Grindhouse-Nachlese Oktober 2015 – Hexen und Zombies made in spain

Cinema Quadrat, Mannheim, 31. Oktober 2015:

"Blutmesse für den Teufel" / "El espanto surge de la tumba", Spanien 1973, Regie: Carlos Aured

"Die Nacht der reitenden Leichen" / "La noche des terror ciego", Spanien 1971, Regie: Amando de Ossorio
 


Halloween: Diese Nacht zum Ausgang des Oktobers, alte keltische Feier, in der die Iren mit ihren Kürbissen die umherwandelnden Geister der Verstorbenen erschrecken, um dann amerikanischen Candy einzusammeln… Halloween: Unheimlichkeit allerorten, auch im Kino. Auch in Spanien. Wobei es dort natürlich nochmal extra dicke kommt. Weil in den 1970ern dort der Horror ohnehin Teil des Alltags ist: Franco ist noch immer am Ruder, ein faschistisches Regime mitten in Europa. Eine Wunde, aus der man schöpfen kann, filmisch: Denn da ist noch eine andere Wunde, vielleicht fast verheilt, die man aber aufreißen kann – die spanische Inquisition, eine andere, lang vergangene Form autoritärer, gewalttätiger Repression. Ach, was nun aber, wenn diese üble Vergangenheit in die üble Gegenwart hineingreift? Da kann man sicherlich historico-soziologisch eine Menge aufarbeiten, was den spanischen Horrorfilm so besonders macht, diese irre Mischung aus nackigen Frauen und grausligen Untoten, diese katholischen Urgründe und die rot-rohe Blutrünstigkeit…

"Blutmesse für den Teufel" ist ein ziemlich treffender Titel – doch der Film beginnt im 15. Jahrhundert. Ein paar fackeltragende Reiter, ein Ochsengespann, ein Wagen mit Mann und Frau. Ein Baum, uralt, knorrig, und ein Urteil: Hexerei, Pakt mit dem Teufel, Bluttrinken, Kannibalismus – die beiden Delinquenten werden getötet. Ihm wird der Kopf abgeschlagen, der weit weg vom Körper begraben werden soll, sie wird verkehrt herum aufgehängt, nackt – das erste Mal Nacktheit in diesem Film. Vor der Exekution: Ein Fluch. Denn der Ankläger ist sein Bruder, der Henker dessen Freund, und diese beiden und ihre Nachkommen will der Verurteilte für alle Zeiten heimsuchen - - -

Jetztzeit. Zwei Pärchen. Bisschen Liebesgetingel. Und eine Séance, ach, da wackelt der Tisch, und das Medium, einealte Frau, die wie ein Medium aussieht, fällt fast in Ohnmacht, weil da dieser geisterhafte Kopf des alten Alaric durch die Luft schwebt… In dem haben wir längst Paul Naschy erkannt, der sonst so gerne den Wolfsmenschen Waldemar spielt: Hier aber in einer Doppelrolle, denn er spielt auch Hugo, den Nachfahren des verfluchten Bruders des Hexenmeisters, im heutigen Paris… Sein Freund Maurice übrigens – dessen Vorfahr wurde anno dunnemals auch verflucht. Jetzt ist er Maler, und er sieht immer nur in seinen kreativen Visionen dieses grässliche Gesicht des eifernden, geifernden Satanisten… Huch, was schreckliches Gemälde!

Man muss dem auf den Grund gehen, fährt in die tiefe Provinz, in die alte Heimat, wo Hugos Herrenhaus steht. Unterwegs Wegelagerer – offenbar sind wir trotz modernem Ambiente in einer mittelalterlichen Gesellschaft. Und Lynchjustiz: Die beiden Räuber werden von herbeieilenden Dorfbewohnern kurzerhand gehenkt – offenbar lebt die Grausamkeit der Inquisition weiter. Im Herrenhaus der Hausmeister und seine beiden hübschen jungen Töchter, ein bisschen verwirrt sich das Ganze jetzt mit diversen Liebesszenen, weil wenn man Frauen am Set hat, dann sollen sie sich auch ausziehen, sonst bringt das ja nichts. Zwischendurch gräbt man an einer Klosterruine nach dem abgeschlagenen Kopf von Alaric. Findet eine Kiste, die als Büchse der Pandora nur Leid bringt, wenn man sie öffnet. Was irgendwelche Dorfdeppen natürlich alsbald tun, weil sie darinnen Gold vermuten. Den Hausmeister kostet's das Leben, den beiden Dorfdeppen geht’s bald auch nicht mehr so gut, alle werden nonchalant im sumpfigen See versenkt. Leider sind jetzt Kopf und Körper wieder vereinigt, und der olle Graf hat ersteht auf und hat wieder telepathisch-hypnotische Macht. Hausmeisters Töchterchen in der Küche wird niedergemetzelt, während sie sich auch noch ausziehen muss. Und diverse Frauen werden entführt, was zu einem feinen Wiedererweckungsritual führt: In einem Sarg nämlich die Knochen von Old-Alarics Geliebter; darauf muss sich das lebendige Fleisch einer feschen Dame legen, die dann vom untoten Grafen betatscht und entkleidet wird, dann bestiegen, in einem Zeugungsakt wird das Leben von der einen in die skelettierte Andere gepumpt – schön und nackt steht die tote Geliebte auf, und nun geht’s auf Verführungs- und Tötungsfeldzug ins Dorf.

Inzwischen steht auch Maurice unter Alarics Bann, aber das weiß Hugo noch nicht; was sich kompliziert anhört, läuft auf einen dollen Punkt hinaus: Nachdem eines Abends die Zombies dem See entstiegen sind (jaja, Zombies gibt es auch, irgendwas muss man ja machen mit den Toten) und unsere Helden böse bedroht haben – eine Menge Möbel mussten brennen, um sie zu verscheuchen –, taucht der vermisste Maurice auf. Nun, am Morgen, wollen er und Hugo die Toten aus dem See holen und entzombieisieren. Aber oh Schreck: der böse gewordene Maurice erschießt seinen Freund Hugo! Ein Wechsel der Hauptperson im Stück, ganz plötzlich – und ja klar, das hat seinen Grund: Sowohl der gute Hugo als auch der böse Alaric: Das ist ja beides Paul Naschy. Und im Endkampf kann er ja wohl schlecht gegen sich selbst kämpfen, was? Soviel Tricktechnik kriegt man nicht hin, und nachdem sich ein paar weitere Fräuleins ausgezogen haben, weiß Maurice, der übrigens jetzt wieder zu den Guten gehört, wie er dem untoten Bösewicht beikommen kann: Im Brunnen dieses alte Amulett mit Thor-Runen (!), das kann Alaric samt Geliebter gar nicht ab. Und während es bei ihr genügt, ihr eine Silbernadel ins Herz zu stechen, muss Alaric, um ihn zu überwinden, das Amulett auf die Stirn gelegt werden. "Der Glaube ist auf unserer Seite!", weiß Maurice, weil er dem hypnotischen Bann entkommen ist. Zusammen mit Hugos Frauchen stellt er sich den Bösewichtern, Silberstift und Amulett bei der Hand, irgendwann sind ganz viele tot, aber die Bösen auch. Paul Naschy brennt. Und wir sind glücklich, dass Runen uns helfen gegen untote Satansmeister, und dass die Inquisition ganz im Sinne Lars von Triers recht hat mit all den Hexenverbrennungen.

Paul Naschy hat das Drehbuch – angeblich – in einer Nacht runtergehauen, unter dem Einfluss gewisser Substanzen. Das spricht mehr als alles andere dafür, dass sich hier etwas losbrechen musste, die tiefen Traumata, die hier miteinander vergoren und verpanscht werden – da ist der Volksseele etwas aufgebürdet, was sich nicht recht loswerden lässt und nun mit filmischem Popanz gebannt werden soll. Die Grausamkeit der Vergangenheit, die Gegenwart, die vergrausamt wird – womit wir zum nächsten Film kommen. Den vielleicht der eine oder die andere schon kennt. Weil er auch schon im Fernsehen lief.

Wobei nach wie vor unklar bleibt, wo denn die Pferde herkommen. Andererseits: Ritter ohne Pferde, das geht natürlich gar nicht! (Gruß an die Pythons zum 40. "Holy Grail"-Jubiläum!) Und um Ritter geht es hier natürlich, um Tempelritter, legendenumrankte Weltherrschaftsaspiranten, Großverschwörer, Machtansammler: Aus den Kreuzzügen kommen sie, um ihre Herrschaft durchzusetzen, eine Herrschaft, die noch bis ins Heute wirkt. Denn sie haben das Geheimnis ewigen Lebens entdeckt, Jungfrauenblut ist eine Hauptzutat, ewige Jugend ist aber nicht Teil des Ergebnisses… Und so steigen sie aus ihren Gräbern, jede Nacht ist die "Nacht der reitenden Leichen"!

In diesem Film geht es also ebenfalls und wiederum um die ins Zerstörerische gewendete Macht eines ewigen Katholizismus, einer immerwährenden, immer neu aufbrechenden Unterdrückungs- und Gewaltmaschinerie. In Form von Zombies natürlich. Zombies auf Pferden. Und es geht um eine rigide Sexualmoral, die allerlei innere Neurosen und Hemmnisse bewirkt, eine Moralstrenge, die total lebensfeindlich ist. Das wäre natürlich Anlass, Nackedeis zu zeigen, doch Amando de Ossorio versagt sich das weitgehend in seinem Film.

