Zum langen CARLOS

Von unserem Partnerdienst Terrorismus & Film


Mann hinter Zeit

Anmerkung: Der folgende Text bezieht sich auf die dreiteilige 330 minütige Miniserie, wie sie auf dem Filmfest in München gezeigt wurde und auf DVD in Frankreich erschienen ist. Eine Besprechung von Harald Mühlbeyer zur gekürzten deutschen Kinoversion (CARLOS – DER SCHAKAL), gibt es HIER.

I.
Direkt hinein geht der Film, startet mit einer Großaufnahme der beweglichen, „dokumentarische“ Kamera: Ein Mann steigt morgens aus dem Bett, ein Palästinenser, lässt eine nackte Frau zurück. Er streichelt ihren Rücken. Frühstück will er nicht. Vor dem Haus kontrolliert er das Auto, schaut unter die Motorhaube, unter den Wagen – und fliegt doch in die Luft, als er sich hineinsetzt.

Schon der Auftakt macht das Prinzip von CARLOS klar: Der wacklige Kamera ist das authentische Korrektiv zu der Nachbildung einer längst vergessenen Zeit, beginnend mit den 1970er Jahren, mit ihrem Licht, ihrer Mode. In Spielbergs MUNICH sah dies Rekonstruktion noch aufgesetzt und ausgestellt aus, jedes Kinoplakat, jeder Hosenschlag und jeder Motorroller Ausrufezeichen einer hyperrealen Zeitreise, die doch so selten über das Museale hinauskam.

In CARLOS gibt es die Handkamera, wie sie (wieder) ästhetische Mode ist, und doch ist auch ihr nie so ganz zu trauen, zusammen mit dem Schnitt: Der Palästinenser steigt in den Wagen (schon hier ein ungeduldiger Jump Cut) – und der explodiert sofort, sobald die Tür ins Schloss fällt; kein Zündschlüssel-Umdrehen, nein, der Schnitt spart sich hier den „lästigen“ Spannungsmoment, setzt auf den Effekt. Der dann aber doch wieder, auf der pyrotechnischen Ebene, unterspielt-realistisch erscheint: Nur ein Knall, ein kurzer, dumpfer, der das Auto zerfetzt, die Scheiben nach außen bläst. Kein Feuerball, keine brennenden Trümmer.



Mit einem solchen Wechselspiel aus Nähe und Distanz, fremdartiger Neugierde und Ungeduld sucht der französische Filmemacher Olivier Assayas (IRMA VEP; BOARDING GATE) ganze fünf Stunden nach der Faszination und Essenz von Ilich Ramirez Sánchez und „Carlos, dem Schakal“, die beide eins sind und doch kein Stück, kein homogenes Ganzes ergeben.

Assayas, der "letzte Debordianer" (Knörer/Rothöhler 2009), sucht neben dem Banalen auch das Spektakel, weil er die Faszination und das Wesen dieser merkwürdigen Figur dahinter ergründen will, aber dieses Spektakel, hat er es gefunden, sieht er es vor sich, inszeniert nach akribischen Recherchen, dann interessiert es ihn nur kurz und in seine Effizienz, fast sachlich, als ob es ihn langweilt oder mehr noch: enttäuscht und verärgert, sobald er es vor der Linse hat. Fast ein bisschen, als sei er betrogen davon. Denn natürlich erklärt ihm auch das Spektakel wenig, die Action und Gewalt, die sich bei aller Zurückhaltung über die fünf Stunden auftürmen, bis die Figur Carlos selbst damit eigentlich nichts mehr anzufangen weiß. Schon Guy Debord wusste, dass das Spektakel als Teil der Gesellschaft "specifically the sector [ist] which
concentrates all gazing and all consciousness
" (Debord, "The commodity of spectacle", 1977), aber eben des getäuschten Blicks und des falschen Bewusstseins (ebd.).


II.
Der Mann, der da am Anfang in die Luft fliegt, ist Mohamed Boudia (gespielt von Belkacem Djamel Barek), Europa-Chef des Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP). Eine Nachrichtenmeldung von damals klärt uns darüber auf – und tatsächlich sind wir schon mitten drin in dem Terrorismus- und Geheimdienstkrieg, der da Anfang der 1970er tobte, Palästinenser gegen Israelis, der Mossad gegen den Schwarzen September, Terror und Gegen-Terror, dazu alles eingebettet in den Kalten Krieg. Europa und der Nahe Osten ist ein gefährliches Pflaster, zugleich aber auch ein großer, aufregender Abenteuerspielplatz, zumindest für wilde, überzeugte Kerle – selbst, wenn sie nur von sich selbst überzeugt sind.



