Filmfest München 2013: "Grenzgang" von Brigitte Bertele

Beim Filmfest München kann man die Ernte betrachten, die aus der Saat spross, die in ANSICHTSSACHE begutachtet wurde: Brigitte Bertele war während der Formulierung ihres persönlichen beruflichen Credos (für unser Buch ganz exklusiv, dieses Werbeschlagwort muss hier mal sein) im letzten Spätsommer eingespannt in Dreharbeiten und Postproduktion ihres Filmes "Grenzgang", der nun hier läuft. Jakob Lass' "Love Steaks", ebenfalls in München, firmierte in Bernd Zywietz' Porträt der jungen German-Mumblecore-Szene noch unter dem Arbeitstitel "FOGMA #1", während für Axel Ranischs "Ich fühl mich Disco" der Titel schon feststand - auch auf diesen Film hat sich Zywietz bezogen. (hier nochmals ein Hinweis auf eine Zusammenfassung des Inhalts von ANSICHTSSACHE...)

Während also ANSICHTSSACHE bei Erscheinen vor einem knappen halben Jahr ersichtlich seiner
Zeit voraus war und nun absolut auf der Höhe ist, wenn  die o.g. Filme so allmählich in die Wahrnehmung des Publikums rutschen, ist in "Grenzgang" der Blick zurück die Lebensweise der Figuren, so sehr sie sich damit quälen. Thomas, Heimkehrer in die nordhessische Provinz direkt aus Berlin, lernt auf dem Volksfest, dem Grenzgang, Kerstin kennen, die es viele Jahre zuvor der Liebe wegen hierher verschlagen hat; es kommt zu so etwas wie einem Kuss.
Sieben Jahre später - das ist der Turnus des Grenzgang - ist beider Leben entscheidend weitergelaufen und steckt enttäuschend fest. Kerstin, geschieden, mit pubertär-verschlossen-verächtlichem Sohn und pflegebedürftiger Mutter, richtet sich ein in einem einsamen Leben à la vertrocknetes Scheidungsopfer. Sie wird noch immer still vonThomas verehrt, der freilich auf dem besten Weg zum Typus alleinstehender Studienrat ist. Beide hängen fest, haben längst keine Träume mehr, sitzen ihre Zeit ab und scheuen zugleich Veränderung.

Brigitte Bertele gelingt ein klarer und unverstellter Blick in die Provinz. Das Besondere: Nicht aus einer Außenperspektive, mit (gewollter oder ungewollter) überheblicher oder herablassender Attitüde - und auch nicht anheimelnd mit volkstümelndem Touch. Sondern als ein konzentrierter Ort der selbstgewählten Einengung, die durchaus auch als Klarheit und Ordnung verstanden werden kann, mit der man nicht nur leben, sondern die man auch als Lebenseinstellung übernehmen kann. So wie Hanns Zischler als sehr coole Schulrektor-Figur, der quasi in der Schule wohnt, sich sein eigenes kleines Reich geschaffen hat mit Liegestuhl, Lektüre und Cognac (und der sich abfindet mit der minderen Qualität der Alkoholika, die im Ort zu bekommen sind).

Die Geschichte der aufkeimenden Liebe zwischen Kerstin und Thomas ist eine Geschichte, die auch zeigt, wie aufkeimende Lieben wieder untergepflügt werden können, gerade, aber nicht nur im Provinzkaff. Wie eine frei und offen gelebte Sexualität nicht möglich ist, wie man sich die kleinen geheimen Orte suchen muss. Eine Freundin von Kerstin überredet sie dazu, mit ihr in einen Pärchenklub zu gehen; eine andere Form der Anmache, des Flirts ist im Ort kaum möglich. Thomas trifft sich mit seiner Ex - die all paar Monate mal in aller Freundschaft vorbeischaut - im Restaurant einer Tankstelle.

Der Film zeigt aber auch, dass diese Verkrustungen nicht unbedingt Einengung sein müssen; dass man nur umzugehen lernen muss; dass Freiheit in Grenzen möglich sein kann. Wenn man sie will und sucht. Der Grenzgang findet traditionell alle sieben Jahre statt, immerhin an diesen Feier-Tagen ist alles möglich, Wandern, Saufen, Partnersuche. Grenzgang: Das ist eine jahrhundertealte Tradition, ein reales Fest in Biedenkopf an der Lahn, entstanden aus Grenzstreitigkeiten im Mittelalter, als die Biedenkopfer immer wieder ihre Grenzen abgingen, ob nicht ein Nachbar den Grenzstein versetzt hat. Aus diesem Fest der Ausgrenzung, der Abschließung nach außen ist über die Jahrhunderte ein Volksfest geworden für alle, eine Feier des Miteinanders. Was beim Grenzgang über den Lauf der Zeit möglich ist, ist auch in der Liebe möglich.

"Grenzgang" wird am 27. November im Ersten gesendet.

Harald Mühlbeyer

Festival des deutschen Films Ludwigshafen: Nico Sommer erzählt von "Silvi"

Der Jumpcut ist das fashionable Mittel der Wahl aller Lars von Trier-Epigonen, die ihrer artsy-fartsy-Filmkunst eine Monstranz voraustragen: Was Godard recht ist, ist mir nur billig.
Der Jumpcut kann auch die letzte Rettung im Schneideraum sein für einen Film, bei dessen Dreh dem Regisseur und den Darstellern jedes Gefühl für Timing verloren gegangen ist.
Der Jumpcut muss aber nicht per se darauf hindeuten, dass einer sein Filmemachen mit ostentativer Wildheit verwechselt; oder dass beim Dreh die gleichgültige Haltung des "We'll fix it later" herrschte. Der Jumpcut kann auch sehr bewusst, sehr gezielt eingesetzt werden - und damit meine ich, er wird in Kauf genommen, statt absichtsvoll erzeugt, und er soll rhythmisierend Brüchigkeit erzeugen, statt in stillosen Notoperationen wilde Narben ins filmische Gewebe zu fetzen.

