht, ein richtiger – und damit meine ich: wirklich echt richtiger – Klassiker der Filmgeschichte sein.

So aber müssen wir uns mit dem dritten Filmteil begnügen, in dem die noch nicht ganz vom Entzug ausgenüchterte Mika sich in einen Banküberfall einmischt. Und wie.
Den Überfall hatte der Gangster-Oberboss aus dem Innenministerium initiiert – die Polizei, speziell die Einheit Alligator, ablenken vom eigenen Tun. Deshalb drei irre Verbrecher engagieren, die auf dem Weg ins Gefängnis zum Antritt ihrer lebenslangen Haftstrafen sind: ein mitleidloser Killer und zwei unverbesserliche Triebtäter, die schon mehrere Frauen geschändet und ermordet haben. Ihre Aufgabe: Banküberfall und möglichst viel Krawall. Und den machen sie, mehr, als allen lieb ist. Und „Die Exekution“ erreicht eine neue Stufe der Abscheulichkeitsdarstellungen; denn unter den Mitarbeitern und Kunden der Bank sind auch einige Frauen… Klar, die Sicherheitsbeamten werden sofort erschossen; der Bankdirektor auch, um den Polizei draußen ein Zeichen zu setzen. Und der Rest ist Kanonenfutter und Fickfleisch.

Eine solche Geiselnahme habe ich noch nicht gesehen. Radikal, rücksichtslos, sadistisch, ohne jeden Anflug von Menschlichkeit, die drei haben ja nichts zu verlieren, wird da gewütet, vergewaltigt, gemordet. Und halt nicht nur das. Auch perverse Spielchen getrieben, die die Geiseln in ihrer Todesangst mitmachen müssen: Röckchen hoch, Höschen runter, und dann in „sexy“ Position… äääh! Oder: Die Damen müssen Pipi machen, in einen Eimer, der Vergewaltiger geilt sich daran auf, zwingt sich in die Frau und erwürgt sie dabei… uah! Beinahe unerträglich. Und bewundernswert im puren Drang zur Gewaltdarstellung, die äußerst hart, aber überhaupt nicht verherrlichend ist… Weil der Film nie, nie auch nur ansatzweise den Versuch macht, irgendwelche Lustzentren beim Zuschauer zu erreichen. Nicht im Brutalen, und nicht im Nackten.

Der Vorspann, der hatte Mika in ihrem Appartement gezeigt, abends, beim Ausziehen und Zubettgehen. Und wie er sie gezeigt hat: Immer wieder in Standbildern, die so absolut unvorteilhaft sind, man sieht sie beim Verrenken, beim Bücken, den nackigen Hintern unschön in die Kamera geschoben, in klumpigen Bewegungen; den ganzen Film über wird sie so rumlaufen, irgendwie ordinär, irgendwie unkoordiniert, die Handtasche schlenkernd, mit eingezogenem Genick und plumpem Gesichtsausdruck. Und Kollegin Rin kommt breitbeinig daher, grobschlächtig und völlig unweiblich – man kennt so was gar nicht aus dem Kino. Am Ende, nachdem sie in privaten Racheaktionen die Bösewichter einen nach dem andren gekillt hatten, sehen wir die beiden am Strand, in Sonnenliegen, in Bikinis. Und sie gähnen herzhaft, ohne Hand vorm Mund, ein letzter Gruß des Regisseurs an den Zuschauer, dem er die ganz normalen Hässlichkeiten ebenso wenig vorenthalten will wie die tiefsten Abgründe der Bosheit.

Wir erholen uns beim „Sternenkrieg im Weltall“. Auf dem Planeten Jilucia. Wo es freilich alles andere als friedlich zugeht: Die Gavaner haben den Planeten erobert, expansionswütig und brutal, wie sie sind, und in einem beispiellosen Völkermord die Jilucier massakriert. Bis auf ein paar, die sich in den Bergen verstecken konnten. Und die jetzt für Rettung und Hilfe sorgen: in braunen Lumpen begehen sie eine Art Gottesdienst, der Hohepriester hat die gebündelte Kraft der Mutter Sonne in acht goldene Walnüssen konzentriert – äääähhh: ja, in Walnüssen. Die jetzt durchs Weltall fliegen zu den auserwählten Kriegern, die Jilucia erretten sollen. Den Nüssen hinterher: Prinzessin Emeralida im Brautkleid (!) und der Aufpasser Urocco. Denn der Hyperantrieb des Schiffes ist jetzt fertiggestellt, freie Bahn durchs Weltenall – in einem Dreimaster-Segelschiff (!). Natürlich bleibt das den Gavanern nicht verborgen, und sie schicken ihr Kampfraumschiff hinterher, das aussieht wie ein überdimensionierter Kampfpanzer.

Und schon sind wir mitten drin in dieser abenteuerlichen Weltallsause, die völlig absurd und lächerlich erscheint. War immerhin mit 6 Millionen Dollar die bis dahin teuerste japanische Filmproduktion, Regisseur Kinji Fukasaku hatte zuvor schon Co-Regie bei „Tora! Tora! Tora!“ geführt, und ein paar amerikanische Schauspieler wurden auch verpflichtet, um den internationalen Erfolg zu garantieren. Der Film kam in Japan am 29. April 1978 in die Kinos – das war zwei Monate, bevor George Lucas mit „Star Wars“ die dortigen Leinwände überfiel. Und für die Japaner musste es so ausgesehen haben, als hätte sich Lucas kräftig bei Fukasaku bedient…

Tatsächlich finden sich eine Menge Motive, Figuren, Details, wie sie schon Lucas in seinem Sternenkrieg-Universum eingesetzt hat (die er ja wiederum zusammengeklaut hat aus allen möglichen Quellen, von Buck Rogers bis zur römischen Antike): ein lustiger Roboter ist dabei namens Beba 2, rund und dick pfeift er seine elektronischen Töne und plappert zugleich drauflos und wedelt mit den Armen – eine Vermengung seiner beiden US-Vorbilder. Die Helden der Geschichte sind unbedarft und wild, in verschiedener Mischung, aber das sind Helden ja immer, nicht nur wenn sie Luke oder Han heißen. Zusätzlich zur Prinzessin gibt es auch noch Meia, die Abenteuerlustige – ein um 100 Prozent höherer Frauenanteil also als beim US-Vorbild.
Auf der Seite der Bösen haben wir den General-Chef der Gavaner, in einer Art Samurai-Maske mit Wikingerhelm und Inkaapplikationen; und über ihm steht nicht der Imperator, nein: seine Mutter. Womit Fukasaku ein ganz subtiler Verweis gelingt auf den erst fünf Jahre später veröffentlichten „Rückkehr der Jedi-Ritter“, wo ja, Achtung Spoiler, eine ganz überraschende Vaterschaft offenbart wird…