Obwohl er durchaus in Verführung hätte geraten können: Beginnt er doch in einem Schwimmbad, eine Schönheit unter der Dusche neben dem Becken, bevor sie eine alte Schulfreundin sieht, die sich in der Sonne räkelt… Beiden ist die Begegnung etwas unangenehm, unbehagliche Erinnerungen an das Früher scheinen irgendwie mitzuschwingen, die Unterhaltung zeigt frühere Verbundenheit ebenso wie oberflächliche Unverbindlichkeit, bis Roger auftritt, seines Zeichens Macker und Stecher und von sich überzeugt. Er ist der Freund von Virginia, der unschuldigen Dame, die hier von Bella angesprochen wurde: Virginia und Roger planen einen Kurzurlaub, auf Rogers Drängen kommt Bella mit, ein schiefes, unharmonisches Dreieck, wie sich herausstellt. Weil Virginia eher verhuscht ist, und Bella nicht mit ihren Reizen geizt, und Roger sowieso aufgeschlossen ist für alles. Und weil diese Rückblende das Früher zeigt, als Bella und Virginia in der Klosterschule ein Zimmer teilten, und als Bella Virginia zu verführen suchte… Auch dies recht zurückhaltend gefilmt übrigens, es ist wahrscheinlich noch der Frühzeit des Nacktheitskinos geschuldet, dass hier nicht allzu viel Haut zu sehen ist. Tut aber dem Film gut, denn der ist von erstaunlich hoher Qualität, was Spannung und Dramaturgie angeht – zumal damals, Anfang der 1970er, ja all die Stereotypen und Standards erst mal etabliert wurden, so dass dieser hier weniger epigonisch denn vorbildhaft erscheint; auch, wenn die meisten filmischen Situationen inzwischen nun auch schon etliche Male durchgekaut wurden.

Noch aber ist nichts passiert außer im zwischenmenschlichen Bereich: Bella, Virginia und Roger sind unterwegs per Bahn, und weil Roger heftig mit Bella anbandelt, und weil Virginia sich schämt ob ihrer früheren Bindung zu Bella, ein paar giftige Blicke, ein bisschen Schmollen, und hops packt sie sich ihr Reisetäschchen und springt aus dem Zug. Der Lokführer und der Heizer (jawohl: Dampflok! Gute alte Zeit…) sind besorgt – denn gerade sind sie an diesem Ruinendorf vorbeigefahren, das hinten in der Ferne von einem kleinen Berge dräut… Weil wir mitten im Nirgendwo sind, wandert die junge Dame in die Ruine, wo sie sich ein Nachtlager einrichtet. Und in der Nacht, da wackeln die Grabsteine, da trappelt es wie von tausend Pferdehufen, da brechen die Hände durch die Erde durch – zerfledderte, zerlumpte Gestalten machen sich auf, sie spüren jedem Geräusch nach: Später erfahren wir, dass sie blind sind, sie wurden durch Blendung gestraft, als der Templerorden aufgelöst wurde… Nach einer kurzen Jagd holen die Reiter das Fräulein ein, zu Pferde, auf freiem Feld, und sie stürzen sich auf sie…

Was natürlich die Polizei auf den Plan ruft. Eine Leiche auf dem Feld – das muss der Herr Kommissar am nächsten Morgen untersuchen. Aber natürlich ist nichts mehr zu finden… In der Leichenhalle dann wieder Bella und Roger, zur Identifizierung – und zur filmischen Einführung dieses Faktotums, so was wie der Hausmeister in der Pathologie, der mit sichtlicher Lust erstmal die falsche Leiche vorzeigt, haha, reingelegt! Der im Übrigen ein Fröschlein sein eigen nennt in einem Glas, in einem Käfig einen Vogel hat. Und nachts nicht merkt, wie hinter ihm sich das Leichentuch bewegt – das war's dann für ihn, Virginia ist wieder da. Und macht sich auch noch an Bellas Mitarbeiterin in deren Fabrik für Schaufensterpuppen her. Die liegt übrigens direkt neben einem Friedhof, was aber nichts zur Sache tut, denn das Grauen kommt aus dem Mittelalter. Die tote Virginia schleicht zwischen den Puppen umher, und wir lernen: Zombies brennen lichterloh.

Bella und Roger forschen nach. Ein alter Professor ist kurz angebunden, was seinen Sohn angeht, der ist nämlich Schmuggler und von daher prädestiniert für eine weitere Nacht in der Ruine. Zusammen mit seiner eifersüchtigen Freundin. Die fängt alsbald Streit mit Roger an, während Bella auf dem Templerfriedhof von dem Herrn Schmuggler vergewaltigt wird. Der ist nämlich dauergeil. Zumindest solange, bis wieder die Grabsteine wackeln…

Die Vergewaltigung macht Bella erstaunlich wenig aus, das liegt aber wohl eher daran, dass der Film jetzt zu einem Ende kommen soll. Und dass er jetzt schon ziemlich alles gesagt hat über unterdrückte, ausbrechende, begehrende und/oder gewalttätige Sexualität. Und natürlich über die Mittelalter-Monster, die wir in einer Rückblende eine blonde Maid zerbeißen sehen, im Rahmen des Ewiges-Leben-Rituals… Leben: Das ist halt ein kostbares Gut, der Heizer bemüht sich deshalb, die fliehende Bella zu retten, auf Kosten eines ganzen Zuges voller Menschenleben – ein schöner, abgründiger Schluss offeriert uns dieser Film, wie es nur die Großen unter den Horrorfilmen – Polanski mit tanzenden Vampiren oder Rosemarys Nachwuchs, Romero mit seinen Friedhofszombies wenige Jahre vor, Herzog/Kinskis Vampir einige Jahre nach den reitenden Leichen – zum Besten geben.


Harald Mühlbeyer

Filmkritik: "Spectre" (2015)

Big (Step-)Brother is watching you


Was für ein Anfang, was für eine Entwicklung von Bond: In der eleganten, ungeschnittenen Brian-De-Palma-artigen Eröffnungssequenz von "Spectre" gleitet Daniel Craig alias 007 behände wie eine Katze über Straßen, Flure, Dächer von Mexico City – als wären scheinbar zufällig in die Baulandschaft gesetzte Mauern, Winkel, Stüfchen nur für ihn gemacht. Dieser Bond ist elegant, nonchalant, smart, ein perfektes Chamäleon in seiner Umgebung, die er sich anverwandelt, unterordnet. Das totale Gegenteil zu Craigs Einstand als ungeschlachter Killer in "Casino Royale", wo er immer eine Spur ungelenker und berserkerhafter als ein "Parkour"-Artist selbigem hinterherhetzte und lieber alles brutal kaputtmachte, statt wie der Verfolgte die Umgebung als natürliche Hindernisse zu betrachten, die es geschickt zu überwinden galt. Von ähnlicher fließender Eleganz ist eine spätere Auto-Verfolgungsjagd in Rom, bei der fast nichts kaputtgeht und Bonds neuer Aston Martin wie ein Spielzeug für das Kind im Manne durch die engen Gässchen und am Tiber entlang – gleitet statt brettert. Dazu Gadgets, die nicht immer so wollen wie Bond und für eine komisch-verspielte Note sorgen (der Anti-Film ist insoweit "Goldeneye", in dem Bonds BMW keine Tricks aufbietet und reines Product Placement ist und in dem Pierce Brosnan stattdessen mit einem geklauten Panzer halb Sankt Petersburg in Schutt und Asche legt).

Man merkt, Bond hat was gelernt – aber Regisseur Sam Mendes nutzt dies in 
seinem zweiten Bond in Folge nicht etwa, um zu einem allzu verspielten Roger-Moore-Stil zurückzukehren, sondern um diesen Bond ausgerechnet da zu erwischen, wo er noch nicht so smart geworden ist: in seinem Kopf. Insoweit eine konsequente Entwicklung und ein stimmiges Aufeinandertreffen von Gegensätzen, die den Helden darum umso härter treffen. Dieser Mann, der scheinbar gelernt hat, alles mühelos zu bewältigen, der hat dennoch ein verbleibendes Riesenproblem. Und es gibt einen Superschurken, der sich dies zunutze macht: Ernst Stavro Blofeld, der jedoch zunächst nicht so heißt (Christoph Waltz). Nebenbei möchte dieser bewirken, dass sich die Geheimdienste von neun Nationen vernetzen, natürlich unter seiner Kontrolle. Bond-Filme waren schon immer gut darin, aktuelle Themen aufzugreifen (woraus sie dann gelegentlich herrlichen Blödsinn entwickelten, wie etwa bei "Der Mann mit dem goldenen Colt", der lose an die 1974er Ölkrise anknüpfte). Jetzt also die Gefahren von Big Data. Dass man zu einer stärkeren Geheimdienstvernetzung bereit ist, wenn in einem Land ein Anschlag passiert – da war dieser Film sogar aktueller, als er wissen konnte und als ihm lieb war. Aber keine Sorge: Weil Fiese und Gute, die wie bekloppt auf Computertastaturen um die Wette herumtippen, filmisch ziemlich unsexy sind, gibt es noch genug nichtvirtuelle, spektakuläre, teils herrlich bond-typisch hanebüchen-absurde und nicht immer ganz logische Action (nur ein Beispiel: Warum fliegt der Hubschrauber, den Bond am Ende mit einem Motorboot verfolgt, nicht einfach höher?). Mendes verknüpft dies geschickt mit seiner Geschichte einerseits und mit den Erwartungen an einen Bond andererseits, die es zu erfüllen, aber auch zu variieren und zu erweitern gilt. Dies ist ihm gelungen.
Blofeld möchte zum Big Brother werden, der den Menschen in ihr Innerstes schaut, und er malträtiert grad Bond eher psychisch als physisch, von dem er viel weiß, dessen Schwächen er kennt und nicht nur ausnutzt, sondern ganz gezielt einsetzt, um ihn seelisch zu quälen. Er möchte Big Brother sein und ist auch Big Stepbrother von Bond, in echt jetzt! Er hat ein Foltergerät. Das ist hübsch verspielt, hochfein und hochtechnologisch und nicht mehr so archaisch roh wie in der Folterszene aus "Casino Royale". Und es wird Bond nicht (wie in "Casino Royale", aber auch der Laserstrahl in "Goldfinger") in seiner Libido bedrohen, sondern sich im wahren und im übertragenen Sinne in seinen Kopf, sein Hirn, seine Erinnerungen, seine Vergangenheit, seine Seele bohren. Obwohl die Szene äußerlich viel weniger brutal als die Folterung in "Casino Royale" ist, schmerzt sie intensiv, ist aber auch von der kreativen Technikverliebtheit, die Bond-Schurken ureigen ist. Hier gelingt Mendes eine Verbindung aus Kult und Emotion auf höchstem Niveau.

