exground 23: “Norteado” [“Northless”]
Schwarzbild. Geräusche der erwachenden Fauna. Dann Totalen einer bergigen Landschaft im Morgengrauen, immer wieder unterbrochen von Schwarz. Dann Bilder einer Bewegung: zu Fuß, mit dem Auto, dem Bus und wieder zu Fuß. Aus der Einöde der Berge im Halbdunkel des Morgens in die Überfülle der Stadt, von dort ins grelle Licht der menschenfeindlichen Wüste. Dazwischen: die Begegnung mit einem namenlosen, wortkargen Mann in einem Café, der erste Satz nach vielen Minuten: „Bist du der Typ aus Oaxaca?“ Aufbruch in die Wüste, die Nacht bricht herein. Am nächsten Morgen ist der Mann aus dem Café verschwunden, Andrés, der „Typ aus Oaxaca“, bleibt allein zurück. Nach einem ziellosen Marsch durch die Wüste kommt die Bewegung zum Stillstand: Andrés versucht zu entkommen, doch nach wenigen Metern macht seine Erschöpfung der Flucht ein Ende. Nur wenige Kilometer von seinem Ziel entfernt, wird er von einer Grenzpatrouille aufgegriffen und festgesetzt. Das ‚gelobte Land‘, die USA, zum Greifen nahe, wird ihm – von den grinsenden Konterfeis von Gouverneur Schwarzenegger und Präsident Bush an der Wand – klar gemacht: Du bist dort nicht erwünscht!
Nachdem er wieder auf die Straße gesetzt wird, begegnet Andrés der jungen Cata, hilft ihr mit den schweren Müllsäcken. Zusammen mit der etwas älteren Ela betreibt sie hier, in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana, einen kleinen Lebensmittelladen. Ohne viele Worte zu wechseln, wird er von ihnen aufgenommen, Teil ihrer Gemeinschaft, Teil ihres Alltags. Die beiden Frauen brauchen jemanden, der ihnen im Laden hilft, er braucht einen Platz zum Schlafen und etwas zu essen – ganz pragmatisch. Aus der zufälligen Bewegung wird eine Gemeinschaft auf Zeit. Beiden Frauen kommt er nach und nach näher, erkennt in ihnen zwei Versehrte, zwei vom Leben, von ihren Männern Betrogene. Diese haben die Frauen hier zurückgelassen, nachdem ihnen nach mehreren Versuchen endlich die Flucht geglückt ist – dem einen nach Atlanta, dem anderen nach Kanada. Ela und Cata sehen in Andrés mehr und mehr jemanden, der die entstandene Lücke auffüllen könnte. Doch Andrés will sich von seinem Vorhaben nicht abbringen lassen. Er ist sich sicher: irgendwie, irgendwann wird es ihm gelingen, die Grenze zu überqueren.
Regisseur Pérezcano, selbst in Oaxaca geboren, kommt vom Dokumentarfilm – was man seinen Bildern auch anmerkt: präzise, ohne falsches Pathos blickt er auf die Grenzregion zwischen Mexiko und den USA, auf diesen von hohen Mauern und Zäunen durchzogenen Flecken Erde, angefüllt mit Menschen, die versuchen, ‚hier‘ ein Auskommen zu finden, obwohl sie lieber ‚dort‘ wären. Ein Leben zwischen Hoffnung und Ernüchterung, Sehnsucht und Resignation. Pérezco verzichtet auf alles unnötig schmückende, dramatisierende Beiwerk, etwa auf emotionalisierenden Musikeinsatz. Lediglich an zwei Stellen setzt er sehr bewusst einen Pianoscore ein, alles andere ist on screen, im Bild motiviert. Vieles wird nur mit kurzen, stummen Gesten und Blicken erzählt, nichts ‚zu Tode‘ geredet. Zudem bleibt der Humor leise und unaufdringlich, etwa wenn Pérecano kurz, nachdem Andrés seinen zweiten Fluchtversuch angetreten ist, dessen weiteren Verlauf ausblendet und sofort erneut auf die Bilder von Bush und Schwarzenegger schneidet und dem Zuschauer umgehend klar wird, dass Andrés erneut gescheitert und aufgegriffen worden ist.
Pérecanos Film war für zehn mexikanische Oscars nominiert und wurde – nicht zu Unrecht – auf vielen internationalen Festivals ausgezeichnet. Bleibt zu hoffen, dass „Norteado“ in naher Zeit auch regulär, jenseits der Festival-Leinwände zu sehen sein wird.
Christian Moises
NORTEADO [NORTHLESS]
R: Rigoberto Pérezcano
D: Harold Torres, Sonia Couoh, Alicia Laguna, u.a.
Mexiko/Spanien 2009
94 Min.
OmeU