Nico Sommer hat in "Silvi", seinem Langfilmdebüt, eine sehr genaue und richtige Vorstellung davon,
was ein Jumpcut leisten kann, soll und will, und was nicht. Bei Sommer ist er ein Bote von der Gemachtheit des Films, von seiner Machart, vom Willen, diesen, genau diesen Film zu drehen, von der Arbeit mit den Schauspielern, die ihre Rollen improvisierend drehen durften in langen Einstellungen. Große Freiheit steht hinter diesen Jumpcuts, eine Freiheit, die auf die richtige Weise genutzt wird, die selbstbeschränkt wird: Denn "Silvi" erzählt eine wahre Geschichte, mit Dialogen, die so (oder so ähnlich zumindest, im paraphrasierenden Sinn) in Wirklichkeit stattgefunden haben, mit Handlungen, die so geschehen sind. Doch innerhalb des Rahmens - da kann alles passieren, da ist Genauigkeit möglich, die auch die Leerstellen des Jumpcuts beinhalten,  da kann ausufernd nach dem richtigen, nach dem echten Ausdruck gesucht werden, um dann im Jumpcut die die lebendig-filmische Dichtheit zu erzeugen, die ein Film braucht.

Nico Sommer hat seinen Film selbst finanziert, hat Freunde investieren lassen und die Freunde dieser Freunde. Sommer wusste, dass diese Geschichte erzählt werden muss, die Geschichte einer 47jährigen (Lina Wendel), die Knall auf Fall, während einer Autofahrt, vom Ehemann (Thorsten Merten) verlassen wird. Mit der Bierflasche in der Hand schlendert er davon und entlässt Silvi in ein schwarzes Loch. Oder besser gesagt: Lässt sie das schwarze Loch erkennen und ausloten, in dem sie jahrelang gefangen war. Interviews mit der fiktiven Silvi, die vor einer Rauhfasertapete sitzt und über sich erzählt, durchziehen den Film, Lina Wendel fühlt sich ganz ein in ihre Figur und erzählt aus der Fiktionalität heraus in die Realität des Zuschauers: Es muss eine ganz normale Ehe gewesen sein, die in Routine und Langeweile erstarrt ist, mit einem Mann, der so gar nichts mehr tat. Beine hoch, Bier runter, mehr war nicht - man hat da ein sehr genaues Bild. Und Silvi weiß: Da muss mehr sein. Sie sucht, sie will die Sehnsucht spüren, sie will das Kribbeln fühlen.

Silvi trifft Männer. Und das sind ganz und gar nicht die Typen, die wie ihr Mann einen darstellte. Der erste ist charmant, im Hotelzimmer ist auch alles einvernehmlich. Dann steht er auf, muss zur Arbeit, überhaupt: eine Beziehung will er nicht, hat ja seine Alte. Und jetzt bitte kein Genörgel, ist ja, als wäre man schon jahrelang verheiratet! Das ist noch einer der harmlosen Sorte.
Der zweite: Sehr nett, sehr zuvorkommend. Mit klaren Vorstellungen, wie welche Phantasie auszuleben sei. Das erste Treffen: Ein Blind Date im wahren Sinn, mit verbundenen Augen werden Gesichter, Körper abgetastet - das ist Nähe, das ist Sehnsucht; das trifft auf Silvis Wunsch. Danach: Lack-Leder-Fetisch-SM; auch das macht Silvi mit, es ist ein Abenteuer, nie hat sie so etwas gekannt. Nein: Ausgenutzt wird sie nicht. Ein bisschen Koksen ist auch OK, das Kribbeln, das Silvi sucht, steckt immerhin in der Nase drin. Der Vertrag, den er vorschlägt, hats aber in sich: Sie darf nicht ausgehen ohne seine Erlaubnis; und ab und zu ein Dreier wäre wohl auch OK?
Der Dritte ist schüchtern, kleinlaut, unbeholfen, aber voll von Glück: Silvi ist seine Frau. Er richtet sofort sein Leben nach ihr aus, feuert aus dem Nichts Komplimente ab, gibt sich ganz hin. Vereinnahmt sie emotional, will sofort die totale, radikale Bindung. Und im Übrigen: Könnte sie jetzt nicht vielleicht Brötchen holen und ihn solange in der Speisekammer einsperren, oder vielleicht im Wandschrank? Du bist meine Königin, ich bin dein Diener...

Peter Trabner spielt diesen letzten Typen, diesen Maso-Weichling mit äußerst präzisen Vorstellungen, was er will. Trabner: Das ist der Stammschauspieler von Axel Ranisch, den Bernd Zywietz zusammen mit ein paar anderen einer neuen Berliner Filmschule porträtiert hat in ANSICHTSSACHE: junge Regisseure, die Filmen, die schnell und präzise, sehr frei und sehr engagiert ihre Geschichten erzählen, die die Kamera tatsächlich als Bleistift benutzen im nouvellevagueschen Sinn, mit dem rasch skizziert werden kann - und nicht per Textverarbeitung inkl. Rechtschreibprüfung und Thesaurus filmische Großwerke schaffen. Axel Ranisch hat auch einen Dankeschön-Credit in "Silvi" bekommen - denn Nico Sommer ist ganz bestimmt ein Teil dieser jungen, frischen Generation von Filmemachern.

Filmemacher, die schwere Themen, die ansonsten Anlass zu rührselig-larmoyant-tranfuseligen Erstlingsdramen wären, werden mit sichtlichem Spaß und ausgeprägtem Witz erzählt. Nein: "Silvi" hat nichts mit den Zuschauer überstülpender Betroffenheit zu tun. "Silvi" ist komisch, hat Humor; enthält Herzenswärme, Ironie und Wahrhaftigkeit. Ein Dreiklang, der den Film zu etwas wirklich Befreiendem macht.