Dies ist auch ansonsten der Fall, in einem durchstilisierten Film des stilbewusst inszenierenden Sam Mendes. Ich habe bei diesem längsten Bond, den es je gab, keine Minute Langeweile empfunden, zumal es auch in den ruhigeren Szenen viel Interessantes zu erzählen gibt (und wir froh sein können, dass das Dauerfeuer zu irrer Schnittgeschwindigkeit eines "Ein Quantum Trost" nicht wiederaufgegriffen wurde). Und Skurriles! Das kam bei Bond schon öfter vor, aber noch nie so gewagt und so souverän, wie hier die Zwiesprache Bonds mit einer Maus (!) die Lösung voranbringt (ganz nebenbei mag dies eine Hommage an eine zum Ärger von Billy Wilder nie gedrehte Zwiesprache mit einer Kakerlake aus "Das Goldene Tor", 1940, sein). Bond scheint schon etwas gaga, wenn er das Tier bedroht, als wäre es der Feind. Aber dies scheint mir nicht nur ein weiteres Zeichen für Bonds Verwundbarkeit, sondern auch ein Hinweis, dass nur leicht Verrückte in einer mehr als nur leicht verrückten Welt bestehen können.

Abgesehen von derartigen Extravaganzen löst sich Mendes nicht zu weit vom Gesetz der Serie. Da dürfen ein paar Anspielungen auf frühere Bonds gern vorkommen: Der mexikanische dia de las muertes erinnert an Rituale in New Orleans und auf San Monique ("Leben und sterben lassen"). Dass ein Hüne von Gegner seine schrecklichen Fähigkeiten zunächst vor Bond demonstriert, kennen wir aus "Goldfinger" (mit dem Kreissägenhut geköpfte Statue), "Leben und sterben lassen" (von der Stahlklaue zerquetschte Walther PPK) und "Octopussy" (mit der bloßen Hand zu Staub zerquetschte Backgammon-Würfel). Und natürlich vom "Beißer", der sich z.B. in "Der Spion, der mich liebte" mit Bond in einem Zug prügelte, was nun wieder aufgegriffen wurde (die Ur-Zug-Prügelszene findet sich aber in "Liebesgrüße aus Moskau"). Nach einem gefährlichen Abenteuer kommt Bond in einem Niemandsland an, in dem er schon vom Schurken erwartet wird – geradezu märchenhaft geschah dies in "Moonraker"; nun wird er märchenhaft elegant mit einem 1948er Rolls Royce mitten in der Wüste abgeholt. Mendes hat ein Gespür für "unmögliche Orte", die vielen Bonds eigen waren und oft aus Elementen bestehen, die eigentlich überhaupt nicht zusammenpassen. Blofeld bringt Bond dann zu einem kartographisch unauffindbaren Domizil, das z.T. als Krater getarnt ist – siehe "Man lebt nur zweimal".

Zu diesem Film wird es übrigens noch eine direkte inhaltliche Verbindung geben – erinnern Sie sich an die schreckliche Narbe, die die Maske damals Donald Pleasance alias Blofeld verpasst hatte? Hier erfahren wir, wie sie entstanden ist. Den zeitlichen Anachronismus seit "Casino Royale" führt Mendes konsequent fort: Alle Craig-Bonds spielen in der Jetzt-Zeit und bedienen sich modernster Accessoires und Technik – aber sie spielen auch in der Vergangenheit und erklären, wie Bond zu dem wurde, was er ist. Sie dringen weiter zu Bonds Wurzeln vor, so wie Blofeld mit und ohne Foltergerät in seinen Kopf eindringt.

Diesmal dringt man auch zu Blofelds Wurzeln vor, der bereits in mehreren Bonds der Superschurke war, bevor er in dem netten, aber auch etwas albernen "Diamantenfieber" eher unspektakulär ums Leben kam. Doch immerhin leitet er das weltweite Verbrecher- und Terrornetzwerk "Spectre", welches in nicht weniger als sechs alten Bond-Filmen immer gewaltigere Masterpläne schmiedete, bis Blofeld in "Diamantenfieber" die Welt zur totalen Abrüstung erpressen und selbst beherrschen wollte. Schon damals keine kleinen Brötchen – und wie monströs groß sie schon immer waren, können wir nun erfahren. Von äußerlichen Zitaten einmal abgesehen, baut Mendes auch die Geschichte auf früheren Bonds auf, vor allem auf denjenigen mit Daniel Craig. Auch dies ist stringent, weil diese Filme eine konsequente Entwicklung des ungeschliffenen Rohdiamanten Bond zeigen und teils inhaltlich stärker zusammenhängen als frühere Filme (vor allem die ersten beiden, "Casino Royale" und "Ein Quantum Trost", der erstmals in der Serie eine direkte Fortsetzung war). Es wird sich zeigen, dass Blofeld die heimlich lenkende Hand hinter allen Geschehnissen der drei Craig-Bonds war. Und da passierte Bond und mit Bond so einiges, was unter die Oberfläche ging. Beispielsweise war es in "Casino Royale" das erste Mal seit "Im Geheimdienst ihrer Majestät", dass ihm eine Frau wieder etwas bedeutete, nämlich Vesper Lynd. Und hinter dem für Bond-Puristen ungehörigen Satz "Die Schlampe ist tot" verbarg sich in Wirklichkeit ein tiefer Schmerz. Wir werden wieder von Vesper hören. Und Bond auch. Tiefen Schmerz zuzufügen, das versteht Blofeld, der zu einer wahrhaft unheimlichen und ungeheuer peinigenden Nemesis unseres Helden wird. Einer, die gerade wegen der ruhig-überlegt-überlegenen Art des optisch eher unscheinbaren Christoph Waltz umso beängstigender ist.

Was wird daraus werden? Ein Bruderzwist Shakespeare'schen Ausmaßes? Man darf gespannt sein: Weil Blofeld als späterer Blofeld in früheren Bonds auftaucht, ist klar, dass der Schurke diesmal nicht sterben wird. Nette Idee, ihn in Beamtenkorrektheit "gemäß des Gesetzes XY" verhaften zu lassen (liebe deutsche Synchronautoren: Es heißt "gemäß DEM Gesetz", nur mal nebenbei). So einem kommt man mit Beamtenkorrektheit natürlich nicht bei. Aber das wird der nächste Film erzählen.

Bei aller stilsicheren Brillanz zwischen Seriengesetz und Arthouse, bei allem Geschick in der Auswahl "unmöglicher" Orte und Settings, bei allen gewohnt spektakulären Actionszenen fallen jedoch zwei Dinge auf: Sam Mendes mag offensichtlich einen geringen Grad an Tiefenschärfe, und er tut sich immer noch etwas schwer mit der obligatorischen Erotik.
Ersteres führt dazu, dass oft auch Personen, die nur in geringer Entfernung zu einer anderen Person stehen und z.B. von hinten einen großen Teil des Bildes füllen, nicht scharf zu sehen sind. Kann man machen und entspricht auch dem Unvermögen des menschlichen Auges, alles gleichzeitig scharf zu sehen. Aber die Leinwand ist nun mal zweidimensional und verschafft dem Auge einen Gesamtüberblick, wie es ihn in der Realität nicht gibt. Anders gesagt: Man sieht dasjenige, worauf man sich in der Realität nicht konzentriert, nicht unscharf, sondern man sieht es gar nicht. Anders beim Blick auf die Kinoleinwand, weswegen ich Tiefenschärfe als Mittel zum besten Gesamtüberblick und zur Möglichkeit, sich selbst auszusuchen, was man fokussiert, lieber mag (nach André Bazin ist Tiefenschärfe daher der objektivste Filmblick, was Meister der Mise-en-scène wie William Wyler und Orson Welles gern genutzt, aber mit nicht neutralen Bild(kom)positionen kombiniert haben).
Letztlich lässt sich aber auch hiermit gut leben, außer in einer Szene: Da trifft Bond auf die schöne Lucia Sciarra (Monica Belluci), die er zur Witwe gemacht hat. Er geht auf sie zu. Aus seiner Sicht ist alles scharf. Aus der Gegensicht ist nur Lucia scharf, alles andere verschwimmt, und selbst als Bond schon genau hinter ihr steht, ist er noch leicht unscharf. Das Ganze ein paarmal im Schuss-Gegenschuss-Verfahren hin und her. Ein Mendes überlässt eigentlich nichts dem Zufall, aber hier ist mir schlicht nicht klar, was das soll. Mangelnde Tiefenschärfe ist gelegentlich ein Stilmittel, um das gestörte Verhältnis der Menschen zu ihrer Umgebung darzustellen, die vor ihren Augen verschwimmt – sie wirken isoliert. Und das könnte auf die Frau durchaus zutreffen. Aber warum dann nur "von einer Seite"? Vielleicht, weil Bond (der ja auch sonst mit seiner Umgebung verschmilzt, s.o.) sie klar sieht, aber Lucia noch derangiert ist, sodass Bond sich ihr zunächst kaum annähern kann? Rätsel bleiben, denn natürlich wird Bond schnell mehr als nur sich annähern: Er geht mit der guten Dame ins Bett, nachdem er seine Beschützersprüche geklopft hat.
Hier hatte ich den Eindruck, die Produzentin hätte Mendes irgendwann mal gesteckt, dass Bond pro Film nicht nur eine einzige Frau flachlegen darf, und der Mann hat das dann pflichtschuldig statt leidenschaftlich abgedreht. Die geheimnisvolle Frau "mit Vergangenheit" (zum Glück sieht Belluci sehr schön, aber kein bisschen jünger aus, als sie ist), die Verbindung mit dem Bösen und der Flirt mit dem Guten – eigentlich Standardzutaten. Aber Mendes interessiert mehr das "Davor" als das "Währenddessen" – und das "Danach" schon gar nicht: Lucia verschwindet einfach aus der Geschichte. Sie hat ein kurzes Gastspiel, und der Film interessiert sich nicht sonderlich für sie. Schade! Ein unmotivierter Einschub, fast ein Fremdkörper im Film. Léa Seydoux alias Madeleine Swann hat es da schon besser, und man merkt, dass Bond sie nicht nur anziehend findet, sondern dass so etwas wie Liebe zwischen den beiden entsteht. Bemerkenswerterweise lässt sie ihn – zunächst – nicht an sich heran, jetzt wo er wirklich will und nicht mal eben, wie in der Eröffnungssequenz, eine Frau, die er sofort haben kann, stehen lässt, "Ich muss nur mal kurz die Welt retten". Hier zahlt sich die Erotikverweigerung einmal aus. Zumal es nicht bei ihr bleiben wird…


