FILMZ 10: „Potato Fritz“ – Die größten Kartoffeln

Die Rückblende bei Jubiläums-FILMZ beschäftigte sich mit den Rückblenden der vergangenen Jahre. Aber nicht auf so simple Art wie die 60. Berlinale im Februar d.J., wo einfach Filme aus vergangenen Retrospektiven ausgesucht und wiederholt wurden. Nein: FILMZ zeigt Filme, die in den Retrospektiven der vorherigen Jahrgänge nicht gelaufen waren, und bietet so einen nochmals erweiterten Rückblick auf die deutsche Filmgeschichte. Da wurden sinnige Filme ausgesucht: Der „Blechtrommel“-Director’s Cut, der dieses Jahr erstmals in Cannes vorgestellt wurde, als Ergänzung zur Schlöndorff-Retro von 2004 und zur Mario-Adorf-Schau 2009, oder der 1973 in der DDR verbotene und in diesem Jahr rekonstruierte „Die Taube auf dem Dach“ von Iris Gusner als Nachklapp zur Defa-Rückblende 2005.

Von Peter Schamoni, bei FILMZ filmgeschichtlich aufbereitet im Jahr 2008, lief ein seltsamer Film, ein deutscher Western aus dem Jahr 1975: „Potato Fritz“, im Vorspann mit seinem späteren Verleihtitel „Zwei gegen Tod und Teufel“ angegeben. Was ein Western braucht, ist in diesem Film drin: Schlägerei im Saloon und Klopperei zweier Freunde, um sich ihrer Männlichkeit zu vergewissern; Schießereien, Überfälle und Hinterhalte, lauernde Indianer, Siedler und Kavallerie, vorwärtstreibende Gier nach einem versteckten Goldschatz, rückwärtsgewandte Rache wegen einer früheren Fehde; ein züchtig-sehnendes Mädel, typisch leiernde Western-Musik, Helden, Schurken und irgendwas dazwischen. Dazu die typischen Spätwestern-Elemente der latenten bis akuten Ironisierung; denn der Held, gespielt von Hardy Krüger, ist ein Farmer, der eigentlich nur seine Kartoffeln anbauen will; im hart umkämpften Indianergebiet, da, wo irgendwo das Gold versteckt ist…

Problem dabei ist, dass das alles zwar toll in einen Western passt, aber leider nicht in diesen Film. Denn der reiht alles aneinander, ohne so richtig die Übersicht zu haben, wann was angemessen, wann was notwendig und wann was überflüssig ist. Viele wichtige Plotelemente – Morde, die vielleicht von Indianern, vielleicht aber auch von Banditen begangen wurden, oder Hinweise auf Vermisste – werden nicht gezeigt, sondern nur aus zweiter Hand von irgendwelchen Leuten irgendwelchen anderen Leuten berichtet. Überhaupt gibt der Film zu Anfang keine Hinweise, wo die Linien der verschiedenen Gegnerschaften verlaufen, wie die Figurenkonstellation konstruiert ist, worum es eigentlich geht. Das ist wohl eine bewusste Mystifizierung von Schamoni; die aber weniger Spannung als Konfusion aufbaut. Irgendwann tritt ein durchgeistigter, weltabgewandter Reverend auf, der im Namen Gottes Bisons vor sich her scheucht; und dann fällt er einfach aus dem Film und ward nicht mehr gesehen. Oder wurde er ermordet, und ich habs nicht so richtig mitgekriegt?

Trotzdem ist in diesen Zwischenräumen, die sich auftun, wenn alles nicht so recht zusammenpasst, eine gewisse Coolness zu spüren; Hardy Krüger gibt den harten Kerl, Stephen Boyd kämpft für Gerechtigkeit und zugleich für seinen Anteil am Schatz, von oben, von den Felsen, beobachtet Indianerhäuptling Arschloch das Geschehen, die Kartoffeln wachsen und gedeihen, die Musik stammt von Udo Jürgens (!), und einen der Soldaten spielt Fußballweltmeister Paul Breitner, mit seiner typischen wilden Mähne, mit Barttracht und seiner langen Nase: das ist irgendwie schon so verquer, dass es wieder gut ist; nicht mal unbedingt in einem Trash-Sinn, sondern einfach, weil klar wird: hier hat Peter Schamoni so richtig reingehauen, denn wenn schon Genre, wenn schon Western, wenn schon deutsch: dann richtig.

Harald Mühlbeyer

FILMZ 10: SATTE FARBEN VOR SCHWARZ



Seit fünfzig Jahren sind Anita (Senta Berger) und Fred (Bruno Ganz) zusammen, könnten den Lebensabend genießen, eine schöne Villa haben sie, leben in gehobenen Verhältnissen und doch zugleich sehr souverän und entspannt darin – und wie vor allem Fred seiner Frau von der Seite ansieht, dabei lächelt, lässt einen spüren, wie glücklich sie miteinander noch sind.

Doch Bruno will sich auch absondern, Raum und Zeit zum Nachdenken, und während der Sohn nach Hause kommt, weil die Tochter heiratet, erfahren wir nebenbei: Bruno hat Krebs. Und überlegt, ob er sich überhaupt operieren lassen will. Anita ist darüber still verletzt, hilflos. So muss sich das Ehepaar damit auseinandersetzen, wie es ist, mit- und gegeneinander alt zu werden. Und dass es für jeden unweigerlich aufs Ende zugeht.



SATTE FARBEN VOR SCHWARZ ist kein Kranken- und auch weniger ein Alters-, sondern ein Beziehungsdrama. Eines, das sein unbequemes und wichtige, oft unterbeleuchtet Themen mit kleinen Details und genauen Beobachten, dazu mit auch feinsinnigem Gespür für Momente, Stimmungen und Dialoge – auch Witz – geerdet, dabei sehr leicht und umso mutiger angeht. Keine depressive Krankenhausaufnahmen, sondern eine Bürgerwelt, in der die Alltäglichkeit des Rentendasein gegen eine andere, viel existenziellere behauptet werden will. In der Gefühle und Auswege ausprobiert werden, bis zum konsequenten Ende. SATTE FARBEN IN SCHWARZ ist ein Film, der sich nicht nur Zeit, sondern die richtige Zeit nimmt.

Fast schmerzhaft schön oder elegant und doch nicht verkündstelt ist die Bildgestaltung (Kamera: Christine A. Maier). Doch neben dem vorzüglichen Buch (Regisseurin Sophie Heldman zusammen mit Felix von Knyphausen, basierend auf biographischen Erfahrungen der deutsch-schweizerischen Filmemacherin) sowie der vorzüglichen Regie sind es vor allem aber die beiden großen Darsteller Senta Berger und Bruno Ganz, die SATTE FARBEN VOR SCHWARZ zu einem intensiven – nein, nicht Erlebnis: einer Erfahrung machen.



Ob beide zusammen, liebkosend, Berger stumm verzweifelt; wenn Ganz nackt im Spiegel seinen gealterten Körper betrachtet oder im Gespräch mit einem Mundwinkelzucken oder einem Blick Worten und Tun nachgerade „auflädt“, wie das keine Regie und kein Drehbuch auch nur andeuten können: dann ist das bei ihnen nicht nur eine couragierte Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensphase, die mit sichtlichem Wissen miteingebracht wurde, sondern schlicht von einer Präsenz und Dichte, die einen nicht so schnell wieder verlässt.

Vielleicht ist gerade deshalb der Titel so erstaunlich treffend, beschreibt er weniger etwas im Film oder den Films - als vielmehr das "Wirkung" des Films auf den Zuschauer.

Daher: Ganz großes Kompliment für und vielen Dank an Frau Heldman, die hier nicht nur ihren dffb-Abschluss- bzw. Debütfilm vorgelegt hat, sondern mehr noch etwas, das mit zarter Hand ganz fest packt.


Bernd Zywietz


SATTE FARBEN VOR SCHWARZ läuft auf dem FILMZ noch einmal am Sonntag um 17.30 Uhr im Cinestar 7. Sollten Sie nicht verpassen!


R: Sophie Heldman
B: Felix zu Knyphasuen, Sophie Heldman
K: Christine A. Maier
SCH: Isabel Meier
Mit: Bruno Ganz (Fred), Senta Berger (Anita), Leonie Benesch (Yvonne), Barnaby Metschurat (Patrick), Carina Wiese (Karoline)

Kritikerschelte

Schnell mal meine drei Groschen zu den FILMZ-Webkommentaren, DIE ENTBEHRLICHEN und unserem Redakteur und Autor H.M., der mit diesem Meinungstext hier nichts zu tun hat bzw. nur als Aufhänger dient...


Ja, Künstler und Kritiker, eine heikle Beziehung. Man denke an Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki – oder an M. Night Shyamalan, der es sich in LADY IN THE WATER nicht verkneifen konnte, einen Filmrezensenten seinem Graswolf zum Fraße vorzuwerfen.

Auch bei FILMZ gab es jetzt Krawall im Kleinen. Da hat es Screenshot-Redakteur Harald Mühlbeyer als Kommentar auf der entsprechenden Seite des Festivals seine Kritik auf „Filmgazette“ zu verweisen – und prompt ging‘s rund.

Es handelt sich dabei um Andreas Arnstedts DIE ENTBEHRLICHEN, und obwohl Mühlbeyers Kritik noch vergleichsweise moderat ausfiel, hagelte es Gegenkritik und Beschimpfungen.

Perfide“ sei die Besprechung, „Mainz hat kein Niveau, sonst wäre ein Harald Mühlbeyer gar nicht möglich!“ – heißt es da und „Profilneurose“, „Nichttalent“ und „menschverachtendem Zynismus“ ist die Rede. Jahrgang und Wohnort werden genannt.

Die FILMZ-Macher selbst distanzierten sich von Herrn Mühlbeyers Link bzw. der externen Kritik und damit dem Stein des Anstoßes (mit gutem Recht) und weisen darauf hin, dass sie den Film herausragend fänden und daher dem Publikum präsentieren wollten.

Andreas Thomas, Redakteur und Herausgeber der „Filmgazette“, meldete sich auch zu Wort und verteidigte das Abschalten der Kommentarfunktion auf seiner Seite:

„Der auf dieser Kommentarplattform stattfindende und auf der http://www.filmgazette.de gelöschte ‚Meinungsaustausch‘ hat, mit wenigen Ausnahmen, mit inhaltlicher und sachlicher Auseinandersetzung, vor allem aber mit der Tolerierung einer anderen Meinung nichts mehr zu tun, sondern er kommt einer Hetzkampagne gleich, die in ihrer Aggressivität erschreckend ist.
Deshalb habe ich beschlossen, unsere Website generell, nicht nur in diesem Fall, nicht mehr für irgendwelche potentiellen Hetzkampagnen zur Verfügung zu stellen. Die Kommentarfunktion auf der http://www.filmgazette.de ist ab sofort endgültig gesperrt.“ Direkt auf Filmgazette.de ist dies begründet mit „persönliche[n] Beleidigungen gegen den Autor, die mit einer inhaltlichen Auseinandersetzung meistens nichts mehr zu tun hatten, sondern in ihrer Intoleranz, Stillosigkeit und Aggressivität so nicht mehr hinnehmbar waren“.

Mag durchaus sein, dass DIE ENTBEHRLICHEN – „Deutschlands wichtigster Film“ (FILMZ-Kommentator Klett) – seine Qualitäten und vor allem Fans hat, die ihn nun verteidigen. Vieles von dem, was da auf dem FILMZ-Blog zu lesen steht, wirkt aber wie eine konstatierte Gegenkampagne. Nicht nur wegen solch subtiler Empfehlungen wie „Kümmert Euch lieber um Karten für DIE ENTBEHRLICHEN!!!! Denn ich kenne schon ne Menge Leute die sich den Streifen ansehen wollen!“ wie ein selbsternannter „Kenner der Mainzer Szene“ empfiehlt. Nein, ich nehm das zurück: ein Realsatiren-Werbespruch kann nur singulär und authentisch sein.

Screenshot jedenfalls selbst bietet keine oder nur eine moderierte Kommentarfunktion, weil wir unsere Zeit nicht damit vergeuden wollen, fragwürdige und tumb beleidigende Gegenkritiken (oder Sex-Werbung und sonstigen Spam) aus dem Filter fummeln zu müssen wie nasse Haare aus dem Abfluss. Auf Kommentare mit einem vernünftigen Minimum Umgangston und Niveau freuen wir uns aber natürlich (nicht nur, was die Sex-Werbung betrifft).