So ein Kerl ist Carlos, und zum ersten Mal sehen wir ihn, wie er in Beirut aus dem Flieger steigt. Die Sonne scheint hell und so orange, wie es das Kino für die 1970er reserviert hat. Carlos trägt einen beigen Anzug und Sonnenbrille – er erinnert dabei an Daniel Craig, als er in CASINO ROYALE als James Bond auf den Bermudas ankommt: endlich Weltmann in exotischer Aktion.

Carlos, der da noch nicht Carlos ist, wird über Umwege und eilige Kontrollen zum Wadi Haddad (Ahmad Kaabour) gebracht, dem Terrorchef der PFLP oder zumindest Haddads Splittergruppe darin. Denn das waren eben andere Zeiten, die Palästinenser untereinander zerstritten (und noch nicht lange aus Jordanien vertrieben). Haddad hasst Arafat, Sánchez wiederum, der schon Trainingserfahrung hat, will nicht länger für George Habash arbeiten... Dabei sitzt man in einem behaglichen Büro, und das Mastermind Haddad ist ein älterer schmaler Herr mit graumeliertem Haar und gestutztem Schnurrbart in Hemd und roter Strickweste. Das Klischee von den bärtigen Zauseln in Höhlen am Hindukusch ist noch weit weg.




III.
CARLOS sucht seine Titelfigur zwischen „Playboy“, „Revolutionär“ und „Terrorist“. Der Venezolaner Édgar Ramírez spielt ihn vorzüglich, nuanciert und vor allem in der perfekten Mischung aus echtem Leinwand-Macho nach den Regeln des Kinos und dem doch eher zur Dickleibigkeit neigenden realen Carlos, der sich statt einer Gesichtsoperation eher für das Absaugen seine Herrenbrüste interessierte.

Ob als entschlossener wie eitler Frauenschwarm und autoerotischer und kaltblütig-brutaler Gewalttäter oder mit dickem Wanst als grimmiger Waffenschmuggler und Opportunist, der sich im Kreis dreht, als polyglotter Business-Mann und trockener Kriegsgewinnler oder als gesuchter Vater, mit Frau und Kind auf der Flucht, die sein einziges Zuhause geworden ist: Ramírez gibt ihm stets etwas Lauerndes, Unbedingtes, es liegt in der Gestalt, mit dem energischen Kinn. Da ist aber auch etwas Kindisches, ein gestörter Narzissmus, den man oft bei Terroristen beobachtet hat.



Man versteht sofort, weshalb die Frauen in London und Paris, wo er die Nummer 2 der Palästinenser wird, ihm nichts abschlagen können (auch, wenn es darum geht, seine eindrucksvolle Waffen- und Sprengstoff-Sammlung unter ihrem Bett zu verstecken oder die Pistole im Liebesspiel als Fetischobjekt zu nutzen). Aber – bei dem großartigen Wechselspiel von Neugier und kalter Analyse –: Die Damen wie die kleine Schar der Gefolgsleute und Kollegen sind ihm nie wirklich komplett verfallen, bleiben eigenständige Charaktere, die, wenn nichts sonst, einen Narren an Sanchez / Carlos gefressen haben, weil er bei aller Grimmigkeit und Rebellentum etwas von einem wilden Jungen hat, auf den man mit Nachsicht und fast mütterlichem Seufzen reagieren kann.

Ein bisschen mogelt sich Assayas allerdings um die Figur herum, wenn er uns mit einem praktisch fertigen Mann der Tat konfrontiert und uns vorenthält, wie es dazu gekommen ist. Nicht dass es psychologische Erklärungen brauchen würde. Doch zum einen bleibt der Widerspruch zwischen Luxus und Privatgeschäften auf der einen und pro-palästinensischem Aktivismus und kommunistischen Revolutionsidealismus auf der anderen Seite ein Widerspruch, der umso größer wird, je länger er keiner für Carlos selbst ist und bleibt.