Harald Mühlbeyer

Festival des deutschen Films Ludwigshafen: Symposium zur "Großen Freiheit Internet"

Man muss mal ein Lob aussprechen. Der Ausweichort des im Vorfeld vom Hochwasser verscheuchten Filmfestivals ist hervorragend gestaltet. Eine richtige kleine Zeltstadt, die Terrasse mit Blick auf Bäume und Bungalows - auf der anderen (fensterlosen) Seite gäbe es Brache und Baustelle zu sehen... -; OK: im einen Kinozelt hört man den Ton des anderen Kinozeltes; aber das macht die Klimaanlage wieder wett, die in diesem Jahr neu eingebaut ist. Und im nächsten Jahr werden wohl, so oder so, die Kinozelte nicht benachbart sein...

Richtig Großes will das Festival bieten, und das tut es auch. Um dann aber, programmtechnisch, doch ein bisschen hochzugreifen: Weil eine einstündige Diskussionsrunde gleich zum "Symposium" hochgejazzt wird und eigentlich nur Propaganda dafür ist, den kleinen Künstlern nicht per Internetdownload die letzten Verdienstmöglichkeiten wegzuklauen.

Was ja an sich keine schlechte Sache ist. Was aber dann doch recht eine recht einseitige Angelegenheit ist, wenn auf dem Podium fünf Leute derselben Meinung sind.

Aufhänger ist der einstündige Film "A Silent Rockumentary" von Jonas Grosch, der die Band Mardi Gras.BB porträtiert, eine Mannheimer Marching Blues-Gruppe, die zu kämpfen hat, weil die
Liveauftritte nicht genügend Leute hinterm Ofen vorholen, um den immer geringeren Umsatz von Tonträgern aufzuwiegen. Grosch beobachtet sie bei Plattenaufnahmen in den Frankfurter Hazelwood-Studios - die letzte Produktion dort, wie sich herausstellen wird, weil Hazelwood kinzwischen den Weg allen Independent-Fleisches gehen musste. Es geht um die Musik, es geht stark um die Musik - so stark, dass jedes gesprochene Wort NICHT zu hören, sondern nur - stummfilmmäßig - auf Schrifttafeln zu lesen ist.
Grosch sagte beim Diskussionspanel: "Man nimmt ja am Kiosk auch nicht die ausliegende Zeitschrift einfach mit. Weil einem der Kioskmann gegenüber sitzt." Mit seinem Film wolle er die Band dem Publikum emotional nahe bringen, sie ihm gegenübersetzen wie den Kioskmann, so dass man sieht, was eigentlich bei Musikproduktionen dahintersteckt. Und vielleicht ins Nachdenken kommt, wenn man mal wieder was runterlädt.
Doc Wenz, Sänger und Frontmann von Mardi Gras.BB, drückt es schön aus: Im Film sagt er, eine Partei, die Freibier für alle verspreche, würde aus dem Stand 15% bekommen bei Wahlen. Und sie könne auch einiges an Freibier ausschenken, aber irgendwann ist es alle, und irgendwann muss man auch daran denken, wovon Kneipiers, Bierbrauer und Gersten- und Hopfenbauern leben sollen.
Live-Auftritte als Kompensation würden übrigens auch nicht funktionieren, so Wenz beim "Symposium": Er vergleicht das mit den Glasperlen von Santa Domingo, als glitzernden Ersatz, nachdem man einem vorher das Gold abgenommen hat.

Wenz war ohnehin der Glanzpunkt der Veranstaltung, überlegt, aber phantasievoll brachte er seinen Standpunkt aufs Parkett. Problem halt: Es gab keine Gegenargumente, nichts, woran man sich reiben, woran man auch hinaufsteigen konnte in höhere Tiefen oder tiefere Höhen des Themas. Es blieb konstant auf einem Level, dass man im Internet nicht einfach was runterladen solle.

OK: Als eine Art Bildungsprogramm für die Zuschauerschaft ist das in Ordnung. Als Ergänzung zum Film, als Weiterführung, als noch näheres Nahekommen der kleinen Band, die bald nicht mehr leben kann von ihrer Kunst. Umsonst-Kultur, Flatrate-Attitüde, Büffet-Leeressen-Haltung: Das hat natürlich keine Zukunft, ist nicht nachhaltig, trocknet das Biotop der künstlerischen Talente aus. Neben Mahnung stellten die Symposianten - denen auch Katharina Wackernagel, Produzentin von "A Silent Rockumentary", Fritz Krings vom Verband unabhängiger Musikunternehmen VUT und Moderator Ralf Niemczyk vom Rolling Stone - auch Lösungsvorschläge - die sich freilich lediglich darin erschöpften, dass die Politik den Radiostationen eine Quote für unabhängige Bands und Labels auferlegen solle.

Wenz hat natürlich recht: Es ist nicht gut, wenn man sich mit allem bedient, wenn man sich mit allem bedienen kann. Weil sich mit dem Runterladen, mit der bloßen Verfügbarkeit, die Wertigkeit verflüchtigt, ein Verlust auch der emotionalen Bindung des Kunden, des Hörers, an das Produkt, das der Künstler - hier wird Wenz dezidiert und ausdrücklich romantisch - mit seinem Herzblut geschaffen hat. Musik - Kunst allgemein - wird "zum virtuellen,  nicht haptischen gut in den Tiefen des Computers - ohne direkte, emotionale Bindung, ohne wirklichen Kontakt, ohne wirkliche Rezeption." Ein Kulturwandel der Verflachung - das war einer der tiefsinnigeren Gedanken der Diskussion, wofür es natürlich keine Lösung gibt, und geben kann. Über den mehr zu reden aber gut angestanden hätte.