Ich weiß, eigentlich ist das Ganze die Aufregung und so einen Text hier eigentlich nicht wert. Anlässlich der Causa Mühlbeyer vs. DIE ENTBEHRLICHEN Kommentare will ich persönlich aber was Grundsätzliches in Sachen Filmkritik und -gegenkritik ansprechen. Gerichtet ist das vor allem an Filmemacher, die gerne auf Filmkritiker schimpfen – wobei ihr Ärger oder gar Verachtung verständlich ist; man steckt schließlich nicht Zeit, Geld und Unmengen an Energie in ein Werk, nur um dann unbekümmert zuzusehen, wie andere darauf rumtrampeln.

Trotzdem (und hiermit zu einigen Klagen, die mir gegenüber in den letzten Jahre geäußert wurden):

1.
Auf die Meinungsfreiheit zu verweisen ist mittlerweile ein solcher Allgemeinplatz geworden, dass man ihn sich eigentlich gar nicht mehr anzufassen getraut, aus Sorge darüber, dass sie als Argument noch weiter trivialisiert wird. Darum anders:

Letzten Endes geben Filmkritiker geben Filmkritiker NICHT einfach nur ihre eigene Meinung wieder – sondern die GOTTES!! Ja, ist so! Sorry. Wir wollten das eigentlich nicht verraten, aber wir haben da eine geheime Telefonnummer, bei der rufen wir an…

Nein, Spaß beiseite: Selbstverständlich geben auch Filmkritiker nur ihre Meinung wider, die natürlich argumentativ, von einem geschultem Blick gestützt und mit Erfahrung und Wissen untermauert sein sollte. Ist sie nicht immer, schon klar. Dagegen zu stänkern wäre aber im Grunde auch nicht anders, als würde man dagegen sein, dass sich nach dem Kinobesuch das Publikum unterhält und Antwort gibt auf die Frage „Und? Wie fandest du’s?“ Und letztlich sind Filmkritiker immer zunächst genau das: Zuschauer, Kinobesucher.

Ebenso wenig wie wir als Publikum gezwungen werden, des Filmemachers Film zu schauen, ist jemand gezwungen, unsere Rezensionen zu lesen. Keine Augenklammern wie in A CLOCKWERK ORANGE, keine Familienangehörige werden als Geiseln gehalten. Und unsere Berechtigung, Filmkritiken öffentlich zu machen, holen wir uns eben im selben Büro ab wie die Filmemacher ihre „Erlaubnis“, ihre Filme zu drehen. Für Sie liegt beides auch da, abholbereit und mit Stempel.


2.
Dass Filmkritik per se gar nicht so schlimm sein kann, zeigen denn auch Freude und Wunsch über bzw. nach einer GUTEN Besprechung. Oder die Freude darüber, wenn ein Rezensent die eigene Meinung widerspiegelt.


3.
Mein Liebling: „Filmkritiker krakeelen nur, steuern aber selbst nichts Konstruktives bei“. Oder eleganter: „Filmkritiker sind wie Kastraten: Sie wissen, wie es geht, können es aber selbst nicht.“ Und, eigentlich die Kirsche auf dem Sahnehäubchen: „Wenn’s dir nicht gefällt, mach es doch besser!“

Wer so oder ähnlich „argumentiert“, solle sich an die eigene Nase fassen und fragen, wann er sich zum letzten Mal zu einer Parlamentswahl gestellt hat, nachdem er über einen Politiker geschimpft hat und oder ob er sich von einem Arzt würde klaglos und achselzuckend falsch behandeln lassen, nur weil er selbst keine Ambitionen verspürt, selbst Medizin zu studieren.

Kurzum: Sollen wir also keine "Probleme" benennen, etwas was schief läuft, schief gelaufen ist, auch wenn wir sie nicht (nachträglich) ändern können? Nein, sicher nicht. Wie auch DIE ENTBEHRLICHEN aufs soziale Elend verweist. Das ist richtig und gut so!

Vielleicht weisen Kritiken in welcher Form und künstlerischen Art auch immer dazu bei, den Blick zu schärfen, auf etwas aufmerksam zu machen. Im Kino oder drum herum.


4.
Nein, natürlich ist ein Film ist im Grunde nie in seiner Gänze schlecht! Klar, manchmal klingt das so (und ganz ganz selten mag das auch mal vorkommen). Man muss halt zuspitzen, verallgemeinern; tut jeder von uns, auch im Alltag. Oder reden Sie nie von DEN Italienern (oder aber von DER Filmkritik)?

Ein Film besteht aus einer Vielzahl von Leuten, die meistens Großartiges leisten, Lichttechniker, Kamera-Assistenten, Set Designer! Auch sie tragen zu einem Film bei, massiv, aber deren Leistung will ein Verriss auch gar nicht schmälern. Tut er auch nicht, wie diese Leute wissen, aber auch das Publikum (das schließlich Filmkritiken selten liest, um sich über die Qualität der Ausleuchtung zu informieren). Mal davon abgesehen, dass viele Techniker gar nicht mehr wollen als ihren Job gut machen – und entsprechen entspannter sind, wenn das große Ganze gescholten wird. Anders als naturgemäß ein Regisseur oder Produzent.

Dass manchmal die Handwerksgüte die kreativen Mängel erst so richtig ins Licht rücken, ist eine andere Geschichte.


4. … - und um wieder aufs Thema zurück zu kommen: Eine Kritik wie überhaupt ein Argument wird nicht dadurch entkräftet, indem man den angeht, der sie äußert. Recht-Haben ist völlig unabhängig von Buckel- und Zahnfäule-Haben oder den Motiven, die hinter einer Äußerung stehen.

Daher bitte bitte!: Über Inhalte streiten, auch über Meinungen, aber nicht persönlich werden, nur um darüber die eigene andere Ansicht auf den Gegenstand zu untermauern. Selbst und gerade wenn es nur eine Art Empfindungsstreit ist, über künstlerische Wahrnehmung und ums Wohlgefallen (oder eben nicht).

Dann wird das nächste Mal auch vielleicht niemand so enttäuscht wie FILMZ-Kommentator Lorenz, der auf der Festival-Seite DIE ENTBEHRLICHEN noch schlimmer und vernichtender kritisierte als Mühlbeyer:

Bin irritiert,

habe den Film gesehen und fand ihn eigentlich nur ziemlich langweilig. Hab eigentlich nach all den Kommentaren erwartet: entweder so richtig gut, oder so schlecht, dass man sich wie der Mühlenbeyer drüber bepissen kann.

Aber Naja… Gääääähn. Beim Zahnarzt 1 1/2 Stunden warten kommt der Filmerfahrung so ziemlich gleich…. :(




Bernd Zywietz

Hinweis:
DIE ENTBEHRLICHEN läuft heute Abend (Do, 25.11.) noch mal, im Mainzer Cinestar 7.

Indien in Frankfurt

Vom 26. bis 28. November findet im Frankfurter Kino Orfeos Erben (Hamburger Allee 45) das zweite New Generations – Independent Indian Filmfestival statt.

Gezeigt werden Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme, die ausgezeichnete Beispiele für den neuen Realismus im indischen Kino sind. Das Festival startet mit der Deutschlandpremiere von „Cooking with Stella“, einer raffinierten und warmherzigen Gesellschaftssatire um die Köchin Stella, gespielt von Bandit-Queen-Darstellerin Seema Biswas. Es ist der erste Spielfilm von Dilip Metha, Co-Autorin ist die Regisseurin Deepa Metha („Fire“). In dem mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm „Kleine Wölfe“ zeigen Justin Peach und Lisa Engelbach aus nächster Nähe das Leben von acht Straßenkindern in Katmandu. Ihr Alltag in der chaotischen Hauptstadt ist ein routinierter Kampf ums Überleben: immer auf der Suche nach Essen, Drogen, leichtgläubigen Touristen und vor nach Spaß und Abenteuer. Justin Peach stellt den Film persönlich vor.

Weitere Infos gibt es unter: www.indianvibes.de
Das Programm im Detail:

Freitag, 26. November 10
20:00 Eröffnungsfilm: „Cooking with Stella“
22:15 „Kleine Wölfe“in Anwesenheit von Regisseur Justin Peach

Samstag, 27. November 10
18:00 „Peepli Live“
20:00 „Notes from Transient Places“, präsentiert von Ulrike Mothes mit Publikumspreis
22:15 „Bombay Summer“

Sonntag, 28. November 10
15:30 „Kerala Café“
18:00 „Speak to my Televishnu @Streetlight“ – Kurzfilmprogramm Wettbewerb 2
ab 18:00 Indisches Abendessen (Reservierung unter 707 69 100 bis 25. Nov)
Kartenreservierung/Ticket reservation: 069 707 69 100

Veranstaltung: 10 Kurzfilme zur Drogenprävention von S. Linke



FILMZ, FILMZ … es muss ja nicht immer das Festival des deutschen Kinos in Mainz sein.

Am Freitag, dem 26.11.2010 präsentiert der Mainzer Filmkünstler Sebastian Linke (zum Screenshot-Portrait geht’s HIER) im Haus der Jugend (Mitternachtsgasse 8) in Mainz 10 Kurzfilme, die er als Regisseur und Autor für das Drogenpräventionsprojekt „REBOUND – meine Entscheidung“ gedreht hat.

„REBOUND“ ist ein EU-gefördertes Programm der Mentor Stiftung Deutschland für Jugendliche, Lehrer und Schulen: u.a. mit Empowerment-Kursen und Präventionsprojekten für junge Menschen zwischen 14 und 20 Jahren. „REBOUND“ arbeitet intensiv mit Kurzfilmen und anderen erfahrungsorientierten Methoden. In den Filmen spielen Jugendliche Szenen um das Thema Rausch und Risiko, wobei jedoch weiterführenden Themen wie Selbstbewusstsein, Gruppendruck und -zwang oder Selbstfindung behandelt werden.

Die Vorstellung bzw. Prämierenparty von Linkes Filmen „über psychoaktive Substanzen“ beginnt um 20.00 Uhr (Einlass ab 19.00 Uhr), der Eintritt ist frei.

Mehr Infos über „REBOUND“ gibt es HIER.

(zyw)

FILMZ 10: Sehen Sie!



Die Dame, der Herr? Bock auf Film(z)?

Weil, haha, da hätten wir was für Sie!


Heute um 17:30 Uhr Cinestar 7 präsentiert unser liebstes Mainzer Festival des deutschen Kinos Oliver Kleines BIS AUFS BLUT – BRÜDER AUF BEWÄHRUNG. Der hat Wumms und Herz, mit Jacob Matschenz einen der besten deutschen Nachwuchsdarsteller – und ist nicht umsonst mit allerhand Preisen ausgezeichnet worden, darunter den Frist Steps Award 2010. Hat schon auf dem Max Ophüls Preis gefallen, dazu die Besprechung hier im Anschluss. Nicht verpassen!
Wie, Sie können heute nicht? Macht nix, kommt nochmal: am Samstag, 27.11. um 20.00 Uhr im Cinestar 6. Sehen Sie!

Ansonsten, noch eine Empfehlung: MEIN LEBEN IM OFF, morgen, Donnerstag, 25. (Cinestar 7) und Freitag um 20.00 Uhr (Cinestar 6). Die wunderbar leicht schräge, aber nicht verquere Geschichte von Frank, dem schwulen Autorenversager (Thomas Schmauser). Getriezt von seiner Clique samt stets böse beleidigender Ex und vom Lebenspartner mit Kinderwünschen verfolgt, verfolgt Frank eines Tages selbst: Der so zynisch-egomanische wie selbstmitleidige Kindskopp beobachtete eine Fremde in der Straßenbahn und läuft ihr hinterher zu ihrer Arbeit. Wo Frank dann auch gleich anheuert. Kathrin (Katharina Marie Schubert) hat’s ihm nämlich angetan, ein Buch will er über sie schreiben, freundet sich mit ihr an. Zieht auch bei ihr ein. Ach ja, Kathrin ist übrigens ... ne, verrate ich nicht, sonst überrascht sie vielleicht eine der beste Szenen: Stellen Sie sich vor, sie sitzen mit einer nachts über der Stadt - und sie stopft sich Schnittchen ins Gesicht, als gäbs kein Morgen mehr.