Wir jedenfalls fliegen mit den Nüssen durch verschiedene Galaxien, bis wir auf Menschen treffen – nämlich auf drei jugendliche Taugenichtse, die nur durch die forsche Meia überhaupt zum Jagen getragen werden können, und auf General Gandor mit seinem Roboterfreund, der die Uniform an den Nagel gehängt hat, um fortan in Bars rumzuhängen, in Mantel und mit Schlapphut wie späterhin Indiana Jones (wieder so eine raffinierte Anspielung aufs Zukünftige!). Außer Meia will jedenfalls keiner in den Kampf ziehen, obwohl sie von den Nüssen doch auserwählt worden sind! Erst als die Gavaner hinter ihnen her sind, geben sie sich einen Ruck – und als sich Aaron, einer der draufgängerischen Teufelskerle, der seine Tollkühnheit hinter Trägheit versteckt, sich in die Prinzessin verliebt. Im Übrigen gibt es auch noch eine Episode mit einem Froschgesicht mit elektrischer Peitsche, der die Prinzessin zu seiner Frau machen will mit Hilfe seiner hexenhaften Mutter, aber das ist eine andere Geschichte.

Irgendwann jedenfalls haben die Gavaner der friedlichen Planeten Jilucia in eine fliegende Kampfstation verwandelt und nehmen Kurs auf die Erde, um sie zu unterwerfen. Es kommt zu unglaublichen Weltraumschlachten, die denen aus Marin County wirklich um nur ganz wenig nachstehen – und ja, inzwischen haben wir den Film liebgewonnen! Denn abseits von seinen albernen Dialogen, die der billigen Synchro geschuldet sind, erkennen wir durchaus den großen Entwurf an, den Fukasaku im Kopf hatte; den er mit seiner komplizierten, etwas episodenhaften Dramaturgie in den Griff bekommen will, was auch tatsächlich einigermaßen gelingt – ich meine, hey, „Star Wars – Eine neue Hoffnung“, also der erste bzw. vierte Film der Trilogie, ist auch über einige Strecken langweilig, und nur weil man die Macht nicht sieht, heißt sie nicht, dass sie in ihrer Esoterik weniger lächerlich ist als goldene Weltallnüsse.

Vor allem aber freuen wir uns, dass es Fukasaku nicht nur mit bloßem oberflächlichen Weltall-Rumgehampel belässt, sondern dass auch er – wie im Film zuvor sein Kollege Chûsei Sone – eine Geschichte hinter der Geschichte bereithält. Was bei Sone die inhärente Grund-Hässlichkeit des Menschen ist, das ist bei Fukasaku das allübergreifende Mit- und Ineinander von Früher und Heute und Zukunft; vom starwarsinspirierten Anfangsspruch „Es war einmal in tausenden von Jahren“ bis zu den Segelschiffen, die durch Sternenstaub gleiten, bis zu den Laser-Musketen und den Säbeln, mit denen so richtiger Swashbuckler-Charme in die Sternenkriege hineingerät. Was zu Anfang albern wirkte, das wird späterhin, bei der letzten großen Schlacht mit den Gavenern, als Konzept erkennbar; und damit kann man es gutheißen, jawohl!

Hätte Fukasaku ein bisschen mehr Wert auf Eleganz gelegt, auch ein paar doofe Bluescreen-Aufnahmen rausgeschnitten – das Aufsammeln von „Feuersteinen“ im Planetenring! (wobei die leuchtenden Feuersteine atomarer Müll sind, der ins Weltall verlagert wurde, womit wir schon wieder bei einem gesellschaftlich relevanten Thema wären…) –; dann jedenfalls wäre „Sternenkrieg im Weltall“ tatsächlich das (noch) bessere „Star Wars“ geworden.
Und eine Beba-Figur will ja wohl jeder im Schlafzimmer haben, ne?

Harald Mühlbeyer

29. Mannheimer Filmsymposium: Schauspielen im Film

Vom 17. bis 19. Oktober herrscht im Mannheimer Cinema Quadrat Hochbetrieb: Das allherbstliche
Robin Wright in "The Congress"
Filmsymposium lädt zu Vorträgen, Diskussionen und Filmvorführungen.
Zum Thema des Schauspielerischen im Film referieren unter anderem Marcus Stiglegger, Gerhard Midding, Rüdiger Suchsland; Regisseur RP Kahl wird zu Gast sein ebenso wie die Schauspielerinnen Catrherine Fleming und Helen Woigk ("Das Leben ist nichts für Feiglinge") sowie die Castingdirektorin Sabine Weimann.
Christian Petzolds "Cuba Libre" von 1996, Ari Folmans "The Congress" (2013), der Director's Cut aus dem Jahr 2011 von RP Kahls "Angel Express", der 1998 gedreht wurde, David Cronenbergs "Easter Promises" (2007) sowie Simon Curtis' "My Week with Marilyn" von 2011 bestreiten das Filmprogramm.

Alle Infos unter www.cinema-quadrat.de (auch wenn dort noch der Titel des letztjährigen Symposiums als Überschrift steht...)

Grindhouse-Nachlese Juli 2014 – Puppentruppe und Rachekiller

„The Doll Squad“ / „Das Kommando der Frauen“, USA 1973, Regie: Ted V. Mikels.


„Death Force“ a.k.a. „Vengeance Is Mine” / „Ein Mann wird zum Killer“, USA/Philippinen 1978, Regie: Cirio H. Santiago.