Ilich Ramirez Sánchez wurde als Sohn eines venezolanischen Anwalts und Marxisten (den zweiten Sohn nannte er Lenin) geboren, der mit Öl zu Reichtum kam. Die Mutter trennte sich von ihm und zog mit Ilich nach London, wo er – nach der harten revolutionären Schule, die ihm sein Vater hatte angedeihen lassen – das süße und vor allem lockere Leben kennen, zu denen auch die lateinamerikanischen Mädchen der höheren Gesellschaft gehörten, die fern von der katholischen Heimat zur Beute für Ilich wurden. Doch Vater Ramirez sah dem Treiben aus der Ferne nicht endlos zu: Ende der 1960er landete Ilich auf der Patrice Lumumba University in Moskau, wo er erste Bekanntschaft mit Palästinensern und ihrem Befreiungskampf machte. Endlich mit etwas, für das er sich engagieren konnte und für das akademische Leben ohnehin wenig geeignet, reiste er nach seinem Rauswurf aus Moskau in den Libanon und nach Jordanien, um sich ausbilden zu lassen.




IV.
Auch nicht ganz uninteressant hinsichtlich der Figurenkonstruktion ist die Frau an seiner Seite.
Erst gegen den Ende des zweiten Teils taucht Magdalena Kopp auf, die Freundin von Johannes Weinrich und wie dieser Mitglieder deutschen Revolutionären Zellen (RZ). Auch hier nimmt CARLOS es wohl nicht so ganz genau, zumindest nach Kopps eigenem Bekenntnis, dem aber auch natürlich auch nicht ganz zu trauen ist. In dem Buch Die Terrorjahre. Mein Leben an der Seite von Carlos (2007), das sie unter Mitarbeit von Hanne Reinhard verfasst hat, berichtet Kopp davon, wie sie Carlos als unangenehmen Ausbilder der Fatah beim Wüstentraining der RZ kennenlernte oder wie er sie in London, wo sie als Fälscherin arbeitete, in der Dunkelkammer schmierig und erfolglos anbaggerte. Erst später, schon länger unterwegs mit Weinrich und dem Welt- und Lebemann Carlos, verfällt sie dem Venezolaner. Den sie aller Abscheu dann irgendwie doch nicht abwimmeln kann. Weinrich wird abgeschrieben, bleibt aber dritter im Bunde.

Kopps Erinnerungen sind durchzogen von einem sachlichen Ton, der jedoch argwöhnen lässt angesichts allem lapidarem Eingestehen und trockenem Bedauern: Ein abwimmelndes „Ach, was war ich doch nur dumm und naiv“ und „Ich weiß ja auch nicht, was in mich gefahren ist“ durchziehen das Buch. Man glaubt ihr das Bedauern, aber man liest es schnell als eine arg funktionale (Selbst-) Erzählung. Nicht unehrlich, aber eben vor allem etwas, mit der sie sich ihre Geschichte selbst vom Hals halten, sich erklären und damit abgeschlossen hat. Geschämt hat sie sich, als sie mit Carlos erstmals im Bett gewesen war, auch Dienstreise, seine Verführungskunst haben ihr immer mehr zugesetzt, seine Selbstsicherheit sie fasziniert (Kopp 2007, S. 128; 130).

CARLOS ist da ganz anders, fackelt nicht lange, nimmt sich „die Frau an seiner Seite“ wie er es sich braucht: Im Beiruter Hotel wartete sie schon auf Carlos, stellt sich als Weinrichs Freundin vor. Maulig trollt sie sich, als Carlos sie wegen eines Geschäftsgesprächs auf seinem Zimmer ignoriert, nachher entschuldigt er sich und es geht schnell zur Sache.



Wenn es mit Assayas, dem ästhetischen Analytiker und schönen Diagnostiker mal durchgeht, dann hier und mit ihr. Mit einer fast schon ulkigen Lüsternheit weidet sich die Kamera an Nora von Waldstättens Alabaster-Körper, ihrer Nacktheit, zum wollüstigen Selbstzweck wird die Szene, wenn Carlos sie verführt, ihr ins Höschen fasst, sie sich hingibt – und der Katzenhaftigkeit dieser famosen Darstellerin (diesjährige Max-Ophüls-Preisträgerin als beste Nachwuchsschauspielerin) verpasst der Film noch die nötige Verruchtheit bei gleichzeitiger Gebrechlichkeit dazu.

Ha, der Carlos! denkt sich’s da stellvertretend, und: Bei so einer, da möchte man auch mal Terrorist sein. Hier sind wir wieder beim Spektakel, der Faszination, die jetzt auch nichts erklärt, außer sich selbst und ihre Wirkung – Carlos, der südamerikanische Hengst und Koteletten-Casanova mit breiter Brust, Schnauzer und Goldkette, die Gestalt einer echten und aufregend realen Schmuddelphantasie für ein 1970er-Publikum. Ganz jenseits der schlüpfrig-versteckter Freuden wie den SCHULMÄDCHEN- und HAUSFRAUEN-REPORTS.