Kling jetzt alles vielleicht nicht so doll, ist es aber. Denn Regisseur und Drehbuchautor Oliver Haffner hat mit viel scharfen Dialogen und skurriler Situationskomik, die nicht in Klamauk abdriftet eine – trotz oder gerade wegen Schwul- und Schwanger-Sein – einen überaus einnehmenden Typen- und Menschenfilm geschneidert. Getragen wird MEIN LEBEN IM OFF von dem leicht fischigen Thomas Schmauser (den Namen muss man sich nicht nur merken, sondern auf der Zunge zergehen lassen), der als Frank so autistisch wie grantlig, unausstehlich wie bedauernswert ist. Kein Sympath – sondern was viel Besseres! Auch ganz groß: Katharina Marie Schubert (gerade mit einer Nebenrolle in DIE LETZTEN SCHÖNEN HERBSTTAGE) als verliebenswerte selbstbewusst wie (hormon-) verwirrte Kathrin, an und mit der sich Frank abkämpfen kann und muss, dass es kracht. Beide zusammen ergeben dann ein originelles, überraschendes Paar, dessen Reaktionen und Verhalten oftmals im großen Gestus wie in kleinen Nuancen abweicht von dem, was der Zuschauer von Filmpersonen so erwarten darf (und erwartet).

Und: Einen herzenswarmen End-„Gag“ bietet MEIN LEBEN IM OFF obendrein – ein Film, der (packen wir mal das große Lob aus:) glatt aus Österreich sein könnte!

(zyw)

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Bernd Zywietz schrieb zu BIS AUFS BLUT im Rahmen eines Beitrags zum Max Ophüls Preis 2010:

BIS AUFS BLUT – BRÜDER AUF BEWÄHRUNG, dieser fulminante Film über zwei Freunde und ihre Würzburger Rapper-Gemeinde, kommt zwischen Drogendeals und US-Kasernen, Jugendknast und Disco-Gerangel natürlich auch nicht ohne harte Selbstinszenierung und die eine oder andere Dresche, gar Messerstecherei aus. Im Gefängnis musste Tommy erfahren, wie es ist, Opfer zu sein – der Zellenobermotz kann an ihrem Knacken hören, ob einer gute Zähne hat. Auch die sexistischen Posen sind wenig zimperlich, werden Frauen wie es der Umgangscode vorgibt, übelst zu Geschlechtsobjekten reduziert, ist „Ficken“ und „Fertigmachen“ dasselbe; quasi eine entglittene Version der Gleichsetzungen von Ficken und Schießen – Baader & Co. grüßen ungläubig von Ferne. Was aber mit den Knallköppen versöhnt ist, dass hinter dem Dominanzgebahren und Drohgebärden zwar Jungs stecken, die vielleicht in einer Prügelei mal mehr (Tommys Freund Sule), mal weniger taugen (Tommy), die es aber gerade auch umgekehrt proportional auf dem Kasten haben. So kann Sule seinen „Bruder“ mit Körpereinsatz beschützen, ist aber selbst derjenige, der zuletzt als kaputtgekokstes Loser im Knast nichts mehr zum Festhalten hat als seine Posen. Auch was die Frauen betrifft, ist da nicht halb soviel los, wie die markigen Sprüche gerne (selbst-) suggerieren: Als nach Sules Anmachsprüchen die kesse Gymnasiasten-Göre ihn tatsächlich auffordert, ihre Brüste anzufassen, langt er schnell und zögernd hin, und es fehlt nicht viel, dass er verschämt kichernd davonrennt.

Bei Tommy selbst wiederum ist Gewalt hilfloses Ventil; seine Ex-Freundin Sina stößt er weg, weil sie ihn nicht mehr will, er nichts anderes (mehr) darob zu tun weiß, und seiner Mutter verpasst er gar ein Veilchen. Dass er darüber einem als Figur nicht verloren geht, liegt an der Regie und an Darsteller Matschenz selbst, dem man voller Empathie schließlich zusieht, wie die Maske abfällt, der vorgeschobene Kiefer, die krause Stirn und er alle Beherrschung und Harschheit in der Verzweiflung sozusagen abfallen, er zusammenklappt ohne diese Maskulinitätskrücken, ein Häufchen Elend ist.

Zuletzt – Achtung, Spoiler! – ist er wieder im Jugendknast; als er in die neue Zelle kommt, sind die Augen wieder eng, der Panzer wieder angezogen. Zwei Jungs stehen vom Tisch auf – und mit einem Blick auf den Muskelprotz am Tisch haut Tommy sie zusammen. Nur um daraufhin ein Kopfschütteln vom vermeintlichen Bully einzufangen, der weiter in seinem Heftchen liest. Sich schämend ob der sinnfreien Gewaltprophylaxe verkrümelt sich Tommy aufs neue Bett, um für seine Karriere als Physiklehrer zu büffeln... Nicht nett im Miteinander, aber ein gelungener Gag, der in seiner Humorigkeit wunderbar entlarvt: selten so knapp – und, ja, doch – sympathisch wurden Testosteron-Scheuklappen wohl selten vorgeführt.

FILMZ 10: Nicht nur nachts um 3...



... ist die Welt noch in Ordnung

Die schlimmste Zensur, heißt es, sei die Selbstzensur. Darum gleich rausgehauen: der Auftakt des diesjährigen FILMZ.

Heute (oder gestern?) hat FILMZ zum zehnten Mal eröffnet. Und: Gelungen war es. Nicht, weil sonderlich Neues geboten wurde, großer Bombast oder dergleichen. Sondern weil FILMZ mit etwas aufwartete, was noch viel wertvoller und genialer ist: Gelassenheit.

Das heißt aber auch: Der Glamour wurde souverän anderen übergeben. Die stellvertretende Videobotschaft kam diesmal nicht vom Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel, sondern von Landesvater Kurt Beck, der persönlich das Wort an die FILMZ-Gäste richtete. Derweil Beutel zusammen mit seiner Bildungs-, Kultur- und wasweißich-Ministerin Doris Ahnen live auftrat und beide von der Bühne fast gar nicht mehr verschwinden wollten.

Er – nach eigener Auskunft – von Conny Froboess und Peter Kraus, sie von Doris Dörrie und Margarethe von Trotta geprägt: Zusammen ließen diese Honoren keinen Zweifel daran, dass wenn es logisch so weiter geht, FILMZ nächstes Jahr von Kurt Beck live gewürdigt und der Einspieler dann direkt von Angela Merkel stammen wird…

Kein Frage, FILMZ ist oben angekommen, zumindest in Rheinland-Pfalz und jetzt auch nahezu offiziell. Mehr aber noch: berechtigt!


Die beiden Eröffnungsfilme zeigten sich entsprechend wenig machohaft, sondern souverän wie der gesamte Auftakt des Festivals des deutschen Films.

Einfach und stimmungsvoll: DRIVING ÉLODIE. Lars Hennings Kurzfilm erzählt von einem jungen Set-Runner, der in der Nacht die Hauptdarstellerin zum Flughafen fahren soll. Ein kleiner Beobachtungsfilm, stimmungsvoll, unspektakulär, nicht magisch – viel besser: zauberhaft ist seiner kleinen Allwirklichkeit.

Den Hauptfilm, DAS LIED IN MIR von Florian Micoud Cossen, leitete Hauptdarstellerin Jessica Schwarz mit einem Videogruß ans FILMZ-Publikum ein: Schrecklich leid tat es ihr, dass sie nicht da sein kann. Was ernst zu nehmen ist, weil Jessica Schwarz eine innige Beziehung mit FILMZ verbindet.

Aber mehr noch war ihr Film ein Genuss:

Die Schwimmerin Maria muss durch einen fast griechisch-tragischen Zufall (ein spanisches Kinderlied aus ihrer Kindheit, von der sie bislang nichts wusste; ein halb ungewollter Zwischenaufenthalt) herausbekommen, dass sie eigentlich keine Deutsche ist, sondern eigentlich Argentinierin - d.h. mit einer geheimen Zusatzvergangenheit ausgestattet, die sie, wie den Zuschauer, auf eine Tour in eine andere Alltäglichkeit und ihr Leben führt.

Ja nun, das klingt wirr, kryptisch – ist der Film aber gar nicht, sondern hier nur besonnene Überlegung, was man bei diesem spannenden, wunderbar erzählten Film vorab verraten sollte und was nicht.

DAS LIED IN MIR bietet nämlich nicht nur einen formidablen Schnitt (oder eine großartige Montage), sondern auch eine famose Dramaturgie, die angesichts des Stoffes so unglaublich leicht hätte in die Hose gehen können. Zwischen Zeitpolit- und Seelendrama weiß Cossen die Balance und den Zuschauer intensiv bei Laune zu halten. Selbst Standardsituationen und die unvermeidlichen Großen Momente sind hier originell in Szene gesetzt (Marias Papa erzählt ihr von ihrer Vergangenheit nicht irgendwo, sondern genau irgendwo, auf der Hoteltreppe hinterm Aufzug) – so dass alle Klippen, die da dräuen, elegant umschifft werden. Die nötige Distanz hat Cossen denn stets zur Hand, lässt Marias wahre Familie allein über die Sprach so fremd erscheinen, dass man ganz eingenommen ist von diesem Moment-Realismus… Kurz: ein einfacher wie kluger, packender wie unaufgeregt-konsequenter Film. Einer, der keine seiner Figuren „vergisst“ und perfekt besetzt ist mit Jessica Schwarz und Michael Gwisdek (der oftmals viel zu wenig oder viel zu standardisiert zeigen darf, was er kann, und daher – gerade weil er nicht mit seinem Rollentypus komplett bricht – hier in allen Nuancen überzeugt).


Sekt gab es nach dem Film, auch Kuchen, und dann ging es weiter ins LOMO. Und siehe da: Auch hier war irgendwie alles entspannter, weniger „hysterisch“ voll und trotzdem gut besucht. Allein schon, dass die beiden Macher der Eröffnungsfilme es bis nach zwölf dort ausgehalten haben und dabei aussahen, als sei es nicht nur Pflicht, war ein Punkt für das FILMZ-Festival, das sich mit einer relaxten Schmissigkeit zu seinem Jubiläumsauftakt sympathisch präsentierte.




(zyw)


Neue Filmreihe im Wiesbadener Murnau-Filmtheater: „Filmklassiker entdecken!“, konzipiert von unserem Harald Mühlbeyer

Ab Dezember an jedem ersten Freitag im Monat:

„Filmklassiker entdecken! Aus den Beständen der Murnau-Stiftung“ zeigt acht hervorragende deutsche Filmproduktionen aus den Jahren zwischen 1933 und 1945.
Was? Aus der Nazizeit!?!?

Das hat auch einmal die Reporter eines bekannten deutschen Nachrichtenmagazins umgehauen: „Sie wollen behaupten, Nazi-Deutschland habe unter Propagandaminister Goebbels gute Filme hervorgebracht?“ Ungläubiges Entsetzen spiegelt sich in dieser Frage der beiden Redakteure, als ihnen Quentin Tarantino im Interview über „Inglourious Basterds“ Unterricht in deutscher Filmgeschichte erteilt: „O ja, einige dieser Filme waren ziemlich gut! „Glückskinder“ zum Beispiel ist einer meiner Lieblingsfilme. Ein sehr, sehr lustiger Film.“

„Glückskinder“ ist denn auch der erste Film der monatlichen Reihe, Paul Martins Komödie aus dem Jahr 1936 mit Willy Fritsch und Lilian Harvey, die ungewollt miteinander verheiratet wurden: Am Freitag, 3. Dezember, um 18 Uhr im Wiesbadener Murnau-Kino. „Glückskinder“ ist vollendete Komödienkunst, und ein Vergleich mit den Klassikern der amerikanischen Screwballkomödie ist nicht zu kurz gegriffen. Und kaum einer kennt diesen Film; nur der Schlager "Ich wollt ich wär ein Huhn" ist einigermaßen Allgemeingut... Dabei ist "Glückskinder" nicht nur ungemein komisch, sondern auch überraschend raffiniert erzählt; wie vergessen der Film inzwischen leiderleider ist, zeigt sich auch daran, dass Google kaum Filmstills findet...
Damit nicht nur Sie, sondern auch Herr Tarantino seine Freude an diesem Abend hat, läuft im Anschluss, um 20 Uhr, „Inglourious Basterds“, in dem Tarantino (unter vielem anderen) auch ein Porträt von J. Goebbels als Filmgroßproduzent entwirft, der in einem Pariser Kino „Glückskinder“ sichtet.