Man kann sich vorstellen, dass er so um 1963 geboren wurde. Dass er sich mit präpubertären zehn Jahren, im Herbst 1973, irgendwie ins Kino geschlichen hat. Dass der Film ihn beeindruckt hat und dass er fürs Leben geprägt wurde. Für ein Leben, das er fortan der unbedingten Informationssammelwut verschrieben hat, der Überwindung von Zeit und Raum, kurz: der NSA. Wahrscheinlich ist er Patient X der Überwachungsseuche, die Doc Snowdon als erster diagnostiziert und öffentlich gemacht hat: Wahrscheinlich liegt in „The Doll Squad“ die Keimzelle des Übels.

Uns begegnet in dieser Actionkrimiagentensause eine Brieftaube, die per Mikrofilm einen Erpresserbrief überbringt. Ein IBM-Supercomputer namens Berta, der dem Geheimdienst auf Knopfdruck nicht nur die besten Leute für bestimmte Missionen vorschlägt, sondern auch aus seiner umfangreichen Datenbank – ein Stapel Lochstreifenpapier – den bösewichternden Gegenspieler ausdruckt. Wir treffen eine Schurkenbande, die sich mittels ins Genick eingepflanzter Silber-Chips und dem Erkennungspiepsen einer Art Fernbedienung identifiziert. Dr. Caheyman tritt doppelt auf – als Clou nämlich hat Bösewicht Eamonn O’Reilly ein Zwillingspaar als Mad Scientists angestellt. Die Guten: Das ist ein Frauentrupp, wie geschaffen für diesen Einsatz – denn O’Reilly hat Potenzprobleme, wahrscheinlich wegen seiner Mutter, Ödipus etc. Sabrina und ihre Weibsen sind da genau die Richtigen. Wobei O’Reilly offenbar informiert ist und einige der weniger wichtigen Mädels abmurkst. Getötet wird nebenbei, mit schnellen Kopfschüssen (aber außerhalb des Bildrahmens). Ratten in aller Herren Länder spielen entscheidende Boten-Rollen im bösen Plan. Und übrigens trinken ein paar üble Soldadeska-Milizionäre Nitroglyzerin; Explosionen sind aber nicht so schlimm, nämlich nur ins Filmbild gemalte hellorangene Flecken, courtesy of Van der Veer Photo Effects.

Für einen Zehnjährigen mit leicht größenwahnsinnigen Vorstellungen muss es der Himmel sein, das beste zusammenzumixen, das die beiden Welten – gut und böse – in diesem Film anbieten: Supercomputer und Killerfrauen, Information und Wissenschaft, Computerberechnungen und ein weltweites Netzwerk, das einem dient.
Man kann ja nicht verlangen, dass dieser Zehnjährige die miese Qualität des Schauspiels bemerkt; oder das altmodische Aussehen der „Hühner“ (O-Ton der deutschen Synchro), die eine Art Wettbewerb um die schlimmste Frisur veranstalten und sich mit aufgesetzter Sexiness zugleich so prüde geben, als wär der Film fünf Jahre früher gedreht. Er muss ja auch nicht kapieren, dass man in Wirklichkeit nicht von einer Szene zur anderen mittels Filmschnitt in Venezuela ist, und dass es im Film immer wieder irgendwelchen Figuren gelingt, sich in eine Szene zu beamen, in der sie eigentlich nichts zu suchen haben (haha, am Ende, wo noch groß erklärt wurde, dass dieses eine Zimmer nur einen einzigen Eingang hat, und dann, hihi, kommt eine aus der anderen Ecke rein…!). Dass Regisseur Mikels es nicht fertig bringt, aus dem Clou, für die Darstellung der beiden Dr. Caheymans Zwillingsbrüder besetzt zu haben, irgendwelches Kapital zu schlagen: Nein, entweder werden die beiden sowieso getrennt gezeigt, oder so im Bild nebeneinander gestellt, dass man auch den selben Schauspieler optisch hätte verdoppeln können… Auch funktioniert der Informationsfluss, der den Oberschurken überlegen macht, innerhalb seiner Organisation nicht so recht: Zwar wird jeder Verbrecher piepsenderweise richtig identifiziert, aber dass jetzt alle nach irgendwelchen Frauen fahnden sollen dringt trotzdem nicht sofort zu jedem durch.

Unser zehnjähriger künftiger NSA-Informatiker, so nehmen wir an, hat sich diesen Film als Lehrbuch genommen, hat daran seine gesamte Laufbahn ausgerichtet, bis er nach 2001 bei der NSA ein fruchtbares Feld für die Aussaat seiner Obsessionen fand. Und nicht nur er wurde beeinflusst: Immerhin drei Jahre vor den Engeln für Charlie hat Billigfilmer Ted V. Mikels quasi die Filmvorlage für die Serie geliefert; Tarantino hat vermutliche sein Giftschlangen-All-Girl-Killertrupp am Doll Squad orientiert.
Im Übrigen hat der Filmschurke den bösen Plan, die Welt mit einer Beulenpest-Epidemie zu überziehen. Und es sollte vielleicht besser niemand unserem Filmfreund bei der NSA mitteilen, dass anders als bei Mikels dargestellt die Beulenpest keine virale, sondern eine bakterielle Erkrankung ist. Nur für den Fall, dass er irgendwann den bösen Plan von O’Reilly wiederbeleben möchte. Wie enttäuscht wäre er, wenn er herausfände, dass in diesem seinem Heiligtum von Film nicht alles wortwörtlich stimmt! Also am besten nirgends ins Internet schreiben, dass die Pest durch Antibiotika locker zu kurieren ist, sonst zieht er vielleicht noch aus verzweifelter Wut eine richtig böse Krankheit aus dem Ärmel. Ein „Twelve Monkeys“-Szenario wollen wir halt auch nicht.
So, wie zweifellos „The Doll Squad“ die US-Geheimdienst-Politik vor sich hertreibt, haben ganz, ganz sicher die Mitglieder der Bush Jr.-Regierung nicht Cirio H. Santiagos „Death Force“ (auch bekannt als „Vengeance is Mine“) gesehen. Man kann es sich vorstellen, wie Bush sein Kabinett allmittwöchlich in den War Room beruft zu einer Kinovorführung – was wollen wir sehen? Ach, irgendwas, was auf den Philippinen gedreht wurde! Und wieder legt man, wie immer halt, die alte, abgespielte VHS von „Apocalypse Now“ ein, um sich in falsch verstandener Einfühlung an Wagnerattacken aufzugeilen. Hätten doch Cheney, Rumsfeld, Powell, Rove und Rice auch mal etwas länger im Videoregal gestöbert! Dann wäre ihnen vielleicht die US-Philippinische Blaxploitation-Vietnam-Action-Rachestory titels „Death Force“ in die Hände gefallen, und die Weltgeschichte der 2000er Jahre wäre anders verlaufen.