Als Fazit stand denn auch am Ende das Bekenntnis zum Weitermachen - wenn es, so Grosch mit leichtem Augenzwinkern, nach der Veranstaltung am Merchandisingstand, wo es DVDs und CDs zum Kaufen (!) gibt, gut läuft. Ansonsten bleibt die Umschulung, auf Schreiner oder so: Holz kann man nicht runterladen.

Harald Mühlbeyer


Das Ludwigshafener Symposium "Große Freiheit Internet?" war die Auftaktveranstaltung für eine "Kino-Roadshow" mit dem Film "A Silent Rockumentary" inkl. Anschlussgespräch.
Film und Diskussion im Paket gibt es noch an folgenden Terminen:

Sonntag, 23. Juni, 20 Uhr, Berlin, Moviemento
Montag, 24. Juni,  20 Uhr, Hamburg, Abaton
Dienstag, 25. Juni, 19.30 Uhr, Düsseldorf, Metropol 
Mittwoch, 26. Juni, 21.15 Uhr, Frankfurt am Main, Orfeos Erben

"A Silent Rockumentary" startet am 27.6. offiziell im Kino.

Festival des deutschen Films Ludwigshafen: Mit Rudolf Thome "Ins Blaue"

Ach, jetzt ist aber was Dummes passiert auf dem Ludwigshafener Filmfest. Kann immer mal wieder vorkommen, ist aber trotzdem ärgerlich.

Da fängt alles so schön an, eine Fahrt ins Blaue, durchs sonnige Italien, drei Frauen on tour, Übernachtung im Zelt, nackt natürlich, ein Herr ist auch als lieber Besuch mit dabei, frühmorgends Lauf durch den feinen Sand der idyllischen Bucht, Nacktbaden im Meer, und im Hintergrund - ein zauberhafter Moment - springt ein Orca aus dem Wasser. Herrlich.
Und dann das. Wir springen zum Vorabend. Inzwischen weiß der Zuschauer, dass der Mann ein Mönch ist, den die drei frisch fröhlich frei unfromm verführen wollen - was der willig mit sich geschehen lässt. Als Vorspiel aber philosophisches Geplängel; Bruder Franziskus erklärt sowas wie - ich paraphrasiere: "Der Allumfasser, der Allerhalter, faßt und erhält er nicht dich, mich, sich selbst?" - was ja immerhin ein Standpunkt ist. Eins der Mädel, die, wie stolz erklärt wird, Philosophie studiert, entgegnet kurz und bündig: "Nietzsche sagt, Gott ist tot. Und ich glaube, er hat recht." Ende der Diskussion, Ende der Szene.
Und das, meine Damen und Herren, nenne ich dumm.

Es kommt noch mehr. "Ins Blaue" hätte so schön sein können, wenn sich der Film nicht ständig selbst in die Quere käme. Drei Mädels, die aus Übermut einen Mönch verführen: OK. Immerhin hat er ihren kaputten VW-Bus repariert. Später dann: Ein stummer einheimischer Fischer - stumm deshalb, weil sein Darsteller kein italienisch kann - verschleppt die Naivste der Reisenden in seine Höhle, zeigt ihr Fotos von seinen vielen Gespielinnen, dann bumsen sie. Später dann wird die Älteste mit einem echten Philosophen ins Bett steigen: Das ist Herbert Wittgenstein, "ja, der Sohn des großen Philosophen", wie er sich vorstellt - auch so ein dummer Spruch: Würde der Sohn des großen Philosophen drauf hinweisen, dass er der Sohn des großen Philosophen ist, wenn dieser Sprössling tatsächlich, wie behauptet, ebenfalls ein großer Philosoph ist und nicht nur einer, der seine Groupies vernaschen will? "Darf ich Sie ausziehen?" - "Eigentlich nicht, aber wenn Sie meinen, Herr Doktor...": Auch wieder so ein ärgerlicher Dialog, zum Heulen. Bzw. zum Lachen.

Weil zu diesem Zeitpunkt natürlich schon längst klar ist, was das für ein Film ist, der da gedreht wird: Nicht das Kino des 21. Jahrhunderts, wie es Nike Rabenthal, fiktive, von Alice Dwyer gespielte Regisseurin dieses Schmonzes-Film im Filmschmonzes, stolz von sich gibt, sondern ein Softsex-Heuler von vor 35 Jahren. Drei Mädels auf Reisen, die mit jedem ins Bett steigen, der sich lohnt. "Oh, Herr Doktor, Sie haben so einen langen und dicken Verstand!" - "Oh, ein Fischer mit ganz langer Rute!": Sowas erwartet man sekündlich, und mitunter wird man, siehe oben, nicht enttäuscht.

(In diesem Zusammenhang ein kleiner Hinweis auf das schöne Buch "Alpenglühn 2011" von Ulrich Mannes, der Mann hinter Sigi Götz Entertainment, in dem die erstaunliche Karriere von Siegfried Rothemund alias Siggi Götz rekapituliert wird; hervorragend geeignet, um Online-Bestellungen via Buchbeigabe versandkostenfrei zu machen...)

Der Film "Ins Blaue", der mit den drei Mädels, ist der Film, den Nike in der Rahmenhandlung dreht. Mit einem kleinen Filmteam und großen Hoffnungen fährt sie drehend durch Italien, mit dem Papa als Finanzier im Rücken, der aber das Geld nicht zusammenbekommt und deshalb die Rolle von Herbert "Stecher" Wittgenstein einnehmen muss. Während Nike mit Kräften bemüht, Lockerheit ans Set zu bekommen, Spontanität ins Spiel und Improvisation in den Ausdruck zu kriegen, um total frisches, magisches Leichtigkeits-Philosophie-Kino hinzukriegen. Also im Grunde genau das, was Rudolf Thome (mit Betonung auf dem e) zeit seines Filmemacherlebens suchte und hier als Überregisseur des Filmes "Ins Blaue", der von den Dreharbeiten zum Binnenfilm "Ins Blau zeigt.