Während die besten amerikanischen Filme der 30er und 40er heute allgemein als Klassiker anerkannt sind, sind die besten deutschen Produktionen einem breiten Publikum nicht einmal bekannt.
Es gibt tatsächlich in Deutschland eine Lücke im Wissen um die deutsche Filmgeschichte: Die Jahre zwischen 1933 und 1945. Das Filmschaffen während der Zeit des Dritten Reiches wird in der Filmgeschichtsschreibung oftmals nur im Hinblick auf ideologische Botschaften und politische Wirkungen hin betrachtet – völlig zurecht, sicherlich. Denn viele Filme – auch heute bekannte und beliebte Klassiker wie die „Feuerzangenbowle“ – sind untergründig in der NS-Ideologie verwurzelt. „Die Filme der NS-Zeit müssen im Kontext der staatlich beeinflussten Produktion und Rezeption gesehen werden“, mahnt filmportal.de; doch neben eine solche nicht unberechtigte pauschale Warnung sollte auch die Betrachtung der Filme selbst treten können. Filme überstehen die Zeitläufte; und viele Filme aus der NS-Zeit haben jenseits ihrer damaligen „politischen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen“ (filmportal.de) auch heute noch etwas zu sagen: das ist es, was Kunst ausmacht.
Neben eine politisch-historische Betrachtung kann auch eine qualitativ-ästhetische Betrachtung treten, wobei der eine Aspekt den anderen nicht ausschließen sollte. Das Problem dabei ist: Viele der „guten“ Filme aus der NS-Zeit sind heute vergessen und allenfalls dem Namen nach bekannt. Die Gründe dafür liegen zu einem Großteil an der Verfügbarkeit und am Material, nur die wenigsten Filme der neuen Reihe der Murnau-Stiftung liegen heute auf DVD vor.

Und doch lohnen sie sich, und die Reihe soll den Blick schärfen und Filmgeschichte nicht nur betrachten, sondern erlebbar machen. Es lohnt sich der Blick auf Filme, die einerseits den Geist von damals atmen, die aber andererseits auch teils mit erfrischender Subversivität, teils mit fast postmoderner Albernheit, teils mit anspruchsvoll-komplexer Inszenierungskunst bestechen.

Acht Filme wurden für diese Reihe ausgewählt:

- Glückskinder (1936) – Willy Fritsch und Lilian Harvey werden kurzerhand miteinander getraut: verheiratet, ohne es zu wollen. Zudem wird er entlassen und ist pleite. Helfen könnte da, eine verschwundene Millionärsnichte wieder zu finden; und vielleicht hat er sie mit Harvey ja schon gefunden? Sehr witzig, perfektes Timing der Gags, großes Komödienkino. Quentin Tarantinos Lieblingsfilm
- Sieben Ohrfeigen (1937) – Vom selben Team wie Glückskinder: Ein Film, der in der derzeitigen Wirtschaftskrise hochaktuell ist. Willy Fritsch verabreicht einem millionenschweren Spekulanten sieben Tage lang täglich eine Ohrfeige, damit er auch kleine Zahlen zu schätzen lernt. Man stelle sich vor, jemand verabreiche J. Ackermann 25 Ohrfeigen, damit er sieht, wie viel Rendite ihm da eigentlich vorschwebt…
- Opfergang (1944) – Faszinierendes, symbolisch überhöhtes Melodram von Veit Harlan, das den Zuschauer die ganze Wucht seiner Todesmystik spüren lässt.
- Sergeant Berry (1938) – Hans Albers in seiner Paraderolle als Draufgänger; diesmal ermittelt er gegen Drogenschmuggler an der US-mexikanischen Grenze. Kriminal-, Abenteuer- und Westernelemente in einem spannenden Film, der neben einem enormen Kaktus auch einen nackten Albers bietet.
- Capriccio (1938) – Lilian Harvey, als Mann erzogen, damit Mitgiftjäger keine Chance haben, wird versehentlich mit einem fetten Marquis verheiratet. Gibt sich, um zu entkommen, als jungen (männlichen) Grafen aus und trifft auf Viktor Staal und Paul Kemp. Eine Historien-Operettenkomödie, die in jeder Szene so dermaßen überdreht ist, dass sie sich am Ende in albernsten Nonsens auflöst.
- Peter Voss, der Millionendieb (1945) – Ein weiterer Film zur Wirtschaftskrise: Um Millionenverluste zu decken, wird Diebstahl vorgetäuscht, was eine Jagd um die ganze Welt nach sich zieht. Viktor de Kowa in einer Glanzrolle, ebenso Karl Schönböck. Satirisch und teilweise albern.
- Wir machen Musik (1942) – Helmut Käutner, Ilse Werner, Viktor de Kowa und jazzige Musik. Klassik versus Schlager, und dabei immer – im wahrsten Sinne des Wortes – pfiffig.
- Romanze in Moll (1943) – Ehedrama von Helmut Käutner, das mit herausragenden Darstellern eine tragische Dreiecksgeschichte um Marianne Hoppe, Paul Dahlke und Ferdinand Marian schildert. Einer der großen Filme von Käutner.


Dass sich in dieser Reihe gleich zwei Filme mit Fritsch-Harvey unter der Regie von Paul Martin und gleich zwei Filme von Helmut Käutner finden, ist einerseits der Material- und Rechtelage geschuldet, durch die einige Kandidaten wegen allzu großen Aufwandes ausgeschlossen werden mussten; es ist aber auch ein Hinweis darauf, dass qualitativ hochwertiges Kino, das die Zeiten überdauert und auch heute noch den filminteressierten Zuschauer zu erreichen vermag, eben in der Tag oftmals an einzelnen Personen hängt. Es sind eben meist einzelne Talente und nicht die Politik oder die damalige Studiosituation bei Ufa oder Tobis, die Meisterwerke hervorbrachten.

Genau diese Filme möchte die Filmreihe aufspüren und sie der Öffentlichkeit zugänglich machen: Filme, die damals wie heute für das Publikum „funktionieren“ können; Filme, die es verdient haben, dem Vergessen entrissen werden.

Harald Mühlbeyer

FILMZ 10: Los geht's...



Etwas farblos wird es in nächster Zeit hier auf Screenshot-Online zugehen. Denn die FILMZ-Logos, das Auge und die Wortbildmarke des Mainzer Festivals des deutschen Kinos sind nur schwarzweiß. (Zumindest die auf dem Presseserver). Und weil wir natürlich den einen oder anderen Beitrag von diesem Kulturevent Ihnen kredenzen wollen, in eisigen Nächten mit müden Fingern legasthenisch in die Tasten gehauen und ohne Energie, hübsche Bilder runterzuladen und einzubauen, werden unsere köstlichen Textkästchen vielleicht ein wenig farblos daherkommen.

Sei's drum - denn da mag der Winter noch so mit Schnee drohen und islamistische Terroranschläge in Haus stehen: Wenn FILMZ ist, ist die Welt einfach in Ordnung. Vor allem, wenn in Jahr 2010 das Festival zum 10. Mal Filmkunst (und -spaß) nebst "Begleitmusik" an den Rhein bringt. Zum 10. Mal im Jahr 2010! Irre, was?

Der Auftakt-Spaß am Dienstag (und gottlob hat's wieder einen Tag, das FILMZ!) beginnt mit Kulinarischem: den FILMZ Delicatessen im Mainzer PROVIANT MAGAZIN!

Da es für Sie aber gustatorische Gelage sowieso zu spät ist, kommen wir gleich zum Wesentlichen: Der Eröffnung heute um 20.00 Uhr im Residenz & Prinzess Filmtheater.

Zum Start läuft DAS LIED IN MIR. Unser Redakteur Harald Mühlbeyer hat den hier schon kommentiert, zusammen mit anderen, dabei auch den "schlimmen [Auswahl-] Fauxpas" Andreas Arnstedts DIE ENTBEHRLICHEN. Aber lassen Sie sich nicht in Bockshorn jagen. Klar, der Film ist vielleicht eine Gurke, vielleicht nicht (ich maße mir kein Urteil an, ich wollte und habe ihn auf dem Max Ophüls Preis nicht fertig geschaut...), aber den eine oder anderen Mumpitz wählen sie vom FILMZ ja allein schon deshalb jedes Jahr aus, um zu polarisieren, zum Aufregen, Nachdenken, sich Streiten, und Recht hat das FILMZ-Auswahl-Komitee damit! Denn: wie öde wäre es, wenn es alles immer irgendwie gleich GUT und TOLL und SEHENSWERT wäre!!

Blöd halt, wenn Sie dann gerade den Film erwischen. Aber den fragwürdigen Titel "Arschfilm des Festivals" will man schließlich nicht vorab vergeben und ins Programmheft drucken, wäre gemein zu den Filmemachern und abgestimmt über die Preise wird bei FILMZ seit jeher durchs Publikum und prämiert zum Schluss.

Was es sonst noch gibt, heute Abend:

Ab 22.30 Uhr wird eng und kuschelig im grottigen (na ja, zumindest gewölbigen) Keller des LOMO wieder gefeiert. Mit dem DJ-Team Audio Aktivisten (a.k.a. DJ Chappi, DJ Goodvibes, Dominik Heizmann) - sei hier für die erwähnt, die wegen der MUSIK hingehen...


P.S.: Leider hat es Screenshot auch dieses Jahr nicht hinbekommen, einen eigenen Preis einzuführen, seinen "Goldenen So-Lala" für den Mittelmäßigsten Film. Wir arbeiten aber dran!

P.P.S.: Hihihi, für doch ein bisschen FILMZ-Logofarbe im grauen November haben wir Ihnen hier was von der FILMZ-Website stibitzt!




Bitteschön!

(zyw)

Exground 23: Babak Jalalis „Frontier Blues” (2009) – Everybody’s fine!?

„Willkommen in dem Land, in dem es alles gibt: das Kaspische Meer und daneben die Steppen, sowohl Berge als auch Wälder“, so die Worte des Balladensängers, der zusammen mit seiner merkwürdigen Anhängerschaft aus vier Knaben für einen Fotografen posiert, der einen ‚echten‘ Turkmenen in seinem ‚realen Umfeld‘ porträtieren will, diesen aber dabei zu denkbar abstrusen Posen in altmodischer Kostümierung zwingt. Als der Sänger dann seine Geschichte zu Ende erzählt hat – die Geschichte von seiner Frau Maral, die im gestohlenen grünen Mercedes Benz des Schafhirten Heydar aus seinem Leben verschwunden ist, um mit diesem anderswo neu zu beginnen, jedoch angeblich irgendwo in den Steppen verschollen ist – wandelt er seine Worte etwas ab: „Willkommen im Land der gebrochenen Herzen und Traktoren. Willkommen an der nordiranischen Grenze!“

Diesem vergessenen Landstrich an der turkmenischen Grenze und seinen Bewohnern, einem Gemisch aus Persern, Turkmenen und Kasachen, widmet sich Regisseur Babak Jalali (der 1978 in dieser Gegend, in der Stadt Gorgan, das Licht der Welt erblickte, aber bereits seit langer Zeit in London lebt, dort auch das Filmemachen lernte) in seinem Spielfilmdebüt „Frontier Blues“ (2009). Dafür kehrte er in seine ursprüngliche Heimat zurück, um dieser seiner Ansicht nach vom iranischen Gegenwartskino viel zu wenig beachteten Region, ihrer „einzigartigen Atmosphäre“ (Jalali) Gerechtigkeit widerfahren, mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Und natürlich auch den Menschen dort, denen von allen Seiten immer wieder Versprechungen gemacht wurden, Versprechungen von Aufschwung und ökonomischem Aufblühen, die aber nie eingelöst wurden. Folgerecht basiert die episodenhafte Handlung, oder genauer: der episodisch erzählte Film auf Ereignissen und Geschichten, die Jalali widerfahren und zugetragen wurden: „It was written based on what I saw, what I heard and what I did. It’s about the Northern Iranian Frontier. It’s the story of longing, waiting, remembering, desperate men and absent women. It’s about not quite getting there. Wherever that may be…“ (Jalali)