CARLOS, der (selbstreflektive) KILLER-REPORT?

V.
Spätestens hier sind wir bei den Deutschen und dem Durcheinander. Es ist ja nicht nur der palästinensische Terror-Auftraggeber in der roten Strickweste, es ist die gesamte blutige Gemengelage dieser Epoche, die Carlos so komplex und zugleich so erfolgreich, gar zum Star werden ließ. Es ist eine Zeit des Irrsinns und der Banalität, der Dämlichkeiten und politischen Ranküne, in denen die deutschen Linksterroristen immer etwas verloren wirken – und im Falle der RZ, zumindest in der innerdeutschen kollektiven Erinnerung gegenüber der so dominanten wie zugleich so bundesrepublikanischen RAF, verloren gegangen sind.



Beängstigend eindringlich und glaubhaft sind vor allem die sorgfältig ausgewählten Darstellerinnen: Julia Hummer als burschikose bis fanatische Gabriele Kröcher-Tiedemann von der „Bewegung 2. Juni“ oder Katharina Schüttler als Brigitte Kuhlmann von den RZ. Aber sie wie ihre revolutionären Kollegen wirken sie wie aus einer anderen Welt, einem anderen Krieg – einer, der irgendwie klarer und übersichtlicher ist, ernster und zugleich: lustfeindlicher, verbiesterter.

Einer mit einer Agenda.

Nicht, dass er unideologisch wäre oder an nichts glauben würde, aber so etwas fehlt Carlos eben, eine Agenda und vor allem: ein Ziel. Das macht ihn so effektiv, auch in diesem Biopic. Carlos ist die Bewegung, nicht im politischen, sondern im dynamischen Sinne. Carlos, der mal eben so, ganz grausig, ins Haus des Marks & Spencer-Miteigentümers eindringt, ihn ins Gesicht schießt und wieder geht; der mal schnell eine Bombe in ein Café wirft, im Vorbeigehen.

Carlos bewegt sich wie ein Fisch im trüben Wasser, soll Mitgliedern der Japanischen Roten Armee bei der Besetzung der französischen Botschaft in Den Haag helfen, verpasst sie aber, weil die Japaner den Weg erst nicht finden und dann die Sache alleine durchziehen. Die PFLP überstützte die JRA und umgekehrt; Weinrich, der Deutsche, wiederum besorgt den Wagen für den Bazooka-Angriff auf dem Flughafen Paris-Orly (um Arafat zu diskreditieren), der statt der El-Al-Passagiermaschine, der aber daneben geht und trifft eine jugoslawische Frachtmaschine. Prompt versuchen es die Palästinenser es kurz darauf an derselben Stelle nochmal, was natürlich so dumm läuft, wie es sich anhört. Inklusive Geiselnahme im Klo.

Eine alltägliche gruselige Realsatire, eine echte Mafia-Parodie.

Carlos, nicht minder Söldner als Revoluzzer, arbeitet mal für den Irak, mal für Libyen oder Rumänien. Bei der OPEC-Geiselnahme, von Bagdad gesponsert, sollen unbedingt der iranische Finanz- und der saudische Öl-Minister getötet werden: Terrorismus als Krieg zwischen Staaten im Kleinen. Doch alles läuft nicht so, ist kompliziert, Flugzeuge dürfen doch nicht landen, also nimmt Carlos, der Pragmatiker, lieber das Geld. Kröcher-Tiedemann tobt als Idealistin, Macho und Macher Carlos, mit der verpatzten Aktion vollends zum Superstar des Terrorismus geworden, ist das reichlich egal.



Es gibt ihn einfach nicht, den Westen und schon gar nicht „den Osten“, sondern nur Taktieren und Konkurrenz und Feindschaft, doch zugleich verschwimmt alles zwischen Jemen, Lybien und Algerien, Sudan und Syrien, Budapest und Ost-Berlin: Carlos wird Subunternehmer des Terrorismus, schmuggelt Waffen für die ETA, ist von der Stasi nicht gern gesehen, und als ihn der ungarische Geheimdienst in seiner mit Knarren und Sprengstoff vollgestopften Haus observiert, platzt ihm die Hutschnur: Wütend schreiend umtigert er ihr Auto, ballert drohen drauf, dass den Beamten Angst und Bange wird. Als er sich abreagiert hat, geht Carlos wieder hinein.