Fazit: Bis auf sehr kleine Ausnahmen stimmt alles. Stringente Handlung und Entwicklung, wobei Bonds neue und konsequent weiter geführte Ernsthaftigkeit nicht allzu bleischwer auf dem ganzen Film lastet. Das ist ein echter Bond mit Neuem, aber auch mit allem Alten, was dazugehört, inklusive der obligatorischen humorvollen Einzeiler, aber ohne Klamauk. Und mit einer interessanten Weiterentwicklung von Moneypenny und Q sowie einem neuen M, in dessen Rolle Ralph Fiennes uns lange erhalten bleiben möge. Bond hat seit 1962 viele Gesichter gehabt und viele Erwartungshaltungen geweckt. "Spectre" hat das Potenzial, sie alle zu erfüllen.

Tonio Klein


"Spectre", Großbritannien/USA 2015
Regie: Sam Mendes
Drehbuch: John Logan, Neal Purvis, Robert Wade, Jez Butterworth
Kamera: Hoyte van Hoytema
Musik: Thomas Newman
Produktion: Barbara Broccoli, Michael G. Wilson
Darsteller: Daniel Craig (James Bond), Christoph Waltz (Blofeld), Léa Seydoux (Madeleine Swann), Andrew Scott (Max Debigh, "C") Ralph Fiennes (M), Ben Wishaw (Q), Naomie Harris (Eve Moneypenny), Monica Bellucci (Lucia Sciarra)
Länge: 148 Minuten
Verleih: Sony
Kinostart: 5. November 2015

Alle Abbildungen (c) Sony Pictures


Grindhouse-Nachlese September 2015: Westliche und östliche Kriege

Samstag, 26. September 2015, Grindhouse-Doppelnacht im Mannheimer Cinema Quadrat:

"Der Mann mit der Stahlkralle" / "Rolling Thunder", Regie: John Flynn, USA 1977.

"Das Todeslied des Shaolin" / "Shen quan da zhan kuai qiang shou", Regie: Yu Wang, Hongkong 1977.


Man hat ein bisschen ein Problem, wenn man in Zeitnot ist. Und erst Wochen später dazu kommt, die stets wunderbaren und heftigst inspirierenden Grindhouse-Nächte schreiberisch zu würdigen. "Das Todeslied des Shaolin", der zweite Film des Abends: Das ist halt so ein Eastern, und da hab ich sowieso eine Schwierigkeit, die ihm Gedächtnis zu behalten. Kämpfe in verschiedenen Martial-Arts-Arten, die ich nicht kenne; Geschichten in einer Kultur, in der ich nicht heimisch bin, vor einer Historie, über die ich kaum Bescheid weiß; Gesichter mit Schlitzaugen, die ich nicht auseinanderhalten kann (alter Rassist, der ich bin)…

Jetzt hat aber das Shaolin-Todeslied durchaus ein paar Momente, die so cool sind, dass sie im Gedächtnis bleiben. Das Setting: Im japanisch-chinesischen Krieg, es gibt Eisenbahnen und Maschinengewehre – wenn auch etwas seltsam geformte, mit einer Menge Gewehrläufen, die vor sich hin ballern –, und dann aber gibt es diese archaische Welt der so ehren- wie mannhaften Einzelkämpfer, die in guter alter Kung-Fu-Tradition für das kämpfen, wovon sie überzeugt sind; einfach, weil sie Helden sind. So auch der von Regisseur Yu Wang persönlich gespielte Hauptprotagonist, der Meister in allen Kampfeskünsten ist. Mit der kleinen Einschränkung, dass Yu Wang selbst keineswegs Kampfsportmeister war, sondern Schwimmwettkämpfer; und dass deshalb bei ihm ein besonderer Wert auf das Posen gelegt wird, auf die großspurige körperliche Aktion, die vielleicht nach Maßgaben der Wirklichkeit nicht richtig effektiv ist, aber dafür super aussieht. Mit geschickten Filmschnitten kommen wir hin zum Martial-Arts-Artisten.

Er kann Wände hochlaufen, senkrecht, wenn er herausgefordert ist. Kann gegen magische Kämpfer angehen, gegen Pistolenschützen, die schneller schießen als ihr Salat. Hat tausend Tricks drauf – beispielsweise bei besagtem Gunman, der eine kleine Referenz des Hongkong- an das Westernkino ist, dem er einen Gänsestall voll aufblasbarer Puppen hinstellt, um eine Art "Lady von Shanghai"-Effekt zu erzielen, nicht mit Spiegeln, sondern mit Atavaren seiner selbst. Wenn auf die geschossen wird, pufft die Luft raus, und der Revolverheld ist dann eben der Gelackmeierte. Auch – und das ist ein besonders schöner Einfall – bekommt es unser Held mit Kung-Fu-Zombies zu tun, denn die Feinde des chinesischen Reiches kennen kein Pardon, wenn es darum geht, die Heimat an die japanischen Invasoren zu verraten. Zombies, die mittels nächtlichen Ritualen aus ihren Gräbern heraufbeschworen werden, das ist natürlich besonders perfide, weil ihnen die herkömmliche Kampfkunst nichts anhaben kann. Nur Dynamit, zufällig im Handgepäck, kann da helfen.

Zwischendurch – damit der Film erstens nicht langweilig, zweitens nicht zu kurz wird – gibt es eine länger Erzählung in der Erzählung, die eigentlich nichts mit dem Rest zu tun hat: Eine Geschichte von einem Todesturnier, in dem in diversen Duellen diverse Kämpfer bis zum Tod gegeneinander antreten. Clou ist, dass der letzte Sieger, also der einzige Überlebende, der sein soll, der Yu Wang entgegentreten wird im Sinne der projapanischen Intrige wider den Kaiser von China. Da haben wir den schon genannten Pistolenschützen (ha!: gespoilert, wer der Sieger wird!), einen mit einer explodierenden Kugel an einer Kette, Messerwerfer, Lanzen und Sensen und einer mit scharfen Metallkrallen in den Händen.

Aber, wie gesagt: Von all dem weiß ich kaum mehr etwas. Viel mehr im Gedächtnis blieb der erste Film des Abends.

Und wenn man zunächst nichts von ihm weiß, dann ist er irgendwie noch cooler. "Rolling Thunder" – man weiß noch nicht, dass der deutsche Titel "Der Mann mit der Stahlkralle" lautet, und man kennt auch das Produktionsjahr nicht. Man sieht: 70er Jahre, Heimkehrer aus Vietnam. Und man liest: Drehbuch Paul Schrader. Boah: Eine Blaupause für "Taxi Driver" – wir erleben, wie sich Major Charles Rane nicht zurechtfindet in der Gesellschaft, in die er nach Jahren von Vietcong-Gefangenschaft heimgekehrt ist. Die Ehefrau: nett, zuvorkommend, und ganz bestimmt in ihrer Aussage, dass sie inzwischen mit dem netten Herrn Polizisten eine gewisse Freundschaft geschlossen hat. Dieser Hausfreund versucht sich anzubiedern, im Schuppen, in dem Rane vor sich hinbrütet, und er kann dabei gar nicht ab, wenn Rane tatsächlich und handgreiflich von seinen alptraumhaften Erlebnissen von Folter und Sadismus berichtet. Eine nette, blonde, freizügig aufgeschlossene junge Dame hat in den Jahren seiner Abwesenheit eine groupiehafte Obsession entwickelt, doch ist sie bereit, mit Rane enger und länger zusammenzusein?

In seinem Schuppen hat Rane einige Jagdwaffen hängen, eine ganze Menge Pistolen, wir befinden uns schließlich in den Südstaaten – das Schießen und das Baseball sind die Grundlagen, auf denen er die Bekanntschaft mit seinem Sohn erneuern will, der vor Jahren, als Einjähriger, den Vater gen Dschungel verabschiedet hat. Doch wie kann ein neues Leben, ein neues Miteinander aussehen, wenn man innerlich zerstört ist, wenn der Mitmensch stets der Feind war, jahrelang?

William Devane, der die Hauptfigur darstellt, hat das All-American-Face. Ein stets sehr selbstbewusstes, zupackendes Lächeln umspielt seine Lippen, die Falten in seinem Gesicht sprechen von größtem Optimismus, gelebter Pursuit of Happiness, der ganze Mann eine einzige manifest destiny. Blitzend weiße Zähne, gesund gebräunte Haut, volles Haupthaar, ein zupackender Körper – den kann nichts erschüttern. Äußerlich. Doch wenn es dann zum Schlimmsten kommt – dann wird irgendwo auch klar, dass er dieses Schlimmste ohnehin schon längst hinter sich hat, dass jede Katastrophe wie ein zartes Streicheln für ihn ist. Wenn alles verloren ist, ist eh alles wurscht. Und wenn dann drei barbarische, verrohte Fuzzis in sein Heim eindringen, weil er ein paar Goldmünzen bekommen hat als Auszeichnung für seine heldenhaften Dienste fürs Vaterland – die darin bestanden, die Hölle zu überleben: Dann schweigt er. Wo das Gold ist? Er spricht nicht. Das hat er sich in Vietnam angewöhnt. Keinen Schmerz, keine Regung zeigen. Auch nicht, wenn die Hand in den Müllzerkleinerer im Abfluss der Spüle gesteckt wird. Erst, wenn Frau und Sohn – das einzig geliebte Wesen! – als Geiseln in die Hände der Banditen fallen: Dann redet er. Vergeblich. Die Familie wird erschossen. Er auch. Aber er überlebt, weil er das Überleben gewohnt ist, weil das das einzige ist, was er kann.