Neben dem eingangs erwähnten turkmenischen Musiker und seinem Gefolge stehen noch drei weitere Figuren im Zentrum des Films, respektive der einzelnen, sich teilweise überlappenden Erzählstränge. Bereits ganz zu Beginn begegnen wir dem 28jährigen Hassan und seinem Onkel Kazem. Hassan, nicht gerade der Schlauste auf Gottes Erdboden, der sich ausschließlich von getrockneten Aprikosen zu ernähren scheint und dessen einzige Gefährten ein ausgewachsener Esel und sein alter Kassettenrecorder sind. Und der uns (dabei frontal in die Kamera blickend) davon erzählt, wie ihn seine Mutter gleich nach seiner Geburt in Richtung Paris verlassen hat, nachdem der Vater bereits kurz zuvor das Weite gesucht hatte. Seitdem lebt er bei seinem Onkel Kazem, der sich alles andere als begeistert zeigte über den unverhofften ‚Zuwachs‘ und sich besorgt fragt, was aus dem Jungen nur werden soll. Dabei hat er doch bereits genügend Sorgen mit seinem Modegeschäft, in dem er nur ein Handvoll Kleidungsstücke feilbietet, die seinen potentiellen Kunden aber stets zu klein oder zu groß sind. Die vierte Figur ist der 28jährige Turkmene Alam, der in einer Hühnerfarm arbeitet und bei seinem Vater lebt, mit dem er ab und zu Fischen geht. Zudem ist er verliebt in eine Frau, mit der er nie ein Wort gewechselt, die er immer nur aus der Distanz beobachtet hat. Für sie lernt er auch mit einem Walkman Englisch, um mit ihr nach Baku zu verschwinden, wo es angeblich weitaus bessere Arbeitschancen gibt.

Jalali erzählt seine teils skurrile, teils absurde Geschichte voller Mitgefühl für seine Figuren, stellt diese niemals bloß oder aus, um sich und uns auf deren Kosten zu amüsieren. Dabei scheint er eher von europäischen als von anderen iranischen Regisseuren geprägt, in seiner lakonischen Grundhaltung weckt der Film Erinnerungen an die Filme eines Kaurismäki, Jarmusch (dem ‚europäischsten‘ unter den US-Independent-Filmemachern) oder des Schweden Roy Andersson (allerdings ohne dessen bitter-abgründige Schärfe), wie im Programmheft angekündigt – normalerweise stimmen ja derartige Vergleiche und Vokabeln wie „skurril“ erst mal einmal skeptisch.

Auch wirkt der Film auf den ersten Blick (für uns, die wir ja gewohnt sind, Filme aus dem Iran fast ausschließlich und zwangsläufig als dezidiert politisch und staatskritisch wahrzunehmen, wahrnehmen zu wollen) erstaunlich ‚unpolitisch‘, übt eher indirekt Kritik an unzeitgemäß, ja (aus westlicher Perspektive) rückständig erscheinenden Traditionen, etwa an der Entscheidungsmacht der Eltern hinsichtlich der Vermählung der eigenen Kinder. Oder an der desolaten wirtschaftlichen Situation, die jungen Menschen kaum Perspektiven eröffnet – ohne allerdings konkret Schuldige zu nennen. Diese ‚Rückständigkeit‘ gibt dem Film auch sein spezifisches Gepräge, wirkt er doch wie eine Zeitreise in die späten Achtziger oder frühen Neunziger Jahre. Egal ob die Fahrzeuge, Hassans Kassettenrekorder, mit dessen Hilfe er die karge Landschaft lautstark mit französischen Chansons beschallt, oder Alams Walkman, mit dem dieser seine Englischlektionen („How are you?“ - „I am fine!“ - „Everybody’s fine!“) abspielt – wenig deutet darauf hin, dass wir uns in unserer digital(isiert)en Gegenwart befinden.

Jalali, dessen Kurzfilm „Heydar, yek Afghani dar Tehran“ von 2005 (auf den er mit der Geschichte des ‚Frauendiebs‘ Heydar anspielt) bereits auf unzähligen Festivals vertreten und für einen BAFTA nominiert war, arbeitet momentan in London an seinem zweiten Langfilm, weshalb er leider nicht wie angekündigt bei der Vorführung anwesend sein konnte. Man darf jedoch gespannt sein, in welche Richtung sich sein Werk weiterentwickeln wird.


Christian Moises


FRONTIER BLUES
R: Babak Jalali
Iran/Großbritannien/Italien 2009
95 Min.
OmeU

exground 23: Hirokazu Kore-edas „Air Doll“ (2009) – Von Aufblaspuppen und anderen Menschen

Ein Mann auf dem Heimweg von der Arbeit. Es ist später Abend. Erschöpft sitzt er in der Bahn. Nach einem kurzen Abstecher in einen Supermarkt läuft er im einsetzenden Regen nach Hause, schließt die Tür zu seiner Wohnung auf, ruft hinein, dass er wieder zuhause sei. Am Esstisch erzählt er seiner Lebensgefährtin die Ereignisse des Tages, bevor beider Tag mit Vollzug des Geschlechtsaktes ausklingt. Am nächsten Morgen zieht er sich an, frühstückt, verabschiedet sich und macht sich wieder auf den Weg zur Arbeit. Ganz normaler Alltag also, ob nun in Tokio oder sonst wo auf der Welt. Wäre da nicht eine ‚klitzekleine‘ Irritation: die Stumm- und Unbewegtheit der Frau, ihre merkwürdig starren Augen und Glieder. Denn: die Dame ist eine Puppe, ein Sexspielzeug – das allerdings eines Morgens plötzlich zum Leben erwacht.

Der Traum, ein künstliches Geschöpf nach seinem Bilde zu formen, diesem womöglich gar Leben einzuhauchen, begleitet den Menschen seit jeher, findet sich in unzähligen Erzählungen, Mythen und Legenden (mindestens) von der Antike bis heute. War in der griechischen Mythologie das tatsächliche Vermögen hierzu zunächst den Göttern und Halbgöttern (Prometheus , der Menschen aus Lehm formt und diesen Leben einhaucht, die goldenen Dienerinnen des Hephaistos, die Homer in der „Ilias“ beschreibt) vorbehalten, gilt Daidalos als der erste Sterbliche, dem es gelang, anthropomorphe Automaten herzustellen. Die vielgestaltigen Erzählungen von der Erschaffung künstlicher Wesen lassen sich, gemäß Helmut Swoboda, in drei Linien unterteilen: in der Linie der magisch-mythischen Erschaffung findet sich z.B. die jüdische Legende des Golem, der durch kabbalistische Rituale zum Leben erweckt wird. Die biologische Linie reicht vom alchemistisch erzeugten Homunculus (in Paracelsus‘ „De natura rerum“ von 1538 findet sich eine genaue Anleitung) bis zu den gentechnischen Retortenwesen unserer Tage, die technische vom mechanisch betriebenen Automaten bis zur computergestützten Künstlichen Intelligenz. Mit einer solch prominenten Ausnahme wie Mary Shelleys „Frankenstein“ bleiben diese Geschichten jedoch meist der Außenperspektive verhaftet, erzählen von Faszination und Schrecken der ‚echten‘ Menschen im Angesicht der künstlichen Kreatur; erzählen von der Vermessenheit der Schöpfer, den Göttern nacheifern zu wollen; erzählen viel vom ‚Wie‘ der Schaffung der künstlichen Geschöpfe (wenn deren Existenz sich nicht gerade magischen oder göttlichen Kräften verdankt) – und weniger davon, wie diesen möglicherweise zumute sein mag.

In Kore-edas „Air Doll“ (bzw. in Yoshiie Godas Manga-Vorlage "The Pneumatic Figure of a Girl"): nichts davon. Es ‚passiert‘ einfach. Eines Morgens erwacht Nozomi (ab diesem Zeitpunkt in Gestalt der koreanischen Schauspielerin Duna Bae) zum Leben, zeigt sich fasziniert von der Schönheit der Regentropfen vor ihrem Fenster – und verlässt im Dienstmädchenkostüm die Wohnung, um die Welt um sie herum zu erkunden. Mit etwas Wohlwollen ließe sich noch eine Verbindung zum Mythos des Pygmalion herstellen, dessen geliebte, von ihm selbst erschaffene Statue nach einer liebkosenden Umarmung zum Leben erwacht (bzw. von Aphrodite erweckt wird). Doch die Liebe zwischen Kellner Hideo (Itsuji Itao) und Nozomi ist offenbar ganz anderer, vorwiegend körperlicher Natur. Zudem schien Hideo ganz glücklich mit seiner leb- und willenlosen Gefährtin zu sein, der er zwar den Namen seiner einstigen Geliebten gegeben hat, die ihm allerdings niemals widerspricht, ihm jederzeit ‚zu Diensten‘ ist.

Kore-eda erzählt seine Geschichte konsequent aus der Perspektive seiner ‚Plastikprotagonistin‘, die plötzlich – wie sie selbst es formuliert – eines Morgens in sich ein Herz (vor)findet, dort, wo eigentlich keines sein sollte: im Innern einer Liebespuppe, Modell „Candy“, 5980 Yen. Mit kindlich-naivem Blick schickt er sie hinaus in die Welt, ohne sich weiter mit den Fragen nach dem ‚Warum‘ und dem ‚Wie‘ ihres Erwachens zu beschäftigen. Alle die, die möglicherweise befürchtet hatten, dass Kore-eda sich untreu geworden wäre, in den Bereich des Fantastischen oder gar der Science-Fiction gewechselt wäre, können somit beruhigt aufatmen. Denn so wie die Erzählungen und Legenden von den künstlichen Geschöpfen immer auch, ja vor allem vom Menschen selbst erzählen, von seinen Träumen und Ängsten, von der besonderen Beschaffenheit der ‚Conditia humana‘, oder kurz: davon, was es bedeutet, eine Mensch zu sein: So nutzt auch Kore-eda die illustre Figur der Nozomi vorwiegend als erzählerisches Mittel, um erneut mit bewundernswertem Feingefühl von Liebe, Einsamkeit, Vergänglichkeit und Tod zu erzählen – Themen, die ihn seit seinen Anfängen als Dokumentarfilmer beschäftigen. (Andererseits fanden sich ja bereits in „Afterlife“ (1998) durchaus fantastische Elemente. Kore-eda siedelte die Geschichte in einem merkwürdig diesseitig, bürokratisch anmutenden Zwischenreich an, zwischen dieser und der jenseitigen Welt, wo diejenigen, die ein gutes Leben geführt hatten, mittels der Magie des Films ihr ‚Nachleben‘, ihre Ewigkeit auf der Grundlage ihrer schönsten Erinnerungen ausgestalten durften.)

Nozomi wird zunehmend sicherer in ihren Bewegungen, fügt sich mehr und mehr (doch nie ganz) in die Welt der Menschen ein, findet gar einen Job (im „Cinema Circus“, einer benachbarten Videothek) und dazu noch die Liebe (in Gestalt des dort angestellten Junichi) – und muss feststellen, dass ein Herz zu haben auch bedeutet, dass dieses jederzeit gebrochen werden kann. Zudem findet sie sich offenbar zunehmend mit der ihr zugedachten Aufgabe/Rolle ab, nur Ersatz, Substitut für andere(s) zu sein. Dadurch, dass Kore-eda ins Zentrum seiner im Grunde märchenhaften Geschichte (im Film finden sich u.a. direkte Verweise auf „Arielle“, die ‚disneyfizierte‘ Version von Andersens „Kleiner Meerjungfrau“) eine ‚Lovedoll‘ stellt, macht den Film ob seiner Ungeschminktheit doch eher zu einem Märchen für Erwachsene – allerdings der tieftraurigen Sorte. Wie Andersens Meerjungfrau wünscht sich Nozomi nichts sehnlicher als ein Mensch wie alle anderen zu sein, etwa wie diese altern zu können (mit einem Lächeln wirft sie darob z.B. ihren Blasebalg weg). Immer wieder fragt sie sich und andere, ob sie die einzige ihrer Art ist, macht sich, um dieser Frage auf den Grund zu gehen, sogar auf den Weg zu ihrem Schöpfer, einem jungen Sexpuppenkonstrukteur (eine Szene, die stark an diejenige aus Spielbergs „A.I.“ erinnert). Doch auch dieser zeigt sich ratlos, möchte allerdings eines von ihr wissen: ob sie in ihrem kurzen Leben bislang wenigstens nicht nur Trauriges, sondern auch Schönes gesehen, erlebt habe.