CARLOS – ein Reisebericht durchs Tollhaus, das, wie alle Tollhäuser von innen, ganz vernünftig aussieht.




VI.
Was für ein Wissen muss man mitbringen? Erklärt CARLOS von den politischen und historischen Hintergründen, den Konstellation und Entwicklungen genug? Es gibt viele Treffen und Abmachungen, Aufträge und Jobs, oft in Englisch als Lingua franca; alles verwebt Assayas locker und unaufdringlich, und tatsächlich ist auch das eigentlich nur Staffage, weil in der Halb-, Unter- und Zwischenwelt der eine Zwist und die andere Freundschaft von irgendwelchen großen Entwicklungen beeinflusst sein mag, aber hier im Zwielicht (das stets auch etwas technokratisches hat), jenseits oder vor den Medien und Geschichtsbüchern, keine tieferen Bedeutungen oder Zwangsläufigkeit aufweisen. Hier, in dieser Phase, in der sich die letzten Erfolgsmythen des Antikolonialismus vermischen mit den Endzeithysterien einem linken Sozialutopismus, denen schon die Auflösung droht in der Globalisierung und Durchökonomisierung – dem Ende der Geschichte am Horizont.



Das Unspektakuläre des Spektakels passt auch in den Auswüchsen; fast eine Stunde nimmt sich CARLOS Zeit für die OPEC-Geiselnahme und den Irrflug mit den Öl-Politikern, zeigt Schießerei und einen Hans Joachim Klein (Christoph Bach) mit Bauchschuss, der ins Krankenhauskommt und immer noch schwer verwundet in den Flieger transportiert wird. Carlos in Lederjacke und Maskenmütze, der jovial mit dem Vertreter seines Heimatlandes plaudert. Alles wird spannend und darüber: nichts. Das Warten und das Bombenbauen, schnell, aufregend – und packend undramatisch. CARLOS ist keine Achterbahnfahrt, sondern ein ständiges drängendes Vibrieren, vor allem aber ein Mäandern, das die fünfstündige Miniserie über jeden regulären Spielfilm mit seinem Format hinaushebt. Die Entführung der Air-France-Entführung, die in Entebbe gestürmt wurde, wird nur gestreift – klar, hat mit Carlos direkt nix zu tun. Dann aber wieder folgen wir lange Hans Joachim Klein, der keinen Sinn mehr sieht, sich abgestoßen davon fühlte, dass seine ehemaligen Kampfgefährten Böse und Kuhlmann auf dem Air-France-Flug mitwirkten, Israelis, Juden zu „selektierten“. In einer Hütte im Wald schreibt sich Klein alles von der Seele, muss als Aussteiger vor seinen Kameraden fürchten. Einen Text mitsamt seiner Pistole schickte er dem Spiegel, drohte mit weiteren Enthüllungen. Als er seinen ehemaligen Genossen nicht mehr trauen kann, taucht er – ein weiteres Mal – ab. (Es folgte sein Buch Rückkehr in die Menschlichkeit. Appell eines ausgestiegenen Terroristen. 1998, nach rund einem Vierteljahrhundert im Untergrund, wurde er in Frankreich verhaftet, anschließend nach Deutschland überstellt. Seit 2003 ist er auf Bewährung entlassen und seit letztem Jahr begnadigt.)



CARLOS und mit ihm Assayas haben hierin vielleicht keine Antwort, wohl aber –
zumindest für sich – einen Erklärungsweg gefunden, hinter die Faszination zu gelangen: über das Aufwachen, den Kater, das Dahindämmern nach der Party. Die Zeiten und mit ihnen ändern sich, auch für Carlos, das große Business des internationalen Terrorismus trocknet aus, die Farben der Bilder kühler, die Welt enger und kleiner. Die Berliner Mauer fällt und der Eiserne Vorhang, Carlos wird dicker und ein Dinosaurier. Man braucht ihn nicht mehr. Dieses Ende zieht großartig hin und ist Assayas nicht weniger Aufmerksamkeit wert als die Wiener Terroraktion: die Testikeluntersuchung beim Arzt genau soviel wie die Planung eines Anschlags. Der Plastiksprengstoff und die belegten Brötchen für die OPEC-Geiseln. Alles ist Detail. Einzelne, große und ikonische Bilder bietet CARLOS mit seiner Authentik-Kamera zugleich nicht, die lieber dabei sein will.