Denn wie kann man stärker, deutlicher die drastischen Auswirkungen des Krieges vor Augen führen als Santiago in seinem „Ein Mann wird zum Killer“, wie der treffende deutsche Titel lautet?

Ungefähr 1970. Doug Russel, Morelli und McGee sind auf dem Heimweg aus ihrem Vietnameinsatz. Kurzer Umweg über Manila – dort verticken die drei eine Masse an Goldbarren, die sie in einem Zinksarg aus ’Nam herausgeschmuggelt haben. Genug Geld für einen Neuanfang nach dem Krieg! Ein Neuanfang, der nach Morellis und McGees Vorstellungen nur in der Großkriminalität liegen kann. Und dem Doug sicherlich im Weg steht. Also schwupps die Kehle durchgetrennt und ins Meer geschmissen! Und während die beiden harten Sauhunde sich ihren Weg durch Los Angeles morden, die Unterwelt durcheinanderwirbeln, um schließlich die Großgangster der Großstadt zu werden – während dieses Aufstiegs mittels aus dem Kriegsgebiet geklauten Grundkapitals landet Dougs Körper am Strand einer einsamen Insel an. Tot? Nicht ganz.
Ein japanischer Offizier und sein Lakai päppeln ihn auf. Zwei japanische Soldaten, die seit dem Weltkrieg hier ausharren, Versprengte, die sich von den Weltläufen nicht kratzen lassen, die noch immer treu zum Kaiser stehen und keinen Fußbreit zurückweichen. Und während der Diener als Comic Relief Kokosnüsse ernten und Fische fangen muss, wird Doug vom Offizier in die Kunst des Samurailebens eingeführt. Samurai! Völlig veraltete Moral, ganz aus der Welt und aus der Zeit gefallen, hier lebt es weiter, bei zwei isolierten Überbleibseln, denen der Geist des Krieges alles Weltliche vertrieben hat! Zwei Vögel, gefangen im selbstgebauten Netz der Eigenisolation, aufgespießt auf dem Dreizack von unbedingter Tradition, unbedingter Loyalität und unbedingter Verbohrtheit.

Immerhin lernt Doug kämpfen. Und kann so seine Rache vollziehen. Kämpft sich nach der „Befreiung“ durch philippinische Truppen – und nach obligatorischem Harakiri seines Führungsoffiziers – durch L.A., immer näher ran an McGee und Morelli – und interessant ist dabei eben auch, dass sowohl Doug als auch McGee Schwarze sind, Morelli ein Itacker (und der eigentliche Drahtzieher der Gangstermachenschaften). Was einerseits den Film zur Spätblaxploitation macht, andererseits klar macht, wer da eigentlich in den Krieg geschickt wird: die Unterschicht, und dazu gehört ja nun mal alles, was nicht WASP ist. Die kehren zurück und stürzen die Welt, zumindest die USA, naja: L.A. in Chaos.

So ist es eben auch, wenn man sich im Irak und in Afghanistan engagiert: Man erntet Mord und Totschlag an der Heimatfront. Und züchtet traumatisierte, obsessive, verbohrte Dauersoldaten heran, die den Frieden nicht anerkennen können.
Tja, es ist nun einmal leider, leider so, dass die Amerikaner sich schlichtweg immer und stets die falschen Filme ansehen: so bestimmt nun der „Doll Sqad“ die Geschicke, und „Death Force“, wiewohl um Klassen besser in Inszenierung und Dramaturgie (wenn auch das Vergnügen gleichwertig ist), führt sein Schattendasein in der der Weltpolitik.
Und wir alle müssen darunter leiden.

Harald Mühlbeyer

Filmfest München: Eine Klaus-Lemke-Hommage

Man kann ja an die hundert Jahre Filmgeschichte nur so ganz allmählich nachholen.

Ich hatte noch nie einen Klaus-Lemke-Film gesehen; aber natürlich wusste ich, dass dies ganz obligatorisch anstehen muss in meinen Filmerfahrungen. Dass das Filmfest München eine kleine Lemke-Hommage im Programm hatte, konnte ich daher natürlich nur als aufforderndes Zeichen des lieben Filmgotts begreifen.

„Wir zeigen jeden Film nur einmal, und Lemke ist dabei“, schreibt Christoph Gröner im Programmkatalog: „Nur so geht es. Entweder man ist da – oder eben nicht, und verpasst alles in diesen Nächten in Schwabing, jenem Ort, an dem der Filmemacher immer noch lebt, wenn er nicht filmt.“ Es hieß also, im persönlichen Filmmarathon Platz zu schaffen für ein paar Lemke-Filme im Kino Münchner Freiheit – und dabei zudem noch das Gespräch mit ihm nicht zu verpassen, mit Lemke, dem radikalen, bissigen, eloquenten, klugen, alten, jungen Filmemacher.

(c) Filmfest München
Ein Gespräch vor den Filmen. Ein Gespräch, dessen Regeln Lemke zuvor schon klar gemacht hatte: Dies ist keine Volkshochschule. Keine vorbereiteten Fragen, keine vorgefertigten Antworten. Sondern zunächst Anlass für einen viertelstündigen Monolog, einen Rundumschlag gegen das deutsche Kino der Gegenwart, gegen die Goetheinstituts- und Volksbildungs-Filme, die sich zurücklehnen ins Kissen staatlicher Förderung, um dann überhaupt nicht Neues zu erzählen.