Nike übrigens verhält sich so doof wie ihre Protagonistinnen. Verführt den Tonmann, den sie schnucklig findet (er hat ja auch eine lange Angel...!), zu einem Gläschen Wein, obwohl sie weiß, dass er trockener Alkoholiker ist. Ach komm, ein Glas macht doch wohl nichts aus!
Klar wird er besoffen, verkackt Aufnahme und Aufnahmegerät, und auf Papas Schoß gekuschelt traut sich Nike nicht, den Tonmann rauszuschmeißen.

Sicher ist es immer ganz nett, eine Handlung zu brechen dadurch, dass sie als Film im Film gezeigt wird; damit selbstreflexiv das Filmemachern selbst zu behandeln, vielleicht auch sowas wie ein filmisches Credo zu verkünden. Doof nur, wenn der Film wie auch sein Film im Film ganz und gar nicht das werden, was sie zu sein behaupten. Wenn völlig ironiefrei drei Betthupferl gezeigt werden, die einigermaßen hohl in der Birne zu nennen nicht zuwenig behauptet ist; und wenn die Rahmenhandlung des Filmdrehs auch keine weiteren Erkenntnisse liefert als die, dass irgendwo da draußen vielleicht eine Vision lauert, die aber dann doch von keinem gesehen wird.

Immerhin erleben wir nochmal Vadim Glowna, in seiner Paraderolle als monströse Vaterfigur, als tiefsinniger Erotomane. "Ins Blaue" stammt aus dem Jahr 2011, dies ist sein letzter Film. Ins Kino gekommen vor knapp einem Jahr, im Thomes Eigenverleih; und jetzt hier in Ludwigshafen nochmal im Wettbewerb um den Filmkunstpreis...

Harald Mühlbeyer

Festival des deutschen Films 2013: Zum Auftakt Genre-Grusel

Es war ja den ganzen Tag schönes Wetter. Und man hat schon gedacht, es würde kein richtiges Ludwigshafen-Filmfestival werden: Warme Sonne an einem Junitag? Das hat es noch kaum je gegeben, hier in der Kinozeltstadt!
Gottseidank kam abends um halb Neun das Unwetter, und man wusste: Hier bin ich richtig, jetzt bin ich angekommen.

Anne Wilds Eröffnungsfilm "Schwestern", der weitgehend sommerlich-sonniger Wiese spielt mit diversen Streitereien einer Familie, bot das reizvolle Kontrastprogramm zum realen Wetter; noch passender freilich der zweite Film des Abends: "Du hast es versprochen" von Alex Schmidt. Die Regisseurin hat ihre Handlung auf eine herbstliche Insel verlegt, viel nasser Boden, viel dunkler Wald, viel brausender Wind: Ein wahrhaftiges 3D-Erlebnis, wenn dazu der Regen auf die Zeltplanen prasselt und die realen Böen die aufgespannte Leinwand blähen, wenn die Kühle der Nacht (und der neu installierten Klimaanlage) Gänsehaut erzeugen.

Es liegt natürlich an mir, dass der Film wirkte, wie er wirkte. Ich bin empfänglich für
Gruselspannung, wahrscheinlich, weil mein normales Leben so schön ruhig verläuft. Wie ein Kind gucke ich den Zaubertricks auf der Leinwand zu, die ich schon so oft gesehen habe, die ich völlig durchschaue, und gebe mich hin. Wenn einer einen Kleiderschrank weit öffnet, wird nach dem Schließen der Tür sicherlich irgend ein unheimlicher Kerl im Zimmer stehen! Wenn man unbedingt weg will von der Insel, sind auf jeden Fall alle Schiffsmotoren kaputt! Wenn die Schauer über einen wallen sollen, erklingt auf dem Soundtrack eine einfache Spieluhrmelodie! Wenn süße Kinder später mal nachtschwarze Engel werden! Natürlich macht nachts im Haus keiner das Licht an, klar gibt es einen grobklotzig-seltsamen Hausmeister, und im Wald eine alte Ruine mit Falltür in einen tiefen Schacht.

Dort haben früher, als sie noch Kinder waren, in ihren gemeinsamen Urlauben Hanna und Clarissa gespielt. Was genau - das haben sie vergessen. Denn da war noch ein anderes Mädchen, Maria... 25 Jahre später begegnen sich die Kinderfreundinnen wieder, sie beschließen, einen Freundinnenurlaub zu machen auf der früheren Urlaubsinsel. Maria - die ist damals gestorben, wie und warum weiß man nicht. Doch noch immer ist sie gegenwärtig. Hanna beginnt, sie zu sehen. Hanna beginnt, sich zu erinnern. Hanna beginnt zu verzweifeln. Hanna will fliehen und kann es nicht.

Eine kleine Schuld, in der "unschuldigen" Kindheit begangen, hat große Auswirkungen. Das Vergessene kehrt mit Macht zurück. Lea, Hannas Tochter, freundet sich mit dem geisterhaften Marienkind an... und es ist klar, dass die Gruselstory, die Hanna 25 Jahre vorher erfunden hat, wahr wird: Vom Kind, das im Wald eingesperrt wird, das von Jahr zu Jahr wütender wird und darauf wartet, dass man es befreit...

Ach: Es sind alles Versatzstücke des Standardrepertoires. Da knarzt und knarrt es überall, da taucht wer aus dem Nichts auf und verschwindet wieder zurück, da vermischen sich Erinnerungen und Fantasien, Rückblenden und Gegenwart. Katharina Thalbach spielt eine hexenhafte Fischverkäuferin, Max Riemelt den knorrig-standfesten Fischer, Thomas Sarbacher den wilden Mann im Wald: Man braucht klare Typen, um darauf bauen zu können. Und wie gesagt: Das Reiz-Reaktions-Schema funktioniert bei mir.