Und er hat zwar seine Familie schon lange vorher verloren. Und er hat sich zwar nie etwas aus dem Gold gemacht. Und er hat statt einer Hand nur einen blutigen Stumpf. Aber er hat jetzt auch etwas zu tun. Weil ein solches Verbrechen nicht ungesühnt bleiben darf. Und weil die Aktion das einzige ist, was ihn von einem Toten unterscheidet. Er handelt. Und schärft sich am Schleifstein den Metallhaken, der ihm als Handprothese dient (eine Metallkralle – das hört sich – siehe deutscher Verleihtitel – weit reißerischer an, als es der Film tatsächlich präsentiert). Lädt Linda, sein Groupie, ein zu einer Spritztour. Und fährt nach Mexiko, auf den Spuren der Gangster.

Es geht dabei nicht um die tote Frau. Und nur bedingt um den toten Sohn. Es geht darum, etwas zu tun, egal was, das einigermaßen Sinn ergibt. Und dieser Sinn: Das ist aus Ermangelung jeder Empathie für die Menschen, aus Ermangelung jeder Fähigkeit, sich wiedereinzufinden in die Menschheit, die archaische Formel, Rache zu nehmen. Da wird der Hand-Haken in Hände gerammt, um den Aufenthaltsort der Gangster herauszufinden; es geht über die Grenze und wieder zurück, eine Verfolgungsjagd durch eine Rinderfarm mit all den kleinen Ställen; Linda wird immer wieder als Lockvogel eingesetzt, und rohe Gewalt ist die Sprache, die auch mexikanische Angreifer verstehen. In einem großen, altehrwürdigen, verfallenen Farmhaus wird er beschossen, doch er behält die Oberhand. Und als die Spur nach El Paso führt, ist klar, wer helfen kann: Tommy Lee Jones (in den Anfängen seiner Karriere), sein Mit-Leidender aus Good Old ’Nam, dem er nicht als Offizier, sondern als Freund im Leid begegnet. Der bei seiner Familie sitzt, ohne Regung, bis Rane auftaucht. Und dieses Blitzen in den Augen. Und dieses Lächeln in seinen Mundwinkeln. Und diese Bereitschaft zu handeln. Endlich wieder etwas zu tun! Endlich wieder lebendig sein! Und wenn es durch ein Himmelfahrtskommando in die Höhle des Löwen ist, sprich: durch einen bewaffneten Angriff auf ein Hurenhaus, wo die Bösewichter ihr Hauptquartier haben.

Massaker im Bordell – kommt einem bekannt vor? Nein: Dies ist keine "Taxi Driver"-Vorstudie, sondern ein Abklatsch. "Rolling Thunder" stammt von 1977, ein Jahr nach Travis Bickle geht Major Rane auf seinen Feldzug. Ein Vietnamveteran nach dem Vietnamveteran, der den Vietnamveteranen überhaupt definierte. Aber vielleicht muss man es anders sehen: Als Schrader den "Taxi Driver" schrieb, hat er nur geübt. Major Rane ist kein paranoider Verrückter, der tapsigerweise beim Date ins Pornokino ausführt, der ziellose Aggressionen in sich spürt, die sich dann eher zufällig in der "Rettungsaktion" für die minderjährige Jodie Foster entlädt. Rane weiß genau, was er will. Wohin er geht. Und er weiß, warum: Weil ihm nichts sonst bleibt im Leben. Wo Bickle eine Zeitbombe ist, die jederzeit und an jedem Ort explodieren kann, hat Rane seinen Zünder sehr genau eingestellt. Es geht bei seinem Feldzug freilich nicht darum, Gerechtigkeit herzustellen. Oder Rache für Frau und Sohn zu nehmen. Es geht darum, das zu tun, was sich richtig anfühlt. In seinem Fall: Killer killen. Hätte aber auch ganz anders laufen können: Könnte sich auch gegen all die nervigen rechtschaffenen Bürger richten, die ihn betütteln, wie es kein Mann aushalten kann. Wenn man den Film sieht, wird irgendwo klar: Dass sich die zielgerichtete Aggression gegen Bösewichter richtet, ist eher Zufall. Und Glück für alle anderen im Film. Posttraumatische Belastungsstörung – wie man das ja so schön in Schubladen steckt –: Die lässt sich nicht kanalisieren. Sie bricht aus. Ob mit Paranoia und Psychopathie – siehe Bickle – oder eben ohne.


Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2015: Retrospektive Christopher Petit – "Chinese Boxes" (1984)

Will Patton, der ein Amerikaner in Berlin spielt, hört im Autoradio einen Deutschkurs. Ein Wagen versucht ihn abzudrängen, ein Soldat schießt auf seine Reifen – ein paar schnelle Schnitte, aber den Unfall selbst sehen wir nicht. Später im Film: Patton ist mit Adelheid Arndt unterwegs, schnell, auf der Flucht, über Landstraßen – Schnitt: Ein anderes Auto biegt auf einen Wohnwagenparkplatz ein, kurz sind wir irritiert: sind das jetzt diesselben? – nein, sind sie nicht, eine Szene mit Gottfried John und Robbie Coltrane schließt sich an; und erst danach schalten wir wieder um zu Patton, der nun in einem überschlagenen Auto sitzt, kopfüber, die beiden können sich mit einigem Gewurschtel befreien. Der Unfall selbst wurde nicht gezeigt. Noch später: Patton und Arndt sind umstellt von vier, fünf Bösewichtern, die erfahren wollen, wo Gottfried John ist. Ein Betonboden-Halle, so etwas wie ein Maschinenraum ohne Maschinen, weiter oben, hinter einem Geländer: Da ist John mit seiner kleinen, feinen Pistole, er feuert ein paar Schüsse ab. Schüsse, deren Konsequenzen wir nicht sehen. Erstmal ein Dialog zwischen John und Patton, und erst, als letzterer niedergeschlagen wird und zu Boden geht, sehen wir in einem Top Shot die erschossenen Gangster.

Mit "Chinese Boxes" drehte Christopher Petit einen Actionfilm, in dem er die Action konsequent
rausschneidet. Das ist einerseits dem Mangel an Geld geschuldet; andererseits aber – insbesondere, wenn man die vorherigen drei Spielfilme Petits gesehen hat – ein Kennzeichen seiner inszenatorischen Entwicklung, seines kinematographischen Willens: Nicht das tun, was erwartet wird. Die Handlung bis aufs Äußerste ausreizen, um dann die Höhepunkte einfach wegzulassen. Die Erwartungen lustvoll durchkreuzen, das Übliche ignorieren, die Dramaturgie kicken. "Chinese Boxes" ist eine Art Agententhriller, mit Agenten, aber ohne herkömmlichen Thrill – so, wie "Flight to Berlin" ein Kriminaldrama war, in dem weder Kriminalfall noch Drama sich zu einer kohärenten Spannung finden sollten, so, wie "An Unsuitable Job for a Woman" ein Whodunnit war, bei dem es wurscht ist, wer es denn nun war (und wer was war); so, wie das Debüt "Radio On" ohnehin Handlung zugunsten von Atmosphäre austauschte. Seine Protagonisten befänden sich in einer "mental departure lounge", erklärte Petit. Figuren im Transit, im Übergang, mit einer Handlung, die lediglich als Katalysator fungiert, der beschleunigt, ohne Teil des Endprodukts zu sein; mit einer Handlung, die nur der Form nach, nur in ihrer reinen Funktion genommen wird, um letztendlich keine Konsequenzen zu haben.

"Chinese Boxes": Hier steckt Patton in Berlin fest, sein Kumpel Gottfried John ist Kneipenwirt und der Mann für alle Fälle. Beispielsweise den Fall, dass im Pattons Wohnung eine durchgeknallte minderjährige Junkie-Teenagerin sich einnistet und schließlich tot im Badezimmer liegt. Sie hatte offenbar für den alten Bekannten Frank gearbeitet – oder arbeiten wollen; der ist inzwischen – vor der Filmhandlung – auch schon tot, ein Drogendealer größeren Ausmaßes, nervig, weil deshalb immer wieder die Polizei bei Patton auf der Matte steht. Mit einer Toten auf dem Badboden ist aber erstmal die Kacke am Dampfen, Gottfried John will sich kümmern, doch die Polizei – bzw. der Zoll – bzw. wohl eher die CIA greift Patton auf. Er soll als Lockvogel für ein paar Gangster herhalten, auf einem Müllplatz, dort aber Schießerei. Wer zu ihm hält, ist Adelheid Arndt, die Deutsche, die eigentlich an Gottfried Johns Seite stand – doch wo der steht, weiß keiner mehr genau, um was es eigentlich geht, auch nicht. Um mit Christopher Petit zu sprechen: "Unverständlicher Plot, weitere sinnlose Intrigen, Jukebox-Romantik, Drogen aus dem Osten, Kinde als Drogenschmuggler, ein schottischer Darsteller, der einen US-Agenten gibt. Ich wollte etwas richtig Billiges machen, wie ein Fassbinder auf Ketamintrip, gleichzeitig glaubwürdig und unglaubwürdig, gut und böse, und zwar mehr noch als in jedem B-Movie, schnell gedreht."