Kore-eda ist sicherlich jemand, der an die Schönheit(en) der Welt glaubt, an die Schönheit in und hinter den Dingen; daran, dass das Leben voller Wunder und Magie ist – oder zumindest (oft entgegen allem Anschein) sein kann. Kein Fatalist, aber auch kein hoffnungsloser Romantiker, der blauäugig die Allmacht der Liebe propagiert oder uns ein „Bis ans Ende aller Tage“ vorgaukelt. Vielmehr: einer der großen Humanisten des Gegenwartskinos, der neugierig, präzise und voller Empathie auf die Menschen blickt , rührend aber nie rührselig von ihnen erzählt, ohne dabei zu beschönigen oder zu idealisieren. Folglich beschenkt Kore-eda (dessen meisterhafter „Still Walking“ von 2008 gerade bei uns im Kino angelaufen ist) uns in „Air Doll“ einerseits zwar mit einer der zweifellos originellsten und amüsantesten, andererseits aber auch makabersten und bittersten Liebesszenen der jüngeren Filmgeschichte.

Fernab von Klischees, mit leisem Humor anstatt schlüpfrigem Klamauk (aber auch ohne Ironie, die immer auch Distanzierung vom Gegenstand der Erzählung bedeutet) führt er die Geschichte konsequent an ihr Ende, läuft aber zuvor ab und an Gefahr, die Grundidee der gerade mal 20-seitigen Vorlage zu lange und zuweilen etwas arg oberflächlich oder gar pathetisch auszubreiten, wodurch auch die Dramaturgie mitunter etwas fahrig wirkt, manche Nebenfigur etwas zu sehr auf einen reinen ‚Bedeutungsträger‘ reduziert scheint. Am Ende holt er die Geschichte allerdings wieder geschickt (und durchaus blutig) auf den harten Boden der Realität zurück, lässt es sich aber dennoch nicht nehmen, den Film mit einem Ausruf des Entzückens einer jungen Frau ausklingen zu lassen (der sich durchaus, trotz mancher inhaltlicher wie qualitativer Irritation, auch auf den vom Taiwanesen Pin Bing Lee wunderbar fotografierten Film anwenden ließe), die zum ersten Mal nach langer Zeit wieder – wie zu Beginn Nozomi selbst – den Blick nach draußen in die Welt richtet: „Beautiful!“


Christian Moises


KUKI NINGYO [AIR DOLL]
R: Hirokazu Kore-eda
D: Duna Bae, Itsuji Itao, Arata, u.a.
Japan 2009
116 Min.
OmeU

FILMZ 2010 - Ab dem 23. November in Mainz

Jetzt sind es schon zehn Jahre, seit ein paar Filmwissenschaftsstudenten das unerhörte Unterfangen wagten, ein Filmfestival zu gründen. Ein Festival des deutschen Films, in Mainz, als erstes Langfilmfestival in Rheinland-Pfalz überhaubt: Nun ist es zu einem Großereignis geworden, vor ein paar Jahren schon war der Punkt erreicht, dass soviele Filme gezeigt, so viele Programmpunkte angeboten wurden, dass es unmöglich war, alle Veranstaltungen zu besuchen. In Ludwigshafen wurde das Festivalkonzept mit einer Menge Geld aus der Großindustrie kopiert, das Wiesbadener exground-Festival hat nun auch eigene Reihen zum deutschen und lokalen Filmschaffen; und FILMZ kann jedes Jahr mehr Besucher vorweisen.

FILMZ, das Festival des deutschen Kinos, bietet in diesem Jubiläumsjahr zehn Filmreihen plus ein umfangreiches Rahmenprogramm, geschätzte 1.000 Filme werden von ca. 100.000 Zusatzveranstaltungen ergänzt: Mainz steht vom 23. bis 28. November ganz und gar im Zeichen des Films, im Zeichen von FILMZ. Im Focus natürlich, wie eh und je: der Langfilmwettbewerb, in dem auch in diesem Jahr einige Highlights zu sehen sein werden.

Das fängt mit dem Eröffnungsfilm an, "Das Lied in mir" von Florian Cossen, der erst vor wenigen Wochen in Hof seine Deutschlandpremiere gefeiert hat. Maria ist in Buenos Aires gelandet, und ein Kinderlied klingt ihr seltsam vertraut in den Ohren... Das ist der Auftakt zu einer Entdeckungsreise zu den eigenen Wurzeln, denn Maria erfährt, dass sie gar keine Deutsche ist, nur adoptiert; dass ihre wirklichen Eltern während der argentinischen Militärdiktatur gefoltert und ermordet wurden. Cossen zeigt eine Identität, der der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, Maria findet sich im Niemandsland des eigenen Lebens, und in der Zwickmühle zwischen ihrem wahren Leben, das sie als Dreijährige verloren hat, und zwischen dem falschen Leben in der deutschen Unternehmerfamilie, in dem sie aufgewachsen ist, das ihr vertraut ist. Das ist spannend gemacht, gute Darsteller - Jessica Schwarz und Michael Gwisdek, aber auch die argentinischen Schauspieler - tragen die Geschichte über ein paar Durchhänger im Mittelteil zu einem intensiven und spannenden Ende.

"Der letzte Angestellte" ist der neue Film von Alexander Adolph, der zuvor eine Dokumentation über "Hochstapler" und mit "So glücklich war ich noch nie" einen tragikomischen Spielfilm über einen von Devid Striesow gespielten Hochstapler gedreht hat. Nun zeigt Adolph erneut, wie einfühlsam er aus seinen Darstellern das Beste herausholen kann, Christian Berkel war vielleicht noch nie so gut wie als "Der letzte Angestellte", der eine insolvente Firma abwickeln muss und von den Geistern der verlorenen Vergangenheit heimgesucht wird. Zunächst scheinen die horrorgenretypischen Stilmittel etwas forciert zu sein, fast schon klischeehaft - aber flackerndes Neonlicht, Geräusche in der Heizung, die Leere eines abendlichen Büroraums sind die Zutaten eines entfremdeten Berufslebens, in dem der Angestellte zwangsweise aufgehen muss. Und wenn dann immer wieder die seltsame Frau auftaucht, die Berkel in Angst und Schrecken versetzt; wenn in kleinen Momenten das Irreale durchblitzt, das immer mehr Gestalt gewinnt; wenn dann noch die Schwiegermutter so hart und böse gegen ihn wettert: dann hat sich das Sozialdrama, das im deutschen Kino immer wieder durchgekaut wird, auf glücklichste Weise in einen Genrefilm gewandelt über das Unglück, wenn das Leben zur bloßen Existenz verkommen ist.

Der vielleicht beste FILMZ-Film aber ist wohl "Unter dir die Stadt" von Christoph Hochhäusler, der eine alttestamentarische Geschichte um König David, seine Macht und Hybris, sexuelles Begehren und willkürliche Gewalt über die Dächer von Frankfurt am Main erhebt, in das Milieu der Banker, denen die Karriere über das Leben geht; und denen das Individuelle, das Wahrhaftige, das Menschsein abhanden gekommen ist. Der Bankvorstand verliebt sich in die Frau eines seiner Angestellten, fängt eine Affäre mit ihr an, sie lässt sich darauf ein, spielerisch, kokettierend. Damit ihr Mann nicht in die Quere kommt, lässt der Chef in versetzen, auf die Philippinen, wo es gefährlich ist, wo organisierte Kriminalität Leib und Leben gefährdet... Und so versuchen sich Chef und Geliebte in etwas, das sich wie Liebe anfühlen soll; und sie offenbaren doch nur ihre Leere, und dass sie keinen Bezug mehr zum Menschen, am allerwenigsten zu sich selbst, herstellen können. Ein großartiger, nachdenkenswerter Film mit allegorisch-fabelähnlichem Anstrich.

Allerdings weicht FILMZ 2010 auch von einem programmatischen Anspruch ab: denn es zeigt im Langfilmwettbewerb zwei Filme, die schon einen Kinostart hatten. "Rammbock", ein Berliner Zombiemovie, ist seit September in den Kinos zu sehen, wenn auch (vermutlich) nur in Berlin und damit immerhin in der Region eine Premiere; wenige Tage nach dem Festival wird der Film auf DVD veröffentlicht.

Ein schlimmerer Fauxpas ist aber die Auswahl von Andreas Arnstedts "Die Entbehrlichen", der Ende September seinen Kinostart hatte und derzeit noch in Frankfurt und Mannheim läuft. Also durchaus nicht zu einem Filmfestival passt, das eigentlich Filme zeigen möchte, die zuvor nicht im Kino zu sehen waren.
Was dazu kommt: "Die Entbehrlichen" ist ein unglaublich schlechter Film, der offenbart, dass Regisseur Arnstedt zwar gute Absichten hatte, das Hartz-4-Unterschichtenmilieu zu porträtieren, dass er aber leider keine Ahnung, zumindest kein Einfühlungsvermögen besitzt, das über die Lektüre einer Zeitungsreportage - auf der die Handlung beruht - und vermutlich zwei, drei Wikipediaartikel hinausgeht. Gezeigt wird Jakob, elf Jahre, der kein Geld für den Klassenausflug hat und dessen Vater sich totgesoffen hat und nun als Leiche in der Wohnung rumliegt. Jacob weiß nicht, was er machen soll, und tut lieber gar nichts. Der Film aber muss natürlich etwas bieten, deshalb geht es auch um typische Probleme wie heimlicher Alkoholismus, Neonazitum und Gammelfleisch. In Rückblenden wird das Familienleben gezeigt, es wird geprügelt, gesoffen, rumgeschrien. Und Jacob hat Hoffnungen, das Nachbarmädchen ist so nett, und sie will Regisseurin werden und das Geheimnis von ausgerechnet Steven Spielberg ergründen...
Das alles ist, schlicht gesagt, ausgemachter Blödsinn, noch dazu ärgerlich. Das einzig Gute ist die assoziative Montage, die verschiedene Zeitebenen miteinander verbindet. (So wie es im Film heißt: Spielberg macht keine guten Filme, er hat nur gute Cutter.) Höhepunkt: Mathieu Carriere als spinnerter Weltkriegssoldat, der eine Armee von Hitler-Gartenzwergen fabriziert und totalen Quatsch redet.
Meidet diesen Film! Guckt was anderes! FILMZ hat ja genug zu bieten!

Harald Mühlbeyer


Infos zum Festival unter www.filmz-mainz.de!

Zum langen CARLOS

Von unserem Partnerdienst Terrorismus & Film


Mann hinter Zeit

Anmerkung: Der folgende Text bezieht sich auf die dreiteilige 330 minütige Miniserie, wie sie auf dem Filmfest in München gezeigt wurde und auf DVD in Frankreich erschienen ist. Eine Besprechung von Harald Mühlbeyer zur gekürzten deutschen Kinoversion (CARLOS – DER SCHAKAL), gibt es HIER.

I.
Direkt hinein geht der Film, startet mit einer Großaufnahme der beweglichen, „dokumentarische“ Kamera: Ein Mann steigt morgens aus dem Bett, ein Palästinenser, lässt eine nackte Frau zurück. Er streichelt ihren Rücken. Frühstück will er nicht. Vor dem Haus kontrolliert er das Auto, schaut unter die Motorhaube, unter den Wagen – und fliegt doch in die Luft, als er sich hineinsetzt.

Schon der Auftakt macht das Prinzip von CARLOS klar: Der wacklige Kamera ist das authentische Korrektiv zu der Nachbildung einer längst vergessenen Zeit, beginnend mit den 1970er Jahren, mit ihrem Licht, ihrer Mode. In Spielbergs MUNICH sah dies Rekonstruktion noch aufgesetzt und ausgestellt aus, jedes Kinoplakat, jeder Hosenschlag und jeder Motorroller Ausrufezeichen einer hyperrealen Zeitreise, die doch so selten über das Museale hinauskam.