Lemke sprach von zwei Modellen in der Filmgeschichte: Erstens das, in dem von 1945 bis ’60/65 der Film als Dienstleistung gesehen worden sein, der sich dem freien Markt zu stellen habe, und zweitens das SPD-Modell, Film als Kulturgut zu begreifen und ihn mit staatlichen Mitteln zu päppeln. „Vollkommener Unsinn“, so Lemke, „so wird Film zur aussterbenden Tierart“. Vom Freihandelsabkommen zwischen EU und USA („Der freie Markt ist die letzte Möglichkeit für den Film“) über die Förderanstalten („mehr Geld – beschissenere Filme“) bis zu den zeitgenössischen Regisseuren („Wichser, die den Förderern gefallen wollen“) geht seine Hasspredigt auf den Zustand des Films, in der er freilich derzeit kleine Lichtblicke sieht, die Lass-Brüder, Axel Ranisch, Nico Sommer (die Bernd Zywietz in Ansichtssache unter dem Label „German Mumblecore“ porträtiert) – freilich würden auch die inzwischen nach Förderung schielen und deshalb notwendig uninteressant werden.

Lemke hat dies alles in seinem Hamburger Manifest von 2010 schlagwortartig zusammengefasst – und wenn man die Reihe der deutschen Kinofilme sich ansieht, die dieses Jahr in München lief, kann man ihm nur beipflichten (der werte Verfasser hat das Neue Deutsche Kino des Filmfests für kino-zeit.de begleitet…) Die Künstlichkeit der Ausstattung! Die Geziertheit des Spiels! Die Konstruiertheit der Dramaturgie! Die Funktionalität der Figuren und ihrer Psychologien! Die Vorhersehbarkeit von Handlungen und Konflikten! Die Unfähigkeit, einfach mal filmisch zu erzählen!

Lemke ließ sich von Christoph Gröner dann ein bisschen lenken auf die eigene Biographie, etwa auf Anekdoten zum Umfeld der jungen Filmemacher im München in den 1960ern – mit Wenders, bevor er größenwahnsinnig wurde, mit den Radikalen – Andreas Baader, der Mädchen, Autos, Alkohol und Filme im Sinn hatte, mit dem späteren Kaufhausbrandstifter Horst Söhnlein, „ein Franke, und die Franken können nie was mit Mädchen anfangen.“

Und seine eigene Radikalisierung, freilich im Bereich des Filmemachens, nachdem er mit „48 Stunden nach Acapulco“ und „Negresco“ in den Jetset-Bereich des Reichtums gekommen war und dann nach Hamburg ging, alles zurückließ, und dort das Raue der Straße und die Rohheit der Menschen in sich aufnahm und filmisch ausdrückte – kurz: als er unter die „Rocker“ ging.

Im Haus, in dem sie drehten und wohnten, damals, 1971, wohnte unten die Baader-Meinhof-Gang,
im ersten Stock die Drogendealer, und unterm Dach, als Schutzmacht, die Rocker. Die waren Lemke von Iris Berben in den Kopf gesetzt worden, die von den richtig harten Jungs in Hamburg schwärmte, die die Münchner Möchtegernfilmer locker in die Tasche stecken würden… Lemke ging nach Hamburg: „München, das waren Küsse im Dunkeln. Hamburg, das war in die Fresse kriegen.“

Lemke drehte mit den Rockern und für die Rocker, für ein Gefühl unbedingter Freiheit, völliger Losgelöstheit von Normen, er drehte auf der Straße, mit all denen, die sich selbst spielten, die sprachen, wie sie sprachen, die taten, was sie taten, die nicht gelenkt werden konnten und der Filmhandlung nur soweit folgten, wie sie sie selbst leben konnten. Eine Handlung, der kein Drehbuch als Grundlage diente, ein Prinzip, dem Lemke bis heute folgt, ein Film, der seine Kraft und seine Gewalt aus den Geschichten zog, die Lemke bei seinen Laien-Protagonisten selbst vorfand: „Film ist reiner Diebstahl. Ich treffe auf Leute, die was haben, was ich nicht habe, und wenn ich einen Film mache, kann ich das klauen“, so erklärt Lemke sein Prinzip. „Ich nehme ihnen die Persönlichkeit, ihr Herz, und lege es in den Film hinein. Andererseits gebe ich ihnen dann auch etwas, etwas von mit selbst, und wenn es nur die halbe Stunde Ruhm im Film ist.“

„Rocker“, das sind eigentlich zwei Geschichten: Gerd wird aus dem Gefängnis entlassen, sucht seine Freundin Sonja, muss sich eine neue Maschine besorgen und will damit dem Milieu eigentlich auch den Rücken kehren – wenn er auch seine Rocker-Haltung nicht aufgeben will. Und Uli, Untermieter und vermutlich auch Liebelei von Sonja, versucht, Autos zu klauen und zu verticken, wird aber von einem Kölner Lackaffen verarscht. Beklaut daher seine Schwester, seinen Bruder; und wird diesen, den 15jährigen Mark, der sich ihn so verehrt, nicht wieder los.

Diese zweite Story hat sich in den Filmdreh hineingeschlichen, Lemke hat zufällig auf der Straße den jungen Hans-Jürgen Modschiedler gesehen, verfolgt und für seinen Film engagiert – einen rotzfrechen Jungen, der sich nichts sagen ließ, der damit perfekt in Atmosphäre und Thema von „Rocker“ passt. Modschiedler spielt Mark – und nennt sich gegenüber Gerd und seinen Lederjackenkumpels auch mal bei seinem richtigen Namen, die Durchlässigkeit zwischen Leben und Film ist groß.

Eine tolle Szene, wie sich die Handlungsstränge treffen: Wie Mark, desillusioniert und in Trauer um seinen totgeschlagenen Bruder, in der Bushaltestelle schläft, während Sonja an ihm vorbeiläuft zu Gerd. Fortan nimmt sich der Rocker des Jungen an, rotzig, trotzig, herzlos und zugleich voller Wärme, ja fast schon Zärtlichkeit…

„Rocker“, so Lemke, ist damals einmalig im ZDF gesendet worden. Und inzwischen einer der meistwiederholten Filme. Erst zwanzig Jahre nach Dreh wurde er in Hamburg Kult, wurde als der Hamburgfilm erkannt. Die Leute können die Dialoge mitsprechen, das lose Mundwerk ging in die Umgangssprache ein: „Dicker“, das sei zuvor weder in Film noch in Literatur je gesagt worden, und inzwischen, auch dank „Rocker“, zum Standard im Umgang geworden. Überhaupt die Sprache im Film, abgeguckt vom wirklichen Leben, und angereichert mit Sprüchen und Ausdrücken, die vor allem Paul Lyss, Darsteller von Uli und Lemke-Spieler in zwei weiteren Filmen, prägte: „Noch nie ne alte geknüppelt?“- „Geil wie Schifferscheiße!“ – „Du sitzt da wie Graf Koks aus der Gasanstalt“ – „Du Klappstuhl“ – „Du Brathuhn“ – „Du kalter Puffer“.
Und der unsterbliche Anmach-Dialog in der Straßenbahn:
„Haste schon mal gebumst?“
„Ich bumse nicht.“
„So wie du ausschaust, haste doch schon mal gebumst!“
„Hab ich auch.“
„Na siehste, wollt ich doch nur mal wissen.“
Um dann, später, mit der Torte im Kneipenklo zu verschwinden und heftig zu fummeln.