Als Co-Autor wurde L. M. Kit Carson hinzugezogen, "to polish the dialogue", wie Petit süffisant bemerkt, sprich: Um irgendwo Struktur reinzubringen, tatsächlich, um – wie Petit es sieht – um die Vision des Regisseurs zu entschärfen. Immerhin für einen Monolog gibt Petit Carson credit: Frühlingszeit in Berlin, auftauen der Beziehungen zwischen Ost und West, Anbahnung einer möglichen Wiedervereinigung: da sind die einschlägigen Dienste erstmal und im Vorfeld damit beschäftigt, all die Gangster aus Ost und West zusammenzuführen, erstmal die verschiedenen Unterwelt-Kulturen wiedervereinigen, denn wenn die Gangster zusammen auf einem Haufen sind, dann lassen sie sich kontrollieren, auch wegputzen. Das ist so etwas wie der Hintergrund der ganzen Story – wird aber erst gegen Ende aufgedeckt, und ist zu diesem Zeitpunkt auch schon egal. Als Gedanke aber natürlich nicht schlecht… Carson hatte zuvor bei Wenders' "Paris Texas" mitgearbeitet, sein nächstes Drehbuch sollte "Texas Chainsaw Massacre 2" werden… Chris Sievernich, ebenfalls von Wenders kommend, produzierte Petits beide Berlin Filme – "Flight to Berlin" und "Chinese Boxes", im Gegenzug hatte Petit für Sievernich den Kontakt zu Channel 4 hergestellt, zur Finanzierung von "Paris Texas" – die Story hinter dem Film ist fast so verworren wie die im Film; weil Petit als Cutter nicht Peter Przygodda bekam, der nämlich an "Paris Texas" arbeitete, nahm er dessen Lehrmeister Alfred Srp – und Przygodda bewunderte dessen Arbeit an "Chinese Boxes": Der macht alles falsch – das ist perfekt! Wie Petit erklärt: Srp schneidet im Dialog nicht am Ende eines Wortes oder in einem langen Vokal, sondern im möglichst unbetonten Konsonant – wahrscheinlich, um seinem Nachnamen Ehre zu geben.

Ja, es ist alles falsch in "Chinese Boxes", und das macht den Film so faszinierend: Eine Quatsch-Story, "but the actors looked as if they believed it", so Petit zufrieden. Es war dies einer seiner letzten Spielfilme – ein Miss Marple-TV-Krimi folgte noch 1988, der aus rechtlichen Gründen auf der Hofer Retrospektive nicht lief –; was folgte, war eine Phase von Dokus, die dann ins Experimentale von Audio- und Videoinstallationen überging.

Die titelgebenden chinesischen Schachteln haben natürlich nur in ihrer Verschachtelung, im Ineinander von immer kleineren Boxes etwas mit der verwirrenden Handlung zu tun; ansonsten taucht eben immer wieder dieses kleine metallene Kästchen auf, das der CIA (oder Zoll)-Agent in einen Gipsarm reinbandagieren ließ, mit dem Patton eine Zeitlang herumlaufen muss. Darin, im inneren Kern, nach chinesischer Tradition das Abbild des Erzfeindes. Dreimal dürfen sie raten, wer das ist in diesem Film.



Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2015: Retrospektive Christopher Petit – "Flight to Berlin" (1984)

Eine Frau im Polizeiverhör; sie Britin, die Polizisten Deutsche, aufgegriffen wurde sie, weil sie einen Koffer in Berlin hatte – und zwar im falschen Zimmer, da, wo ein bekannter Verbrecher wohnt. Warum? Eine Frage, die nicht zu beantworten ist; nicht von dieser Frau.

Rückblende. Ankunft im Flugzeug. Eine getriebene Frau. Hinter ihr sitzt Eddie Constantine, der am
Flughafen von einer schmierigen Gestalt abgeholt wird, die wir später als Edouard kennenlernen sollen. "Berlin ist magisch, mysteriös", schwärmt Constantine, den wir dann für eine Weile aus dem Auge verlieren. Weil wir der Frau folgen. Einer Frau, die verfolgt wird. Die hier in Berlin Zuflucht sucht – Christopher Petit spielt mit dem Titel "Flight to Berlin" schön mit der Dreifachbedeutung von "flight", als Flug, als Flucht, als "flight of stairs", Treppenflucht – das nämlich ist die Ursache, dass Susannah ihre Heimat, ihren Ehemann verlassen hat. "Sie hat sich mir in die Arme geworfen, als würde sie mir die Schuld an ihrem ganzen Leben geben", ein Satz aus dem Voice Over, der lange rätselhaft bleibt – jedenfalls ist Susannah voll Schuldgefühl, gesucht von der britischen Polizei, hier in Berlin untergetaucht. "Ich hätte mich mehr gegen Veränderungen am Script wehren sollen  (z.B. Voiceover), denn mehr, als dass eine Frau wegläuft, braucht man nicht zu wissen", so Christopher Petit im Hofer Filmtage-Katalog. Dieses Weglaufen, diese reine Flucht ohne Ursprung und ohne Ziel, garniert Petit in diesem Film mit allerlei Intrigen, mit Beobachten, mit Wissen und Ahnen, aber das, wie auch sonst, ebenfalls ohne Ursprung und Ziel.

Susannah hat eine Schwester in Berlin, Julia – Lisa Kreuzer, die schon im Erstling "Radio On" zu sehen war –, sie sind nicht zusammen aufgewachsen und müssen nun zusammenfinden. Fotographie ist deren Beruf, eine bizarre Begegnung mit einer alternden Diva in ausladendem Pelz, die sich eitel fotographieren lässt, ist eine der Episoden des Films. Szenen (und Fotos) im Park erinnern an Antonionis "Blow Up", im Hintergrund dieser Mann in geschniegeltem Anzug und in weißen Schuhen… Er ist mit Julia, der Schwester, undurchsichtig verbunden, bandelt mit Susannah an, die sich freilich Marianne nennt, wird ihr Lover, ein alerter, eleganter Kerl mit einnehmendem und nicht unbedrohlichem Charme. Der auch was mit Edouard zu tun hat, diesem unangenehmen Zeitgenossen. Der sich in ein Hotelzimmer gegenüber von Susannah einquartiert, der seine Strangulation simuliert, um sie zu sich rüberzulocken – in Wirklichkeit hat er nur ganz unschuldig seine Wäsche an der Zimmerlampe aufgehängt –, der sich einen Knopf vom Anzug abschneidet, damit Susannah in sich annäht, und der ihr dann Angebote macht, sich aus der Schlinge der Verfolgung zu ziehen, sich auch in ihre Arme wirft – damit nämlich die Schwester Julia, die das mehr oder weniger zufällig mitansieht, ein falsches Bild von der Szene bekommt… Ein komplexes Geflecht von Beobachten, Vortäuschen, Missverständnis baut der Film auf, spielt auch mit dem Motiv des Sehens, durch die Fotos, durch die gespiegelte Sonnenbrille ("Siehst du mich an, oder bewunderst du nur dich selbst?"), durch das schwindende Augenlicht von Ehemann Nicholas, der irgendwann auch ankommt – gespielt von Paul Freeman, den wir aus "An Unsuitable Job for a Woman" kennen…

Doch durchsichtig, durchschaubar ist hier nichts. Wer in welcher Beziehung zu wem steht – das löst sich zwar am Ende auf, erklärt aber nichts und ist eigentlich auch wurscht. Eine Begegnung mit Eddie Constantine gibt es, vergleichbar mit dem Fuller-Auftritt bei Fritz Lang, in der Eddie als er selbst von seinen Filmabenteuern spricht, davon, wie er die Mädchen aus der Not rettet. Er gibt Tipps: "Roll with the punches" – dreh deinen Kopf mit den Schlägen mit, und "keep a moving target".

Petit erzählt sein Intrigenspiel, als spiele die Intrige keine Rolle, zumindest nicht ihre Auflösung: es reicht die Magie, das Mysteriöse. Dazwischen bizarre Szenen: Ein aufgebrachter Gang Susannahs durch die Stadt ist mit allerlei Zwischenfällen im Hintergrund begleitet, ein Autounfall mit schimpfenden Fahrern, eine Frau, die über den Bürgersteig einem Kind nachrennt, dann fällt noch ein Fahrrad um – eine schöne kleine Choreographie, ebenso wie die Szene, in der sich Susannah und Edouard begegnen, er hat sein Auto quer über den Bürgersteig gestellt, stellt sie nun und will sie mitnehmen, im Hintergrund ein Asiate mit riesigem Stadtplan, der den Weg zur Potsdamer Straße sucht…

Schließlich eine Party bei Julia, auf der sich alle Protagonisten begegnen. Begegnung – aber keine Beziehung; Geschehen, aber keine Handlung. Susannah flieht, wird von der Polizei aufgegriffen. Dann öffnet sich die Zellentür, "you're free to go." – "Einfach so?" Ja. Einfach so.



Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2015: Retrospektive Christopher Petit – "An Unsuitable Job for a Woman" (1982)

Christopher Petits zweiter Spielfilm "An Unsuitable Job for a Woman" ist das ziemliche Gegenteil "Radio On". In diesem Erstling ging es ihm um die Vermeidung von Handlung, um ein Ignorieren von Kohärenz, es ging um Atmosphäre, um das Erzeugen einer Stimmung entlang der Musik – und entlang der Charaktere, die voll ausgeformt, aber niemals ausformuliert sind und damit stets geheimnisvoll bleiben. "Unsuitable Job" – da war das Filmteam plötzlich nicht mehr nur zwölf Leute groß, sondern Petit arbeitete mit einer kompletten Crew. Und es zogen nicht alle an einem Strang für das große Ziel, sondern es wurden die, wie soll man sagen, Partikularinteressen spürbar. Die Produktion – fünf Produzenten! – forderte, trotz "professionellem" Budget kostengünstig zu drehen; der eigentlich vorgesehene Drehort karger Moorebenen wurde zugunsten des Londoner Umlands aufgegeben, damit keine Übernachtungskosten entstehen. Das Landhaus wurde vom Ausstatter weitgehend nach dessen und nicht nach des Regisseurs Vorstellungen dekoriert; überhaupt ist der Film nicht so geworden, wie ihn Petit sich gewünscht und erhofft hätte: "Wie man so sagt: Der Regisseur verlor das Interesse", schreibt Petit in seinem Text im Hofer Programmheft.
von

Und nicht nur die Produktionsbedingungen waren komplementär zu "Radio On" : "An Unsuitable Job for a Woman" ist ein Krimi, plotgetrieben, mit Charaktere, die Funktionen zu erfüllen haben, mit einer Handlung, die zu einem Ziel zu führen hat. Und: "Unsuitable Job" ist in Farbe gedreht.
Und was für eine Farbe! Martin Schäfer – häufiger Kameramann für Petit – setzt auf die Leuchtkraft von Licht und Schatten, setzt Farben expressiv ein – Sonnenuntergang, oder graue Düsternis, oder Blickführungen durch Buntheit. Vor allem aber setzt Schäfer eine Beleuchtung wie im Film noir ein, harte Kontraste, Schatten auf Gesichtern, auch verkantete Kameraeinstellungen – und das aber eben nicht in schwarz-weiß, und ja: Das sieht ausgesprochen supersuper aus!