In CARLOS gibt es die Handkamera, wie sie (wieder) ästhetische Mode ist, und doch ist auch ihr nie so ganz zu trauen, zusammen mit dem Schnitt: Der Palästinenser steigt in den Wagen (schon hier ein ungeduldiger Jump Cut) – und der explodiert sofort, sobald die Tür ins Schloss fällt; kein Zündschlüssel-Umdrehen, nein, der Schnitt spart sich hier den „lästigen“ Spannungsmoment, setzt auf den Effekt. Der dann aber doch wieder, auf der pyrotechnischen Ebene, unterspielt-realistisch erscheint: Nur ein Knall, ein kurzer, dumpfer, der das Auto zerfetzt, die Scheiben nach außen bläst. Kein Feuerball, keine brennenden Trümmer.



Mit einem solchen Wechselspiel aus Nähe und Distanz, fremdartiger Neugierde und Ungeduld sucht der französische Filmemacher Olivier Assayas (IRMA VEP; BOARDING GATE) ganze fünf Stunden nach der Faszination und Essenz von Ilich Ramirez Sánchez und „Carlos, dem Schakal“, die beide eins sind und doch kein Stück, kein homogenes Ganzes ergeben.

Assayas, der "letzte Debordianer" (Knörer/Rothöhler 2009), sucht neben dem Banalen auch das Spektakel, weil er die Faszination und das Wesen dieser merkwürdigen Figur dahinter ergründen will, aber dieses Spektakel, hat er es gefunden, sieht er es vor sich, inszeniert nach akribischen Recherchen, dann interessiert es ihn nur kurz und in seine Effizienz, fast sachlich, als ob es ihn langweilt oder mehr noch: enttäuscht und verärgert, sobald er es vor der Linse hat. Fast ein bisschen, als sei er betrogen davon. Denn natürlich erklärt ihm auch das Spektakel wenig, die Action und Gewalt, die sich bei aller Zurückhaltung über die fünf Stunden auftürmen, bis die Figur Carlos selbst damit eigentlich nichts mehr anzufangen weiß. Schon Guy Debord wusste, dass das Spektakel als Teil der Gesellschaft "specifically the sector [ist] which
concentrates all gazing and all consciousness
" (Debord, "The commodity of spectacle", 1977), aber eben des getäuschten Blicks und des falschen Bewusstseins (ebd.).


II.
Der Mann, der da am Anfang in die Luft fliegt, ist Mohamed Boudia (gespielt von Belkacem Djamel Barek), Europa-Chef des Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP). Eine Nachrichtenmeldung von damals klärt uns darüber auf – und tatsächlich sind wir schon mitten drin in dem Terrorismus- und Geheimdienstkrieg, der da Anfang der 1970er tobte, Palästinenser gegen Israelis, der Mossad gegen den Schwarzen September, Terror und Gegen-Terror, dazu alles eingebettet in den Kalten Krieg. Europa und der Nahe Osten ist ein gefährliches Pflaster, zugleich aber auch ein großer, aufregender Abenteuerspielplatz, zumindest für wilde, überzeugte Kerle – selbst, wenn sie nur von sich selbst überzeugt sind.



So ein Kerl ist Carlos, und zum ersten Mal sehen wir ihn, wie er in Beirut aus dem Flieger steigt. Die Sonne scheint hell und so orange, wie es das Kino für die 1970er reserviert hat. Carlos trägt einen beigen Anzug und Sonnenbrille – er erinnert dabei an Daniel Craig, als er in CASINO ROYALE als James Bond auf den Bermudas ankommt: endlich Weltmann in exotischer Aktion.

Carlos, der da noch nicht Carlos ist, wird über Umwege und eilige Kontrollen zum Wadi Haddad (Ahmad Kaabour) gebracht, dem Terrorchef der PFLP oder zumindest Haddads Splittergruppe darin. Denn das waren eben andere Zeiten, die Palästinenser untereinander zerstritten (und noch nicht lange aus Jordanien vertrieben). Haddad hasst Arafat, Sánchez wiederum, der schon Trainingserfahrung hat, will nicht länger für George Habash arbeiten... Dabei sitzt man in einem behaglichen Büro, und das Mastermind Haddad ist ein älterer schmaler Herr mit graumeliertem Haar und gestutztem Schnurrbart in Hemd und roter Strickweste. Das Klischee von den bärtigen Zauseln in Höhlen am Hindukusch ist noch weit weg.




III.
CARLOS sucht seine Titelfigur zwischen „Playboy“, „Revolutionär“ und „Terrorist“. Der Venezolaner Édgar Ramírez spielt ihn vorzüglich, nuanciert und vor allem in der perfekten Mischung aus echtem Leinwand-Macho nach den Regeln des Kinos und dem doch eher zur Dickleibigkeit neigenden realen Carlos, der sich statt einer Gesichtsoperation eher für das Absaugen seine Herrenbrüste interessierte.

Ob als entschlossener wie eitler Frauenschwarm und autoerotischer und kaltblütig-brutaler Gewalttäter oder mit dickem Wanst als grimmiger Waffenschmuggler und Opportunist, der sich im Kreis dreht, als polyglotter Business-Mann und trockener Kriegsgewinnler oder als gesuchter Vater, mit Frau und Kind auf der Flucht, die sein einziges Zuhause geworden ist: Ramírez gibt ihm stets etwas Lauerndes, Unbedingtes, es liegt in der Gestalt, mit dem energischen Kinn. Da ist aber auch etwas Kindisches, ein gestörter Narzissmus, den man oft bei Terroristen beobachtet hat.



Man versteht sofort, weshalb die Frauen in London und Paris, wo er die Nummer 2 der Palästinenser wird, ihm nichts abschlagen können (auch, wenn es darum geht, seine eindrucksvolle Waffen- und Sprengstoff-Sammlung unter ihrem Bett zu verstecken oder die Pistole im Liebesspiel als Fetischobjekt zu nutzen). Aber – bei dem großartigen Wechselspiel von Neugier und kalter Analyse –: Die Damen wie die kleine Schar der Gefolgsleute und Kollegen sind ihm nie wirklich komplett verfallen, bleiben eigenständige Charaktere, die, wenn nichts sonst, einen Narren an Sanchez / Carlos gefressen haben, weil er bei aller Grimmigkeit und Rebellentum etwas von einem wilden Jungen hat, auf den man mit Nachsicht und fast mütterlichem Seufzen reagieren kann.

Ein bisschen mogelt sich Assayas allerdings um die Figur herum, wenn er uns mit einem praktisch fertigen Mann der Tat konfrontiert und uns vorenthält, wie es dazu gekommen ist. Nicht dass es psychologische Erklärungen brauchen würde. Doch zum einen bleibt der Widerspruch zwischen Luxus und Privatgeschäften auf der einen und pro-palästinensischem Aktivismus und kommunistischen Revolutionsidealismus auf der anderen Seite ein Widerspruch, der umso größer wird, je länger er keiner für Carlos selbst ist und bleibt.

Ilich Ramirez Sánchez wurde als Sohn eines venezolanischen Anwalts und Marxisten (den zweiten Sohn nannte er Lenin) geboren, der mit Öl zu Reichtum kam. Die Mutter trennte sich von ihm und zog mit Ilich nach London, wo er – nach der harten revolutionären Schule, die ihm sein Vater hatte angedeihen lassen – das süße und vor allem lockere Leben kennen, zu denen auch die lateinamerikanischen Mädchen der höheren Gesellschaft gehörten, die fern von der katholischen Heimat zur Beute für Ilich wurden. Doch Vater Ramirez sah dem Treiben aus der Ferne nicht endlos zu: Ende der 1960er landete Ilich auf der Patrice Lumumba University in Moskau, wo er erste Bekanntschaft mit Palästinensern und ihrem Befreiungskampf machte. Endlich mit etwas, für das er sich engagieren konnte und für das akademische Leben ohnehin wenig geeignet, reiste er nach seinem Rauswurf aus Moskau in den Libanon und nach Jordanien, um sich ausbilden zu lassen.




IV.
Auch nicht ganz uninteressant hinsichtlich der Figurenkonstruktion ist die Frau an seiner Seite.
Erst gegen den Ende des zweiten Teils taucht Magdalena Kopp auf, die Freundin von Johannes Weinrich und wie dieser Mitglieder deutschen Revolutionären Zellen (RZ). Auch hier nimmt CARLOS es wohl nicht so ganz genau, zumindest nach Kopps eigenem Bekenntnis, dem aber auch natürlich auch nicht ganz zu trauen ist. In dem Buch Die Terrorjahre. Mein Leben an der Seite von Carlos (2007), das sie unter Mitarbeit von Hanne Reinhard verfasst hat, berichtet Kopp davon, wie sie Carlos als unangenehmen Ausbilder der Fatah beim Wüstentraining der RZ kennenlernte oder wie er sie in London, wo sie als Fälscherin arbeitete, in der Dunkelkammer schmierig und erfolglos anbaggerte. Erst später, schon länger unterwegs mit Weinrich und dem Welt- und Lebemann Carlos, verfällt sie dem Venezolaner. Den sie aller Abscheu dann irgendwie doch nicht abwimmeln kann. Weinrich wird abgeschrieben, bleibt aber dritter im Bunde.

Kopps Erinnerungen sind durchzogen von einem sachlichen Ton, der jedoch argwöhnen lässt angesichts allem lapidarem Eingestehen und trockenem Bedauern: Ein abwimmelndes „Ach, was war ich doch nur dumm und naiv“ und „Ich weiß ja auch nicht, was in mich gefahren ist“ durchziehen das Buch. Man glaubt ihr das Bedauern, aber man liest es schnell als eine arg funktionale (Selbst-) Erzählung. Nicht unehrlich, aber eben vor allem etwas, mit der sie sich ihre Geschichte selbst vom Hals halten, sich erklären und damit abgeschlossen hat. Geschämt hat sie sich, als sie mit Carlos erstmals im Bett gewesen war, auch Dienstreise, seine Verführungskunst haben ihr immer mehr zugesetzt, seine Selbstsicherheit sie fasziniert (Kopp 2007, S. 128; 130).

CARLOS ist da ganz anders, fackelt nicht lange, nimmt sich „die Frau an seiner Seite“ wie er es sich braucht: Im Beiruter Hotel wartete sie schon auf Carlos, stellt sich als Weinrichs Freundin vor. Maulig trollt sie sich, als Carlos sie wegen eines Geschäftsgesprächs auf seinem Zimmer ignoriert, nachher entschuldigt er sich und es geht schnell zur Sache.



Wenn es mit Assayas, dem ästhetischen Analytiker und schönen Diagnostiker mal durchgeht, dann hier und mit ihr. Mit einer fast schon ulkigen Lüsternheit weidet sich die Kamera an Nora von Waldstättens Alabaster-Körper, ihrer Nacktheit, zum wollüstigen Selbstzweck wird die Szene, wenn Carlos sie verführt, ihr ins Höschen fasst, sie sich hingibt – und der Katzenhaftigkeit dieser famosen Darstellerin (diesjährige Max-Ophüls-Preisträgerin als beste Nachwuchsschauspielerin) verpasst der Film noch die nötige Verruchtheit bei gleichzeitiger Gebrechlichkeit dazu.

Ha, der Carlos! denkt sich’s da stellvertretend, und: Bei so einer, da möchte man auch mal Terrorist sein. Hier sind wir wieder beim Spektakel, der Faszination, die jetzt auch nichts erklärt, außer sich selbst und ihre Wirkung – Carlos, der südamerikanische Hengst und Koteletten-Casanova mit breiter Brust, Schnauzer und Goldkette, die Gestalt einer echten und aufregend realen Schmuddelphantasie für ein 1970er-Publikum. Ganz jenseits der schlüpfrig-versteckter Freuden wie den SCHULMÄDCHEN- und HAUSFRAUEN-REPORTS.

CARLOS, der (selbstreflektive) KILLER-REPORT?

V.
Spätestens hier sind wir bei den Deutschen und dem Durcheinander. Es ist ja nicht nur der palästinensische Terror-Auftraggeber in der roten Strickweste, es ist die gesamte blutige Gemengelage dieser Epoche, die Carlos so komplex und zugleich so erfolgreich, gar zum Star werden ließ. Es ist eine Zeit des Irrsinns und der Banalität, der Dämlichkeiten und politischen Ranküne, in denen die deutschen Linksterroristen immer etwas verloren wirken – und im Falle der RZ, zumindest in der innerdeutschen kollektiven Erinnerung gegenüber der so dominanten wie zugleich so bundesrepublikanischen RAF, verloren gegangen sind.