(c) Filmfest München
Sylvie“ ist etwas anderes Kaliber. Sylvie handelt von Sylvie Winter, Lemkes Freundin damals, ein Fotomodell, erstes Nacktmodell auf einem Sterntitel, Glamour, Reichtum – Lemke: „Sie hatte eigentlich grobe Bauernhände, wusste aber vor der Kamera immer, wie sie sie drehen musste, damit sie zierlich und graziös erschienen.“ Sylvie, 1972 gedreht, ist ein Rückblick auf Lemkes vergangenes Jetset-Milieu – und enthält mit Paul Lyss wieder die rohe Kraft, die Rocker ausmachte, vermengt mit einer gewissen Leichtigkeit, die zugleich eine Überspanntheit ist; das kommt von Sylvie, die sprunghaft, neurotisch, immer voll im Moment und ohne Konsequenzen lebt. Die angstvoll einen Flugzeugabsturz imaginiert, dann doch in die Maschine steigt, dort den Mann aus ihrem Traum wiedersieht, sich mit ihm verabredet, aber zuvor mit Champagner zusauft, eine Menge futtert, Zigarre raucht, sich im Edelrestaurant völlig danebenbenimmt – das Vorglühen vor dem erwarteten Heiratsantrag wird zu einem Umwerten, nein, zu einem Vergessen aller Pläne.

Sie lernt einen unfähigen Taxifahrer kennen, der eigentlich Seemann ist, Paul Lyss, der sich dämlich anstellt, aber genau weiß, was er will: nämlich zurück aufs Meer; der einerseits von Sylvie nicht loskommt – weil wiederum sie nicht loslässt –, der andererseits mit ihr gar nichts anzufangen weiß. Der großspurig Stories erzählt, Lügen und Geschichten und Anekdoten, die wahr sein können oder auch nicht; und der zugleich den Einblick, den er in Sylvies Leben hat, nutzt, um sein eigenes – recht erbärmliches, vor allem aber ganz anderes – Leben bestätigt zu sehen.

Wie direkt, wie unmittelbar Lemke auf seine Zeit reagiert, zeigt sich in zwei Details: In „Rocker“, gedreht im Herbst 1971, läuft als Filmmusik auch mal Led Zeppelins „Rock and Roll“, veröffentlicht im November 1971. Und in Sylvie, wo wir das Model bei drei Fotoshootings ausführlich beobachten – eine Präsentation der Hauptfigur vor der Film- wie vor der Fotokamera, und beide Apparate sind in sie verliebt –, fliegen wir einmal, bei einem Trip nach New York, um die Twin Tower des World Trade Centers, zwei Monate vor deren Eröffnung, und auf dem Dach tanzt Sylvie, fotografiert von Del Negro. Ich kenne keinen anderen Film, der die Macht, die Größe des World Trade Centers je so eingefangen hat wie Lemke in „Sylvie“, der als einer der wenigen überhaupt die Genehmigung erhalten hat, sich mit einer Kamera in einem Helikopter die Türme hochzuschrauben! „Ganz merkwürdige Bilder“, findet auch Lemke, der in München seinen Film zum ersten Mal seit 40 Jahren wieder gesehen hat. Und Beweis auch für die Kraft seiner filmemacherischen Leistung, spontan, aus den Protagonisten und den Möglichkeiten, die sich auftun, ganz Großes zu schaffen.

Harald Mühlbeyer

Screenshot REGION: Uwe Boll mit RAMPAGE 2 und Filmgespräch in Mainz


Eigentlich ist es ein Heimspiel: Drehbuchautor-, Regie- und Produzentenrabauke Uwe Boll präsentiert persönlich am Fr., 25. Juli seinen neuen Husarenstreich RAMPAGE 2 – YOU END NOW, und zwar in Mainz.

Hier lebt der Meister des niederen Niveaus, der sich u.a. qua Kraut-Funding (sprich Stupid German Money) einen berüchtigten Namen in Sachen schlechten Kinos gemacht hat – und dafür von vielen (schon) wieder verehrt und gefeiert wird. Und egal, wie man zu den bislang rund 30 Boll-Werken steht, zu den kruden Fantasy- u. Horrorstreifen (SEED, DUNGEON SIEGE), den fanbrüskierenden Videospieladaptionen (FAR CRY, ALONE IN THE DARK) und den umstrittener Ernsthaftfilmen wie SIEGBURG, DARFUR und AUSSCHWITZ: eine gewisse rustikale Faszination ist dem ökonomisch effektiven Dr. Boll (promoviert in Literaturwissenschaft, Uni Siegen), der aus Kostengründen in Kanada filmt und sich auch mal große Namen wie Ben Kingsley für schnelles Geld bzw. einen Tag Drehzeit einkauft, nicht abzusprechen.

Neben der Fortsetzung seines Amoklauf-Streifens RAMPAGE von 2009 bietet das box-erfahrene Multitalent Boll am 25. im CAPITOL auch ein Filmgespräch zusammen mit Dr. habil. Andreas Rauscher von der hiesigen Mainzer Filmwissenschaft. Beginn ist 20.30 Uhr, der Eintritt kostet 7,50 €.

zyw 

P.S.: Laut Capitol-Website funktioniert RAMPAGE 2 auch ohne Kenntnis des ersten.

Filme für FILMZ 2014 gesucht

Seit 2001 gibt es das Mainzer FILMZ, das sich als Festival dem deutschen u. deutschsprachigen Kino widmet und sich längst zur festen Größe für den hiesigen Film etabliert hat.