Die Handlung, entlang eines Romans von P. D. James: Eine junge Frau übernimmt einen Privatdetektivjob, nachdem ihr Boss (oder Partner) sich umgebracht hat. Für einen reichen Bonzen soll sie die Umstände am Suizid von dessen Sohn erforschen, nein: keine Zweifel an der Todesursache selbst, aber Wissbegierde an den Umständen, die zum Lebensüberdruss führten. Lange Entfremdung zwischen Papa und Sohnemann, der nicht in die Fußstapfen des Vaters mit seiner Baufirma und seinem Schloss und seinen Millionen treten wollte. Welchen Umgang hatte er, wie lebte er, warum starb er? Mit dabei: eine strenge, feindselige Haushälterin, und ein smarter Ersatzsohn, den sich der Papa schon seit langem als rechte Hand anerzogen hat. Mittenmang drin: Elizabeth, die Ermittlerin. Die freilich die Vorgehensweise aus dem Eff-Eff kennt, die aber vor allem überrascht ist, wie jung und hübsch dieser tote Junge ist, den sie nun stellvertretend für den Vater und posthum kennenlernen soll. Hach, sie fühlt sich zu ihm hingezogen – einer der ziemlich albernen Pfade des Drehbuchs, das an sich sehr straight seine Detektivgeschichte erzählt: Das Emotionale, das der an sich so professionellen Ermittlerin im Wege steht, ist ziemlich ausgelutscht als filmisches Klischee; rechtfertigt aber immerhin den Filmtitel.
In einem Cottage hat der Sohnemann gelebt, im Garten lauter laute Kinder, die Vermieterin eine griesgrämige, bösartige Alte. Der Haken an der Decke, wo sich Mark erhängt hat: Da baumelt irgendwann eine strohene Puppe, ein böser Streich für die Ermittlerin. Ein Gebetsbuch spielt eine Rolle, das die lange schon verstorbene Mutter ihrem Sohn zu dessen 21. Geburtstag hat überreichen lassen; die Ex-Freundin hat die Leiche gefunden, und zwar in Frauenkleidern; und im Garten gibt es einen tiefen, tiefen Brunnen…

Nicht ungeschickt spielt der Film mit den Kennzeichen des Unheimlichen, lässt auch spielerisch Perversion und die spießige Reaktion darauf einschleichen, es gibt eine Menge Geheimnisse, die mittels Blutgruppenanalyse geklärt werden können. Und es gibt irgendwann viele Verdächtige, weil der Tod denn doch nicht so geklärt ist, wie es schien. An einem Gürtel des Verstorbenen prüft Elizabeth den Erhängungsvorgang, ein Re-Enactment des Suizids, das natürlich schief gehen muss, bei so einem wackligen Stuhl. Die Haushälterin verbirgt einiges, hinter ihrem harschen Auftreten verbirgt sich so manches. Und der Ziehsohn: Der würde alles tun, um den alten Herrn vor Schrecken oder Schlimmerem zu bewahren.

Irgendwann wird Elizabeth in den Brunnen gestürzt. Und in einer großartigen Sequenz stemmt sie sich den Brunnenschacht entlang hoch, verfolgt den Täter im Auto – hier wird es dann wieder recht läppisch, bei einem Sturz von einer Brücke, der vollkommen holterdipolter vor sich geht, auch filmschnittmäßig ziemlich vermasselt. Aber, und das macht das Werk Petits aus: Genau in solchen "Fehlern" liegt seine auteur-Handschrift: Dann, wenn andere sich besonders anstrengen, ist es seinen Filmen wurscht, weil es darauf eigentlich gar nicht ankommt. Ebenso ist es bei der Auflösung des Ganzen: Wer warum welche Tat begangen hat – das ist schon im Drehbuch so verworren, dass es in der Inszenierung am besten nur noch gesteigert werden kann in ein vollkommenes Durcheinander. Am Ende erschießt irgendeiner irgendwen – und: Das ist absichtlich unklar gedreht, gerade weil die Konvention an dieser Stelle Klarheit verlangt. Aber das natürlich wäre langweilig.


Harald Mühlbeyer

Hofer Filmtage 2015 - Retrospektive Christopher Petit – "Radio On" (1979)

Christopher Petit - nie gehört, diesen Namen. Nie gesehen, dieses Werk. Aber wenn einer in seinem Text im Programmheft gleich einen Witz erzählt, dann ist das von vornherein sympathisch: "Wie viele Regisseure sind notwendig, um eine Glühbirne zu ersetzen? – Antwort: Vier. Nein, drei. Fünf. Eindeutig fünf, aber drei wären vielleicht besser." Das zielt wohl ziemlich genau auf die Inszenierungsweise von Petit hin (dessen Name man übrigens nicht französisch, also nicht mit stummem t ausspricht): Der vor allem weiß, was er nicht will, wie er selbst sagt, nämlich keine Dinnerszenen, bei denen die Protagonisten über ihre Gefühle und über die Beziehungen untereinander reden. Nein: Petit will von Anfang an das Fragmentarische, was Psychologisierung und Erklärung angeht. Konsequenterweise hat er sein Debüt "Radio On" von 1979 angelegt entlang des Soundtracks, David Bowie etwa singt in der Anfangsszene "Heroes" bzw. auf deutsch "Helden", später beispielsweise Kraftwerk, auf englisch mit "Radioactivity".

"Radio On" wurde von Wim Wenders koproduziert, von dessen Road Movies Filmproduktion, und dieser Name passt zum Film, der vornehmlich im Auto spielt, unterwegs. In langen, ausgedehnten Einstellungen, in aufreizender Langsamkeit. Gedreht in herausragendem Schwarz-Weiß von Martin Schäfer, der zuvor Assistent von Robby Müller gewesen war: Viel Dunkel, viel hell, große Kontraste. Dazu: provozierend wenig (erklärender) Dialog, dafür immer wieder ausführliche Stories mit Gelegenheitsbegegnungen, die der namenlose Mann unterwegs trifft.

Zu Anfang hatten wir David Bowie, dabei eine nervöse Handkamera, die durch eine Wohnung spaziert, wir sehen einen handgeschriebenen Zettel: "We are the children of Fritz Lang and Werner [sic] von Braun". Der Link zwischen den 20ern und den 80ern – das ist ein Statement, das nicht weiter erläutert wird. Wir enden die Sequenz mit einem Mann in der Badewanne, das Radio läuft – "Helden" jetzt als On-Screen-Musik –, und dann zu einem Typen im Auto, von dem wir allmählich mitbekommen, dass er der Protagonist ist. Zum Geburtstag bekommt er von seinem Bruder ein Päckchen mit zwei Kraftwerk-Musikkassetten. Zuhause eine Frau, mit der er nicht redet. Beide gelangweilt, gefühlsarm. Der Mann arbeitet als DJ beim Radio, Musik scheint sein Leben zu sein, aber es macht ihm nicht offensichtlich Freude, so, wie wir uns ja auch nicht freuen, dass Blut durch unsere Adern fließt. Irgendwann zuhause ein Anruf, wir hören das Gespräch im Off, als sei es nicht wichtig: Der Bruder ist tot, der Mann fährt nach Bristol. Kein Gespräch mit der Frau. Dafür eine lange Autofahrt. Ein schottischer Soldat, in Irland eingesetzt, der nun desertieren will. Den der Mann als Anhalter mitnimmt und dann wieder stehen lässt. Im Radio Nachrichten von IRA-Terror, von Geiselnahme, von einer Polizeirazzia gegen einen Pornoring. Die Welt scheint verloren. Irgendwann trifft der Mann auf Sting – ja: der Police-Sting in seinen jungen Jahren! –, der wohnt in einem Wohnwagen hinter einer Tankstelle und spielt Gitarre. Singt "Three Steps to Heaven", philosophiert über Eddie Cochran, der nach einem Auftritt in Bristol im Auto tödlich verunglückte. Am Ende der Episode steht Sting an der Zapfsäule, die Gitarre in der Hand, die Akkorde spielend, ein Bild für junge Götter. Der Mann hat fünf Pfund bezahlt, die er zuvor aus der Tankstellenkasse geklaut hat.

Ist das eine Reise zu sich selbst, wie es das Roadmovie-Genre normalerweise verlangt? Das kann man nicht sagen, weil man nicht weiß, wer der Protagonist ist, was sein Selbst sein könnte. Lethargisch lässt er sich durchs Leben treiben. In Bristol trifft er auf zwei Frauen aus Bayern – Zugeständnis an die deutschen Co-Produzenten, mit künstlerischem Mehrwert: Die eine hasst Männer und ist alsbald aus dem Film verschwunden, die andere sucht ihre Tochter, die mit dem Ex-Ehemann in England wohnt und – Hommage an Wenders – Alice heißt. "Ich dachte, wir würden miteinander schlafen. Aber das werden wir nicht", stellt sie irgendwann fest, auf deutsch und auf englisch, und das verwundert kaum, weil nichts passiert. Auch nicht innerlich – oder vielleicht doch, aber im Verborgenen, irgendwo unter dem Soundtrack. Dann eine großartige Szene am Abgrund: In einem Steinbruch fährt der Mann nahe an den Felsabriss ran, legt Musik ein, doch eine fast kafkaeske, zumindest existenzialistische Situation: Das Auto, das schon vorher gerne gemuckt hat, springt nicht an. Und vorne gähnt der Abgrund, da, wo man die Anlass-Stange einstecken muss. Und zurückschieben im Leerlauf geht wegen nach vorne abschüssigem Gelände nicht… Feststecken. Kein Ausweg. Ein Bild, das irgendwie alles auf den Punkt bringt, auch wenn man nicht wüsste, wo der Punkt ist; und auch nicht merken würde, dass dieser Punkt etwa abschließen könnte.