Beängstigend eindringlich und glaubhaft sind vor allem die sorgfältig ausgewählten Darstellerinnen: Julia Hummer als burschikose bis fanatische Gabriele Kröcher-Tiedemann von der „Bewegung 2. Juni“ oder Katharina Schüttler als Brigitte Kuhlmann von den RZ. Aber sie wie ihre revolutionären Kollegen wirken sie wie aus einer anderen Welt, einem anderen Krieg – einer, der irgendwie klarer und übersichtlicher ist, ernster und zugleich: lustfeindlicher, verbiesterter.

Einer mit einer Agenda.

Nicht, dass er unideologisch wäre oder an nichts glauben würde, aber so etwas fehlt Carlos eben, eine Agenda und vor allem: ein Ziel. Das macht ihn so effektiv, auch in diesem Biopic. Carlos ist die Bewegung, nicht im politischen, sondern im dynamischen Sinne. Carlos, der mal eben so, ganz grausig, ins Haus des Marks & Spencer-Miteigentümers eindringt, ihn ins Gesicht schießt und wieder geht; der mal schnell eine Bombe in ein Café wirft, im Vorbeigehen.

Carlos bewegt sich wie ein Fisch im trüben Wasser, soll Mitgliedern der Japanischen Roten Armee bei der Besetzung der französischen Botschaft in Den Haag helfen, verpasst sie aber, weil die Japaner den Weg erst nicht finden und dann die Sache alleine durchziehen. Die PFLP überstützte die JRA und umgekehrt; Weinrich, der Deutsche, wiederum besorgt den Wagen für den Bazooka-Angriff auf dem Flughafen Paris-Orly (um Arafat zu diskreditieren), der statt der El-Al-Passagiermaschine, der aber daneben geht und trifft eine jugoslawische Frachtmaschine. Prompt versuchen es die Palästinenser es kurz darauf an derselben Stelle nochmal, was natürlich so dumm läuft, wie es sich anhört. Inklusive Geiselnahme im Klo.

Eine alltägliche gruselige Realsatire, eine echte Mafia-Parodie.

Carlos, nicht minder Söldner als Revoluzzer, arbeitet mal für den Irak, mal für Libyen oder Rumänien. Bei der OPEC-Geiselnahme, von Bagdad gesponsert, sollen unbedingt der iranische Finanz- und der saudische Öl-Minister getötet werden: Terrorismus als Krieg zwischen Staaten im Kleinen. Doch alles läuft nicht so, ist kompliziert, Flugzeuge dürfen doch nicht landen, also nimmt Carlos, der Pragmatiker, lieber das Geld. Kröcher-Tiedemann tobt als Idealistin, Macho und Macher Carlos, mit der verpatzten Aktion vollends zum Superstar des Terrorismus geworden, ist das reichlich egal.



Es gibt ihn einfach nicht, den Westen und schon gar nicht „den Osten“, sondern nur Taktieren und Konkurrenz und Feindschaft, doch zugleich verschwimmt alles zwischen Jemen, Lybien und Algerien, Sudan und Syrien, Budapest und Ost-Berlin: Carlos wird Subunternehmer des Terrorismus, schmuggelt Waffen für die ETA, ist von der Stasi nicht gern gesehen, und als ihn der ungarische Geheimdienst in seiner mit Knarren und Sprengstoff vollgestopften Haus observiert, platzt ihm die Hutschnur: Wütend schreiend umtigert er ihr Auto, ballert drohen drauf, dass den Beamten Angst und Bange wird. Als er sich abreagiert hat, geht Carlos wieder hinein.

CARLOS – ein Reisebericht durchs Tollhaus, das, wie alle Tollhäuser von innen, ganz vernünftig aussieht.




VI.
Was für ein Wissen muss man mitbringen? Erklärt CARLOS von den politischen und historischen Hintergründen, den Konstellation und Entwicklungen genug? Es gibt viele Treffen und Abmachungen, Aufträge und Jobs, oft in Englisch als Lingua franca; alles verwebt Assayas locker und unaufdringlich, und tatsächlich ist auch das eigentlich nur Staffage, weil in der Halb-, Unter- und Zwischenwelt der eine Zwist und die andere Freundschaft von irgendwelchen großen Entwicklungen beeinflusst sein mag, aber hier im Zwielicht (das stets auch etwas technokratisches hat), jenseits oder vor den Medien und Geschichtsbüchern, keine tieferen Bedeutungen oder Zwangsläufigkeit aufweisen. Hier, in dieser Phase, in der sich die letzten Erfolgsmythen des Antikolonialismus vermischen mit den Endzeithysterien einem linken Sozialutopismus, denen schon die Auflösung droht in der Globalisierung und Durchökonomisierung – dem Ende der Geschichte am Horizont.



Das Unspektakuläre des Spektakels passt auch in den Auswüchsen; fast eine Stunde nimmt sich CARLOS Zeit für die OPEC-Geiselnahme und den Irrflug mit den Öl-Politikern, zeigt Schießerei und einen Hans Joachim Klein (Christoph Bach) mit Bauchschuss, der ins Krankenhauskommt und immer noch schwer verwundet in den Flieger transportiert wird. Carlos in Lederjacke und Maskenmütze, der jovial mit dem Vertreter seines Heimatlandes plaudert. Alles wird spannend und darüber: nichts. Das Warten und das Bombenbauen, schnell, aufregend – und packend undramatisch. CARLOS ist keine Achterbahnfahrt, sondern ein ständiges drängendes Vibrieren, vor allem aber ein Mäandern, das die fünfstündige Miniserie über jeden regulären Spielfilm mit seinem Format hinaushebt. Die Entführung der Air-France-Entführung, die in Entebbe gestürmt wurde, wird nur gestreift – klar, hat mit Carlos direkt nix zu tun. Dann aber wieder folgen wir lange Hans Joachim Klein, der keinen Sinn mehr sieht, sich abgestoßen davon fühlte, dass seine ehemaligen Kampfgefährten Böse und Kuhlmann auf dem Air-France-Flug mitwirkten, Israelis, Juden zu „selektierten“. In einer Hütte im Wald schreibt sich Klein alles von der Seele, muss als Aussteiger vor seinen Kameraden fürchten. Einen Text mitsamt seiner Pistole schickte er dem Spiegel, drohte mit weiteren Enthüllungen. Als er seinen ehemaligen Genossen nicht mehr trauen kann, taucht er – ein weiteres Mal – ab. (Es folgte sein Buch Rückkehr in die Menschlichkeit. Appell eines ausgestiegenen Terroristen. 1998, nach rund einem Vierteljahrhundert im Untergrund, wurde er in Frankreich verhaftet, anschließend nach Deutschland überstellt. Seit 2003 ist er auf Bewährung entlassen und seit letztem Jahr begnadigt.)



CARLOS und mit ihm Assayas haben hierin vielleicht keine Antwort, wohl aber –
zumindest für sich – einen Erklärungsweg gefunden, hinter die Faszination zu gelangen: über das Aufwachen, den Kater, das Dahindämmern nach der Party. Die Zeiten und mit ihnen ändern sich, auch für Carlos, das große Business des internationalen Terrorismus trocknet aus, die Farben der Bilder kühler, die Welt enger und kleiner. Die Berliner Mauer fällt und der Eiserne Vorhang, Carlos wird dicker und ein Dinosaurier. Man braucht ihn nicht mehr. Dieses Ende zieht großartig hin und ist Assayas nicht weniger Aufmerksamkeit wert als die Wiener Terroraktion: die Testikeluntersuchung beim Arzt genau soviel wie die Planung eines Anschlags. Der Plastiksprengstoff und die belegten Brötchen für die OPEC-Geiseln. Alles ist Detail. Einzelne, große und ikonische Bilder bietet CARLOS mit seiner Authentik-Kamera zugleich nicht, die lieber dabei sein will.

Syrien schmeißt Carlos hinaus und so landet er schließlich im Sudan, wo ihn die Islamisten unter ihren Schutz stellen. Die Franzosen und Amerikaner sind ihm schon auf der Spur. Zuletzt ist es nicht mehr er, der herumreist, plant, der sich versteckt: Sudanische Militärs holen ihn aus dem Krankenhaus, bringen ihn an einem geheimen Ort unter, liefern ihn am Ende aus. Carlos wird an Bord eines Fliegers nach Frankreich gebracht. In Handschellen und Schlafanzug, auf einer Trage mit Sack über dem Kopf. 1994 war das.

Seine Zeit ist vorbei.


VII.
Ilich Ramirez Sánchez alias „Carlos, der Schakal“, zu lebenslänglicher Haft verurteilt, ist im Gefängnis von Clairvaux eingesperrt, wo einst der Anarchist Peter Kropotkin einsaß. Sánchez ist zum Islam konvertiert und hat seine Anwältin Isabelle Coutant-Peyre geheiratet. Gegen CARLOS hat er geklagt und Édgar Ramírez in einem Brief als Landsmann Vorhaltungen gemacht. In seinem Buch über den „revolutionären Islam“ (L'islam révolutionnaire von 2003) kombiniert er den Dschihadismus mit den marxistischen Revolutions- und Befreiungsthesen, denen er – immer noch? wieder? – anhängt.



VIII.
Einige kritisieren den Terminus „transnationaler Terrorismus“ als neue Bezeichnung für ein altes Phänomen. Was das Länder- und Staatenübergreifende anbelangt, mögen sie nicht Unrecht haben. CARLOS macht aber klar, dass es sehr wohl einen Unterschied gibt. Vielleicht sollte man nur die Adjektive vertauschen. Vielleicht war der verworrene Terrorismus der 1970er und 1980er eher transnational als heutige eher „internationale“.

Ein anderer Vergleich, diesmal filmische Natur: Sieht man CARLOS, denkt man natürlich an einen anderen aufwendigen Terrorismusfilm, eine Amphibienproduktion fürs Fernsehen und die Leinwand, klar: Bernd Eichingers und Ulli Edls DER BAADER MEINHOF KOMPLEX (BMK).

CARLOS ist viel besser, hört und liest man zurzeit häufig. Das ist richtig, aber auch ein bisschen zu einfach. CARLOS hat eine fesselnde durchgängige Hauptfigur und kann mit seinen 330 Minuten viel mehr erforschen, ausformen, entwickeln. Selbst die Kinofassung, die nun in Deutschland anläuft, ist mit 185 Minuten noch eine halbe Stunde länger als die TV-Version des BMK.

Und während der BMK eine Terrorismus-Geschichte eines Landes erzählt, kennt so etwas CARLOS gar nicht: ein einzelnes Land. Er kann somit ahistorisch bleiben – und als Artefakt zeitlos. „Wahrer“ ist er dadurch noch lange nicht.

Vor allem aber ist es das Erzählen selbst, das hier ein komisches Ungleichgewicht herstellt, d.h. die Dramaturgie, Inszenierung, der Rhythmus. Frank Schirrmacher schrieb 2008 in der FAZ: „Wer die RAF und die Kultur der alten Bundesrepublik begreifen will, […] darf keine Cinemascope-Filme, sondern nur Daumenkino machen“ (S. 25). CARLOS hätte dabei das Bombastkino mit seiner Figur und seinen Themen, den bizarren Momenten und Banalität des Obskuren vertragen. Dass er nun den sachlichen, wundersamen und ein wenig „außerirdischen“ Ansatz bei allen schönen Bildern wählt, der dem BMK viel besser getan hätte, macht ihn großartig.

Bernd Zywietz



Literatur:

Knörer, Ekkehard / Rothöhler, Simon (2009): Der letzte Debordianer. (Gespräch mit Olivier Assayas). In: Cargo, Nr. 2, 26 - 35

Kopp, Magdalena (2007): Die Terrorjahre. Mein Leben an der Seite von Carlos. München: DVA.

Schirrmacher, Frank (2008): Diese Frau brauchte mich ganz. Der Film „Der Baader-Meinhof-Komplex“ ist eine Befreiung von der Erziehungsdiktatur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Sept., S. 25 – 26.