FILMZ 2014 findet vom 25. bis 30. November statt, lange hin noch für das Publikum, aber hinter den Kulissen beginnt schon jetzt die Arbeit. Entsprechend hat jetzt die Filmeinreichungsphase begonnen: Bis zum 15. August werden Filme aller Formate, Genres und Stilrichtungen gesucht, fiktionale Kurz- und Langfilme sowie Mittellange Filme und Dokumentationen – experimentell wie narrativ, Realfilm wie Animation.

Die Einzelheiten zusammen mit dem Anmeldeformular finden Sie HIER.

Die Website von FILMZ - Festival des deutschen Kinos gibt es übrigens HIER.

zyw

Grindhouse-Nachlese April 2014 – Jess Franco

„Die Säge des Todes“, BRD/Spanien 1981, Regie: Jess Franco

„Das Frauenhaus“ / „Blue Rita“, Schweiz/Frankreich 1977, Regie: Jess Franco


Jess Franco. Als Thema. Einer Doppelnacht. Das lässt allerlei Schlimmes befürchten (aber ganz sicher kein weinerliches Requiem für den ein Jahr zuvor Verstorbenen): Es ist eine wissenschaftlich gesicherte Tatsache, dass von soundsovielen Jess Franco-Filmen ein derartiger Prozentsatz giftig schlecht ist, dass bei einem Doppeltermin die Wahrscheinlichkeit auf mindestens eine hochprozentige Gurke diese und jene Quote noch übertrifft.


Aber, puh, gleich zu Anfang möchte ich verraten: Es ist alles gut gegangen. Das liegt auch am Vorführer des Cinema Quadrat, der diesmal nicht nur freundlicherweise Chipsschälchen zur Verfügung stellte – nein, der auch eines der Mordwerkzeuge in „Die Säge des Todes“ als Geburtszange identifizierte – was ich nicht verifizieren möchte, was aber durchaus im Bereich des Möglichen sein könnte: Schauplatz des Films ist schließlich eine internationale Mädchenschule für Sprachen, mit nett aussehendem Lehrer und potentem Tennistrainer, da kann man sowas immer gebrauchen. Dass Hebammenwerkzeug rumliegt, ist also nicht allzu weit hergeholt… und wenn ein Killer umgeht, dann nutzt er, was er findet, klar.

Ja, ein Killer… Zu Anfang, als Pre-Title-Sequenz, sehen wir das Narbengesicht Miguel, mit hässlicher Pflatsche, die seine rechte Gesichtshälfte entstellt. Nur mit Mickymausmaske kann er sich der Angebeteten nähern, die hält ihn für wen anderes, Teenie-Rumknutschen, Fummeln in Bungalow Nr. 13 – bis sie ihn erkennt und er sie mit einer Schere absticht, das arme Schwein. Kommt in die Psychiatrie, bis ihn fünf Jahre später Schwester Angela wieder heimholt, ins Mädcheninternat, wo nun das Morden wieder beginnt. Und wie perfide: Mal mit einem Messer buchstäblich von hinten durch die Brust, das geht ins Auge; mal ein Mordversuch mit Giftschlange; mal wie gesagt mit Zange. Und natürlich mit der titelgebenden Säge des Todes, wo der Mörder und sein Opfer, eine Schülerin, die ihn besteigen will, sich fröhlich hinbegeben, aber nur einer kehrt zurück… Steinmetzwerkzeug, ein Sägeblock, ein riesiges kreisrundes Sägeblatt – und aus ist’s mit ihr. Nur ein kleiner Junge ist Zeuge, aber nicht lang, zielsicher überrollt der Bösewicht ihn mit dem Auto.

Das Köpfen: Das ist sicherlich der Höhepunkt des Films, wieviel Mühe hat man verwendet, um einen Gummikopf zu gestalten, der dem Opfer so ein bisschen ähnlich sehen soll… Blut und Gekröse im Hals muss auch dabei sein, das war der Herr Franco schon ordentlich fleißig. Wie auch überhaupt die verschiedenen Mordwerkzeuge perfide ausgedacht sind, man kann als Zuschauer einfach kein Täterprofil erstellen! Unglaublich, welche Spannung da möglich gewesen wäre in einem guten Film… Aber wer will sowas schon sehen. Was wir sehen wollen ist eine bösartig schimpfende Tante, die ihre Nichte im Vorübergehen enterbt; eine tapfere Scream Queen, die wir zu Anfang wundersamerweise noch nicht als erstes Opfer oder final girl identifizieren können – einfach deshalb, weil der erste Mord der Killerserie eine dreiviertel Stunde auf sich warten lässt. Wir wollen ein willkürlich eingebauten Inzest sehen! Wir wollen Teeniegirls sehen, die am Pool blankziehen! Wir wollen stimmungsvolle Zwischenschnitte auf den Mond haben, wacklig aufs Nachtgestirn gezoomt – und tagsüber lässt es sich Franco nicht nehmen, auch mal die Sonne ins Visier zu nehmen, um die atmosphärische Spannung zu halten. Und, yeah, wir wollen Musik mit mindestens zwei Melodien hören, irgendwie so ein Gitarren-Synthie-Akkord und eine Flötentonfolge, wenn Miguels Gesicht mit den aufgepappten Narben naht.

„Die Säge des Todes“ bedient uns mit allem, was einen Slasher ausmacht – und das auf ganz merkwürdig symbolische Weise. Nämlich stets mittelbar, mit einer „Das wäre jetzt“-Attitüde: Das wäre jetzt ein abgeschnittener Frauenkopf; das wäre jetzt eine unheimliche Nachtszene im Park; das wäre jetzt eine Leiche; und das wäre jetzt Suspense und Spannung. Klar wissen wir immer, dass es all dies gerade nicht ist. Aber im Spiel halt, im Spiel…
Bezeichnend ist eine Szene, in der eine böse Hand böses Schlafmittel in einen Drink einrührt, schön im Detail von schräg oben gefilmt – und dann, wenn das Händchen das Löffelchen zurück ins Pulvergläschen führt, verschüttet das Dummerchen die Hälfte auf dem Tisch; naja, kann passieren. Und ist symptomatisch für Francos Kino, der das ganz Große will und irgendwo auf halbem Weg stecken bleibt.