Syrien schmeißt Carlos hinaus und so landet er schließlich im Sudan, wo ihn die Islamisten unter ihren Schutz stellen. Die Franzosen und Amerikaner sind ihm schon auf der Spur. Zuletzt ist es nicht mehr er, der herumreist, plant, der sich versteckt: Sudanische Militärs holen ihn aus dem Krankenhaus, bringen ihn an einem geheimen Ort unter, liefern ihn am Ende aus. Carlos wird an Bord eines Fliegers nach Frankreich gebracht. In Handschellen und Schlafanzug, auf einer Trage mit Sack über dem Kopf. 1994 war das.

Seine Zeit ist vorbei.


VII.
Ilich Ramirez Sánchez alias „Carlos, der Schakal“, zu lebenslänglicher Haft verurteilt, ist im Gefängnis von Clairvaux eingesperrt, wo einst der Anarchist Peter Kropotkin einsaß. Sánchez ist zum Islam konvertiert und hat seine Anwältin Isabelle Coutant-Peyre geheiratet. Gegen CARLOS hat er geklagt und Édgar Ramírez in einem Brief als Landsmann Vorhaltungen gemacht. In seinem Buch über den „revolutionären Islam“ (L'islam révolutionnaire von 2003) kombiniert er den Dschihadismus mit den marxistischen Revolutions- und Befreiungsthesen, denen er – immer noch? wieder? – anhängt.



VIII.
Einige kritisieren den Terminus „transnationaler Terrorismus“ als neue Bezeichnung für ein altes Phänomen. Was das Länder- und Staatenübergreifende anbelangt, mögen sie nicht Unrecht haben. CARLOS macht aber klar, dass es sehr wohl einen Unterschied gibt. Vielleicht sollte man nur die Adjektive vertauschen. Vielleicht war der verworrene Terrorismus der 1970er und 1980er eher transnational als heutige eher „internationale“.

Ein anderer Vergleich, diesmal filmische Natur: Sieht man CARLOS, denkt man natürlich an einen anderen aufwendigen Terrorismusfilm, eine Amphibienproduktion fürs Fernsehen und die Leinwand, klar: Bernd Eichingers und Ulli Edls DER BAADER MEINHOF KOMPLEX (BMK).

CARLOS ist viel besser, hört und liest man zurzeit häufig. Das ist richtig, aber auch ein bisschen zu einfach. CARLOS hat eine fesselnde durchgängige Hauptfigur und kann mit seinen 330 Minuten viel mehr erforschen, ausformen, entwickeln. Selbst die Kinofassung, die nun in Deutschland anläuft, ist mit 185 Minuten noch eine halbe Stunde länger als die TV-Version des BMK.

Und während der BMK eine Terrorismus-Geschichte eines Landes erzählt, kennt so etwas CARLOS gar nicht: ein einzelnes Land. Er kann somit ahistorisch bleiben – und als Artefakt zeitlos. „Wahrer“ ist er dadurch noch lange nicht.

Vor allem aber ist es das Erzählen selbst, das hier ein komisches Ungleichgewicht herstellt, d.h. die Dramaturgie, Inszenierung, der Rhythmus. Frank Schirrmacher schrieb 2008 in der FAZ: „Wer die RAF und die Kultur der alten Bundesrepublik begreifen will, […] darf keine Cinemascope-Filme, sondern nur Daumenkino machen“ (S. 25). CARLOS hätte dabei das Bombastkino mit seiner Figur und seinen Themen, den bizarren Momenten und Banalität des Obskuren vertragen. Dass er nun den sachlichen, wundersamen und ein wenig „außerirdischen“ Ansatz bei allen schönen Bildern wählt, der dem BMK viel besser getan hätte, macht ihn großartig.

Bernd Zywietz



Literatur:

Knörer, Ekkehard / Rothöhler, Simon (2009): Der letzte Debordianer. (Gespräch mit Olivier Assayas). In: Cargo, Nr. 2, 26 - 35

Kopp, Magdalena (2007): Die Terrorjahre. Mein Leben an der Seite von Carlos. München: DVA.

Schirrmacher, Frank (2008): Diese Frau brauchte mich ganz. Der Film „Der Baader-Meinhof-Komplex“ ist eine Befreiung von der Erziehungsdiktatur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Sept., S. 25 – 26.