Wobei. Andererseits. Was wirklich gruslig ist, sind die Dialoge. Die sind künstlich, steril, mit Worten und Satzkonstruktionen, die keiner benutzt, in Satzmelodie und Sprachduktus überdeutlich - das sind so die Merkmale schlechter Synchronisationen. Womit "Du hast es versprochen" ungewollt verweist auf die Horrorthriller-Genrevorbilder aus dem Ausland, das, was ab und zu im Montagskino läuft, wenn das ZDF etwas billig eingekauft hat.
Ebenfalls mit in der Assoziation: Seifenopern. Ist es gewollt, dass eine der beiden Hauptfiguren Clarissa mit Vornamen heißt, und dass darauf ein Adels-von folgt? Die Spielweise ist jedenfalls angelehnt ans Vorabendprogramm, unsubtil und geradeheraus.
Zudem hat man überhaupt nicht geachtet auf eine Ähnlichkeit der Darsteller der Kinder- und Erwachsenenfiguren - Mina Tander, die die Hauptrolle spielt, hat in ihrer Kindheit kein Muttermal... (Da hat Leone bei De Niro besser aufgepasst.)

Das sind dann die Momente, wo man noch mehr staunen muss über Alex Schmidt. Weil sie die Gratwanderung geht zwischen Grauen und Lächerlichkeit. Und ich muss staunen über mich: Weil ich trotz des Klischeequatsches, den der Film bietet, mich der Atmosphäre - zumindest zu großen Teilen des Films - hingebe. Ich Weichei!

Staunen muss ich auch beim Blick ins Internet. Der Film hatte einen Kinostart, im Dezember 2012. Der ist wahrscheinlich nicht nur an mir vorübergegangen... Wer etwas davon mitbekommen hat, und nachweisen kann, dass er anno dazumals den Film tatsächlich im Kino gesehen hat, bekommt als Preis einen frischen Fisch zugeschickt!

Harald Mühlbeyer

Festival des deutschen Films Ludwigshafen - zum neunten Mal

Sehr stolz ist das Ludwigshafener Festival des deutschen Films über das Urteil der FAZ, wo das Filmfest im April 2012 das "schönste Festival Deutschlands" genannt wurde.
Damit ist es in diesem Jahr vorbei. Denn die große Flut, die Bayern, Ost- und Norddeutschland überschwemmt, machte auch in Ludwigshafen eine Evakuierung notwendig: Zelte und Equipment, vorbereitet und im Aufbau im Park am Rheinufer, musste dem Wasser weichen. Der Boden ist nass, die uralten Bäume nicht mehr standfest - das Festival muss umziehen und findet in diesem Jahr auf einem schlaglochbesäten Schotterplatz im Hafengebiet statt, wo sonst im Juni die Autos der Besucher parken.
Keine langen Nächte unter schattigen Platanen, kein Füßebaumelnlassen im Rhein, kein Sonnenuntergang über dem Wasser, sondern die volle Industriebrache Ludwigshafens. Kein Schönreden dieser Stadt.

Das ist schade, einerseits. Andererseits sieht sich Festivaldirektor Dr. Michael Kötz ohnehin nicht als "Zirkusclown", wie er Screenshot im letzten Jahr in aller Deutlichkeit klarmachte. Wenn die Verpackung sich ändern muss, bleibt der Inhalt doch immer noch gleich; das ist ja die Hauptsache.

Eröffnet wird das Festival am Donnerstag, 13. Juni - und verlängert wurde es in diesem Jahr, um die vielen Besucher unterzubekommen - mit 18 Tagen meldet Kötz Ambitionen an, nicht nur das schönste, auch das längste Festival in Deutschland zu werden. Und weil der deutsche Film reichhaltig ist, haben er und seine Mitstreiter auch viele höchst sehenswerte Filme gefunden, die sie dem Publikum der Rhein-Neckar-Metropolregion präsentieren:
Etwa - natürlich - "Oh Boy", die existentialistische Berliner Drifter-Komödie, die den deutschen Filmpreis in diesem Jahr dominiert hat. Oder der hervorragende "Verdingbub", über das Schweizer Verdingwesen, in dem Waisen, Halbwaisen und sonstige Kinder unbarmherzig ausgebeutet wurden, bis in die 1970er Jahre hinein; im Übrigen auch in LU der von mir unterm selben Link besprochene "Ende der Schonzeit", immerhin halb sehenswert.
Großartig: "Draußen ist Sommer" über eine deutsche Familie, die in die Schweiz in ein schönes Haus zieht, um dort die innerfamiliären Beziehungen zu kitten - die nur immer mehr in Scherben zerfallen. Minimalistisch, aber starbesetzt: "Die Libelle und das Nashorn", in dem Fritzi Haberlandt und Mario Adorf eine einsame, gemeinsame Nacht in einem Hotel verbringen.
Und ebenfalls einen schönen Sommer-Kinozelt-Abend verspricht "Abseitsfalle", der das Bochumer Opel-Schicksal zu einer tragischen Komödie verarbeitet. "Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel", eine komödienhafte, selbstironische, selbstreflexive Meditation über Kleists klassische Unrecht- und Rachestory, hat viele Zuschauer verdient, ebenso wie "Gold", der diesjährige deutsche Berlinale-Wettbewerbsfilm, ein Western, der einer deutschen Goldsuchertruppe in die kanadische Wildnis folgt.

Dazu: Noch gefühlte hundert weitere Filme, deutsche Kino- und Fernsehproduktionen - von den mir bisher unbekannten vor allem letzteres; gemäß den Statuten des Festivals wird ja nicht nach Aufführungsort entschieden, sondern nach Qualität des Films (womit man auch schlechte Projektion von DVD in Kauf nehmen muss). Auch dies muss nichts Schlechtes sein - beim bloßen Zappen durchs Programm entgehen einem viele Fernsehfilmperlen, die hier aufzuspüren sind.