Wobei „Das Frauenhaus“ schon wieder ganz andere Baustelle ist. Ein, sagen wir es geradeheraus: Politthriller mit, verschweigen wir es nicht, genderpolitischer Agenda.

Der Anfang: Ein Stripclub, eine Nackte schön im Rampenlicht ausgestellt. Eine exotische Kaffeebraune tanzt. Ein älterer Herr begutachtet sie mit Kennerblick. Er, nach rechts, zu einer halbnackten Blondine: „Den neuen Bomber würd ich gern verzupfen, kannst du das arrangieren?“ Und dabei hängt ihm, unbemerkt, von links eine Titte über die Schulter ins Haar.

Das ist eben auch so ein emblematisches Franco-Bild: von irgendwoher hängt irgendein Geschlechtsteil in den Film. Auch wenn es bildästhetisch ein Ungleichgewicht hervorruft: Der Film wird gefüllt mit Nackedeis. Motto: Warum nicht?

Was gleichzeitig die Frage aufwirft: Warum überhaupt? Eine Frage, die die Filme niemals beantworten. Ja: Eine Frage, die sie mit anderen Fragen geradezu zuschütten, um sie gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das Grundsätzliche wird durch Beiwerk umrankt und damit verborgen, beispielsweise via einer Titte über der Schulter. Eine Titte, die für den Zuschauer als voyeuristisches Fetischobjekt dienen soll (vielleicht), während im Folgenden die männerhassende Lesbensekte/Kampfbrigade/Terrorzelle ihre Opfer – ver- und entführt aus dem Stripclub – für ihren Voyeurismus und durch ihren Voyeurismus grausam foltern. Und dabei auch noch drinhängen in einer rätselhaften Kalter-Krieg-Verschwörung, nämlich (ein weiterer dieser Widersprüche, die den Film so reizvoll machen) angeleitet von einem grauhaarigen bärtigen Mann, einem Spion vielleicht oder einem Terroristen, weiß der Himmel, für wen er arbeitet – jedenfalls setzt er die Emanzipationsbewegung um Blue Rita, die sich fast wie eine Großphantasie feminer Selbstermächtigung ausnimmt, mit schnöder männlich-opportunistischer Pragmatik aus für irgendwelche bösen Ziele, die man am Ende dann auch wieder nicht blickt.

Ins Einzelne aufgedröselt bedeutet das: Wir finden uns urplötzlich in einem Raum mit durchsichtigen, aufblasbaren Plastikmöbeln. Dort wird der feine Herr aus dem Stripclub von der dunkelhäutigen Exotik-Schönheit nach Kräften verführt, sie hecheln sich übers Polyethylenbett, bis Gas austritt – weil dies eben eine Venusfalle ist, der Freier wird betäubt und weggesperrt. Während dessen Gespielin plötzlich wegrennt, nackt unterm Pelzmantel die Straße entlangläuft und von der schönen blonden Clubbesitzerin mitm Auto überfahren wird. „Das passiert mit denen, die nicht gehorchen!“ – ein kryptischer Satz. Wer kann schon in die Weiber hineinsehen, warum die eine plötzlich wegrennt und die andere sie dafür killt?!?

Jedenfalls gewährt uns Blue Rita tiefe Einblicke. Nackt steht sie über uns, wir sehen alles – bzw. nicht wir, sondern der Monsieur, aufgegabelt, abgegast und gefangen in einem vergitterten Loch im Boden. Das ist seine Qual: Er wird aufgegeilt und darf seine Bedürfnisse nicht befriedigen. Und wie er sich windet! Zumal Rita und ihre Gefährtinnen ihn mit einer giftgrünen Paste beträufeln, die ihn total scharf macht – eine Art Prototyp für gewisse blaue Pillen, anscheinend, aber längst nicht so appetitlich. Deshalb wütet er – und zwar bemerkenswerterweise nicht in der typischen 70er-Jahre-Sleazefilm-Sprachen (Stichwort „bumsen“), sondern recht keimfrei: „Gib mir die Frauen! Ich will mit ihnen schlafen!“

Was Rita und ihre Komplizinnen wollen, wird klar: Sie wollen erstens Männer quälen, aus ihnen zweitens – im Auftrag des Herrn Bergen – Informationen aus ihren Opfern herauspressen und sie drittens um ihr Erspartes auf dem Bankkonto bringen. Böseböse! Und dazu auch noch ganz und gar schamlos, wie sie immer nackig rumrennen… Was Jess Franco ausnutzt für ein paar irre Striptease-Nummern, die wieder gar nichts mit dem Rest des Films zu tun haben. Eine in rotgelockter Pippi-Langstrumpf-Montur vergeht sich an einer griechischen Statue; zwei andere vollführen eine irre Show darum, dass die eine Tänzerin erstens komplett schimmernd geschminkt ist und zudem sich einen Elefanten ums Geschlecht gebunden hat. Hammer.
Während des Castings einer neuen Tänzerin kommt es mal zu einer Schießerei. Aber das nur nebenbei. Interessanter sind ein paar Szenen in einer Art gynäkologischem Labor, wo ein Neumitglied der Blue-Rita-Family eingehend untersucht und auf die männermordende Gottesanbeterin-Tour eingeschworen wird.

Oh. Der Plot des Films. Ein netter junger Mann (den wir als den bösen Gefängnissadisten aus „Frauengefängnis“ http://screenshot-online.blogspot.de/2013/05/grindhouse-nachlese-april-2013.html wiedererkennen) wird auch gefangengenommen, und die Neue im feministischen Folterclub verliebt sich in ihn. Aber am Ende ist alles doch ganz anders, weil Interpol mitschwingt und KGB im Hintergrund agiert und so.

Im Übrigen gibt es auf dem steril-modernen Flur drei farbige Blinklichter, was auch immer sie anzeigen sollen. Eventuell die drei Kerkerlöcher für die drei Sexfolteropfer. Vielleicht auch einfach Alarm. Oder schlichte Buntheit à la Mario Bava. Wie überhaupt immer wieder die Kamera, das Filmlicht, die Schärfe mit unbedingtem Willen ins Psychedelische streifen.

Nämlich: Warum auch nicht.


Harald Mühlbeyer