Unverzeihlich ist im diesjährige Programm nur eines: Dass in der Kinderfilmreihe die unglaublich großartige Tommi-Ungerer-Verfilmung "Der Mondmann" nicht berücksichtigt wurde (immerhin lief ja im letzten Jahr der kongeniale "Die drei Räuber", ebenfalls nach Ungerer, ebenfalls Zeichentrick, ebenfalls wunderbar skurril).

Wem die Filme nicht reichen; wer den Schotter unter den Füßen vergessen will; wer auch das Ambiente ordentlich genießen möchte, dem bietet Michael Kötz auch kulinarische Genüsse an: Unter dem Motto "Sinn und Sinnlichkeit" werden ausgewählte Filme mit Drei-Gang-Menüs verbunden, für den ordentlich kulturbeflissenen Festivalgast; inklusive Handschlag vom Festivaldirektor persönlich. Womit noch einmal ganz klar der (selbstgebastelte) "Zirkusclown"-Vorwurf tatkräftig dementiert wird - und empfiehlt sich im Gegenzug als künftigen Nachfolger von Siegfried Rauch resp. Sascha Hehn.

Harald Mühlbeyer
(der, soweit bisher bekannt, in diesem Jahr wieder eine Akkreditierung erhalten wird)

Zu FÜNF JAHRE LEBEN

Im Verleih von Zorro Film ist ein bemerkenswerter Film gestartet, den Sie vielleicht, hoffentlich, auch immer noch in einem Kino in Ihrer Nähe sehen können (wir wissen ja, wie schnell vor allem deutsche Filme aus selbigen schnell verschwinden). Gemeint ist FÜNF JAHRE LEBEN von Stefan Schaller. Der lief Anfang des Jahres auf dem Max Ophüls Preis in Saarbrücken, war und ist m.E. beeindruckend. Nicht nur, aber auch, weil ich mich mit dem Thema Terrorismus und politische Gewalt schon eine Weile befasse (ein entsprechender Text HIER). 


Der Film handelt von Murat Kurnaz, dem „Bremer Taliban“, der über Jahre als Terrorismusverdächtigter im Gefangenenlager von Guantanamo inhaftiert und auf eine Weise behandelt wurde, wie es sich für einen Krieg gegen „den“ Terrorismus insofern, simpel gesagt, nicht gehört, als man so eben jene Werte preisgibt, die es doch zu verteidigen gälte. Dass hier Schindluder im Namen der Sicherheit und Gefahrenabwehr getrieben wurde, ist keine Behauptung, keine Erkenntnis, die sich FÜNF JAHRE LEBEN groß zu eigen machen müsste – nichts, was als Verteidigung Kurnaz‘ in dessen Buch oder seinen Auftritten vor den deutschen Fernsehkamera nach seiner Freilassung rekapituliert würde. Sondern ein mehr oder weniger – und entsprechend mehr oder weniger gar nicht mal von betreffenden Stellen bestrittener – Umstand, dessen Skandal darin liegt, dass der „Fall Kurnaz“ kein solcher in angemessener Weise wurde. 

Dass und wie Kurnaz ins US-Militärlager auf Kuba verbracht wurde, wie – gelinde gesagt – unrühmlich sich nicht nur die zuständigen amerikanische Stellen, sondern auch die bundesrepublikanischen Verhalten haben, auch und gerade als klar war, dass es sich um keinen „Gefährder“ handelte, dass ist alles recht bekannt und aufbereitet. Es ist also nicht Stefan Schaller zuzuschreiben, wenn er dieses a) zum Thema macht und b) daraus eben kein Politikum (mehr) strickt mit seinem Film.

Schaller, ein sympathischer junger Mann, zurückhaltend und voller Verve für sein Thema, verfolgte die Geschichte der Bremer Rabauken, der zum Islam fand und schließlich als Radikalislamist unter vielen in einem Käfig landete, schon vor seinem Studienbeginn an der Filmakademie in Ludwigsburg. Er hat den Fall – auch, aber auch davon unabhängig – in engem Kontakt mit Kurnaz für die Leinwand aufbereitet. Als sein Abschlussfilm. Allein dafür gebührt ihm Respekt. Darüber hinaus aber ist FÜNF JAHRE LEBEN kein Polit-Lamento geworden, auch kein Gremienfördermelodram. Vielleicht doch, zumindest: beides zusammen. Aber auch mehr. Und das ehrt Herrn Schaller.

FÜNF JAHRE LEBEN handelt von dem, was Kurnaz erdulden musste. Der Film zeichnet ihn nicht als einfaches Unschuldslamm, auf dass wir uns simpel über die Unmenschlichkeit des Guantanamo-Lagers empören könnten. Es ist ein Seelen- und Menschlichkeitsduell, das der Film entwirft. Einerseits ganz in den Konventionsrahmen der guten Kinoerzählens, das auch immer emotional packen will und anrühren soll. Ein Heuchler, der hierin eine Verfehlung sieht und ein Idiot, der es lediglich dem Film vorwirft und dabei nicht das Konstitutionelle des „Mediums“ selbst (und darin die Güte und die Erkenntnisbefähigung darin) erkennt. 

Wir haben Kurnaz, auf der anderen Seite den US-Verhörbeamten, der selbst unter Erfolgsdruck steht, vielleicht gar selbst nicht an die – ohnehin obszön potenzielle, zumal gesinnungshafte – „Schuld“ des Internierten glaubt. Hitze, Kälte, laute Musik, Schlafentzug – das sind die Maßnahmen, die man dem mehrdimenionalen Häftling (von Unbotmäßigkeit bis Naivität) angedeihen lässt. Andere, perfidere, persönlichere Brechungs- und Manipulationsmethoden exerziert FÜNF JAHRE LEBEN durch (dabei: immer auch am Publikum): Die falsche Hoffnung, freigelassen zu werden. Ein zynisch zensierter Brief von der Mutter, in dem vor lauter Schwärzung nichts mehr übrig bleibt. Schaller führt hier ein System vor. Das ist legitim. Er zeigt aber auch dessen eigene, inhärente Hilflosigkeit auf. Das ist mehr, als man erwarten dürfte bei einem „kritischen“ Film. Sicher, FÜNF JAHRE LEBEN ist eingängiger, vielleicht auch sinnfälliger, auf keinen Fall aber simpel, als es die Wirklichkeit war. Was womöglich gar Kurnaz selbst missverstand, als er sich darüber beschwerte, dass eigentlich alles viel härter war und „er“ in dem Film eher wir ein „Weichei“ wirkte.

Die große, vom Einzelfall zu extrahierende Botschaft von FÜNF JAHRE LEBEN ist allerdings: dass und wie man einen Menschen brechen kann, gewinnen kann, weil man ihn „da“ hat, wo man ihn haben will – und genau darin, dadurch verliert. FÜNF JAHRE LEBEN macht, was Filme in diesem thematischen Grenzgebiet nur selten schaffen: Aufzuzeigen, dass – bei allen Selbstmordattentätern mit ihrer fremd- und eigenmörderischen Selbstauslöschung und „altruistischen“ Aktivisten – Märtyrer nicht anders ein können als dann doch: gemacht.
  
FÜNF JAHRE LEBEN erzählt weniger durchkalkuliert oder auf Nummer sicher als entlang der universellen Filmsprache genau. Ein Unterschied, der heutzutage und das gerade in der Filmkritik gerne und fahrlässig in eins gesetzt wird.


Fast schwerer noch wiegt eine bereitwillige Gleichgültigkeit, die gerade jenen Rezensenten ihre Stellung unterminiert, die selbst doch so gerne ausgebaut oder zumindest verteidigt sehen (ihre wegweisende Relevanz) – keine Deformation des deutschen Kinos, sondern die Illustration seiner Defomierung als Prozess im Schreiben über (also: als Wahrnehmung von) Filme(n) in Deutschland: Martina Knoben in ihrer Besprechung auf süddeutsche.de bemängelt etwa den im Presseheft von Schaller benutzten (neutralen, dramaturgietheortisch etablierten) Begriff der "Heldenreise", und: „Will man den Widerstand gegen ein System, in dem Menschenrechtsverletzungen nicht nur ‚passieren‘, sondern gewollt und geplant sind, auf das dramatische Muster des Zweikampfs reduziert sehen?“ Das aber heißt, einen Film zum einen auf ein vielleicht (oder: in diesem Kontext) unglückliches Wort zu reduzieren und, zum anderen, die ureigensten Präsentationsformen des Erzählkinos in seinen Grenzen und Möglichkeiten zu verkennen. Denn, ja, das dramatische Muster des Zweikampfs ist – hier – absolut gerechtfertigt, und es ist es auch in anderen großartigen Filmen zuvor schon gewesen. Allein, weil das klassische „Hollywood“-Erzählen seit jeher personalisiert hat und darin auch durchaus mehr Wahr- und Weisheit zum Ausdruck gebracht hat als formale und erzählerische Abstraktionen, die nicht per se mehr Wirklichkeit zu fassen bekommen.

Moritz Piehler auf spiegel-online betitelt seine Rezenzion mit „Wie ein ‚Tatort‘ aus Guantanamo“, kritisiert, dass Kurnaz Wandlung zum gläubigen Muslim nicht nachvollziehbar gemacht werde und die Verfehlungen der Schröder-Regierung in der Sache vernachlässigt würden. Dass erste aber macht einen großen Reiz des Films aus, weil es die Figur Kurnaz eben nicht auserzählt und damit zum einfachen „Opfer“ deklariert. Der andere Punkt zielt auf einen zeitgeschichtlichen Seitenstrang, der mit dem Universellen, dem sich der Film widmet, nichts zu tun hat und als ein allzu simpler, fast naiver Ruf nach einem Rundum-Angemessenheit der Aspektvielfalt ebenso am Kern von FÜNF JAHRE LEBEN vorbeigeht. (Gerade so, als läge die Offenbarung in einer hinreichenden Vielfalt von Facetten).  

Solche Forderung und Einwände wären angebracht, ginge es hier um das Multimillionen-Euro-Projekt etablierter Regisseure, ein Event- und Amphibien-Kino. Oder eben tatsächlich: einen „Tatort“. Bei aller Filmförderung und Koproduktion handelt es sich bei FÜNF JAHRE LEBEN um einen Diplomfilm eines Filmstudenten. Einem, dem es nicht nur gelungen ist, eine kluge und emotionale packende Geschichte zu liefern, sondern auch mit relativ albern geringen Finanzmitteln eine Werk hinzulegen, das Guantanamo in Deutschland auch kulissentechnisch rekonstruiert und generell eine Qualität aufweist, die international sehenswert, verständlich und ansprechend ist.

Dass und wie Stefan Schaller sich eines solch dimensionierten, heiklen Stoffes angenommen hat, ist bewunderns- und nachahmenswert. Dass Filmkritiker angesichts eines Erstlingswerks, das sich jenseits von üblichen Stimmungs- und Befindlichkeitswerken bewegt und zu bewegen traut, keine verständigen, eigenständigen Bewertungsmaßstäbe und -kategorien zur Hand haben (sich aber unbedingt auf solche stützen zu müssen scheinen), verrät allzu viel über unser Verhältnis zu Newcomern und einen deutschen Film, der über sich hinaus verweist. Ein Armutszeugnis nicht für junge und kommende Filmemacher, sondern für die visionsarmen und maßstabsstarren bzw. -beschränkten Augen derer, die hierzulande über das aktuelle Kino befinden und letztlich, womöglich, wieder zurückwirken.

zyw