Harald Mühlbeyer

Grindhouse-Nachlese Juli 2015 – Amoklauf, Kinokiller und Zwergenwerfen

Grindhouse-Triple-Feature, 25. Juli 2015:

"Der Mann auf dem Dach" / "Mannen på taket", Schweden 1976, Regie: Bo Widerberg

"Im Augenblick der Angst" / "Angustia" / "Anguish", Spanien 1978, Regie: Bigas Luna

"Los campeones justicieros" / "The Champions of Justice", Mexiko 1971, Regie: Federico Curiel


Seit im Juni in einer Arte-Reihe zum Trashkino "Santo und Blue Demon gegen Dracula und Wolfsmensch" lief, ist das Genre der mexikanischen Wrestlingfilme denn doch nicht angekommen im bundesdeutschen Cineastendiskurs. Schade. Wird die Vorführung des noch weit phänomenaleren "Los campeones justicieros" den Hype zu pushen vermögen? Man darf es bezweifeln, zu weit weg ist diese Spielart einer "Sportart", die an sich schon auf schlechter Inszenierung beruht, was durch miese Regie und mieses Schauspiel in den dazugehörigen Ringkampf-Filmen mexikanischer Bauart nochmal gedoppelt wird. Dies wiederum natürlich soweit, dass wir direkt und ganz genau dahinein geraten, wo der Trashfilm die höchsten Gefühle entwickelt.

Und das im übrigen bei einem Titel, der normaler nicht sein könnte: die siegreiche Gerechtigkeits-Gang, das ist die schlichte Aussage über die maskierten Helden des Films. Nichts Reißerisches, nichts Aufputschendes. Wir erinnern uns an den letzten Großevent der Grindhouse-Reihe, damals, 2013, als einen ganzen Tag lang sieben Filme hintereinander liefen, Titel des einen: "Die nackten Superhexen vom Rio Amore". Bei dem diesjährigen höchst verdienstvollen Film-Triple-Spezial? Da herrscht Nüchternheit in der Titelgebung vor.

Der Mann auf dem Dach


Das beginnt schon beim ersten Film des Abends. "Der Mann auf dem Dach". Genau darum geht es: Ein Mann auf dem Dach. Einer, der um sich schießt. Der Film beruht auf einem Roman des Autorenpaares Per Wahlöö / Maj Sjöwall mit dem Titel "Das Ekel aus Säffle" – und darum geht es auch: um einen widerwärtigen Mann, der aus Säffle stammt, als Polizeioffizier eine mehr als harte Linie fuhr und für seine Brutalitäten im Amt brutal hingemetzelt wurde.

Dieser Polizist Nyman ist inzwischen ein alter Mann, pflegebedürftig im Krankenhaus, man sieht ihn, wie er nur mit Hilfe einer Schwester aufs Klo kann, mitleidheischend auf Hilfe angewiesen – und wir sehen die Augen seines Mörders hinterm Vorhang aufblitzen, wir sehen das Bajonett, mit dem er auf ihn einsticht. Wir sehen die Polizeiarbeit, ein Krankenzimmer voll Blut und Innereien, ein Schlachtfest, zum Kotzen im wahren Sinn. Auftritt Kommissar Beck – ja, der Kommissar Beck, der in unzähligen Schwedenkrimis im Fernsehen auftritt; Urfigur des skandinavischen Kriminalgenres, der inzwischen durch diverse öffentlich-rechtliche Wiederholungen fast schon ausgelutscht wirkt.

Nun: Hier haben wir das Original. Direkt aus den Wahlöö-Sjövall-Romanen, von Bo Widerberg auf die Leinwand gebracht in betont nüchterner Weise, die die langatmigen Details der Polizeiarbeit ebenso wenig ausspart wie die Spannungen der Gesellschaft, die zerrissen ist zwischen jugendlichem Aufruhr der 1970er und reaktionärer Staatsgewalt. Kameradschaft gebiert Corpsgeist, Verdrängung und Schweigen bei Überschreitungen polizeilicher Kompetenzen, ein "Wir gegen die"-Gefühl innerhalb der Staatsmacht, das letztendlich alles legitimiert. Von Polizeibrutalität gegen Demonstranten über Demütigung von Gefangenen bis zur Beweisfälschung, um Verhaftete gerichtsfest aburteilen zu können – Kommissar Nyman war einer der ganz Großen in dieser Kunst.

Jetzt ist er tot. Dass dieser Mord etwas zu tun hat mit seinem Verhalten, ist wahrscheinlich. Und alsbald kommt Beck mit seinen Kollegen auch auf den Trichter – insbesondere nach einem Gespräch mit Nyman-Intimus Hult, der so ungefähr jede Maßnahme billigt, die Nyman vorhatte; etwa mit bewaffneter berittener Polizei in Protestkundgebungen hineinpreschen, um möglichst viele der jungen Leute möglichst wirkungsvoll davon abzubringen, sich jemals wieder zu versammeln…

"Der Mann auf dem Dach" ist kein Whodunnit-Krimi. Es ist ein Gesellschaftsthriller, der den Krimiplot geschickt mit der gesellschaftlichen Realität verwebt und in vielen kleinen, scheinbar unbedeutenden Details eine Welthaltigkeit kreiert, in der die linke Kritik an Staat und Gesellschaft und Mentalität sich Bahn bricht, ohne je aufdringlich zu wirken.

Nymans Witwe und deren halbwüchsiger Sohn; die schöne junge Frau von Beck-Kollege Kollberg; Hult, der sich nur in Uniform gefällt; der junge Langhaarige, der aufgegriffen worden war und zu lange in der Zelle saß, der aber viel zu verweichlicht ist, um wirklich zu protestieren; schließlich Beck mit seiner Teenager-Tochter, um die er sich nicht kümmert, der an seinem Modellbauschiff sitzt und der, sobald der Fall ins Rollen kommt, aus dem Geheimfach seines Schreibtischs die Dienstwaffe herausholt und ohne viel mit der Frau zu reden verschwindet, um künftig im Kommissariat zu nächtigen.

Fleißige Kleinarbeit führen die Ermittlungen alsbald zu Erikson, Ex-Polizist, der ein fettes Hühnchen mit Nyman zu rupfen hat – und mit der Polizei überhaupt. Erikson, der sich auf dem Dach verschanzt und auf alles schießt, was eine Uniform anhat – diese letzte halbe Stunde des Films ist äußerst effektiv inszeniert, mit unheimlicher Spannung und höchst drastisch dargestellt: Verschanzt mit ein paar Gewehren ist Erikson unerreichbar: er hat alles im Blick, und er ist entschlossen genug, jeden abzuknallen, der sich nähert… Deshalb wird auch Kommissar Beck angeschossen, ernsthaft. Die Hauptfigur! Er hängt schwer verletzt auf einem Balkongeländer, knapp unterhalb des Schussfeldes. Sein Kollege klettert die Fassade hoch, packt ihn in ein, seilt ihn ab. Und vielleicht überlebt Beck nicht. Denn Gewalt ist allgegenwärtig. Gewalt gebiert wieder Gewalt.
Was auch Hubschrauber mit einschließt: Alsbald hängt ein Toter SEK-Kollege an den Kufen; und ein anderer Helikopter stürzt ab. Ja, er stürzt ab! Eine unglaubliche Szene, die Menschenmassen, die auseinanderstieben, der Absturz auf einen U-Bahn-Schacht, und nein: keine Explosion. Wir sind schließlich nicht in Hollywood.

Im Augenblick der Angst


Ganz tief hinein in die alte Hollywood-Doktrin taucht dagegen Bigas Luna: Er treibt die Identifikation von Filmfigur und Kinozuschauer zum Äußersten. Zunächst aber geraten wir – also: wir hier im Grindhouse-Saal im Cinema Quadrat – hinein in eine bizarre Wohnung. Schnecken kriechen umher, in einem großen Vogelbauer viele, viele Tauben, dazu ein dicklicher Mann – John – und eine gnomenhafte Frau. Das ist seine Mama. Er ist der Sohn. Unter ihrem Pantoffel. Mit greller, schriller Stimme gellt sie ihre Befehle; denn alles ist Befehl bei ihr, auch Liebesbezeugungen gegen den Herrn Sohnemann. Eine Taube entwischt. Er verfolgt sie durch die vollgestopften Räume, sie steckt hinter einem Schrank fest, nörgelnd sieht sich die Mama genötigt, sich vom Sessel zu erheben, John legt ein paar Holzplatten frei, um hinter den Schrank zu kommen, mit zärtlichem Würgegriff, angefeuert von der Frau Mutter, befreit er den Vogel, um ihn zurück in den Käfig zu stecken. Anschließend: Das Nachtmahl.

Sehr, sehr schräg das ganze, auf groteske Art witzig und zugleich höchst bedrohlich. Hitchcock ist nicht fern. Die Atmosphäre ist derart merkwürdig – insbesondere, wenn John seinem Beruf nachgeht: Praxishelfer beim Augenarzt. Er selbst mit dicker Brille, der totale Weichlich, ein Nerd avant la lettre. Der viel zu tapsig ist, um einer Patientin Kontaktlinsen einzusetzen. Und der zugleich so etwas wie Zurecht- oder Zurückweisungen gar nicht abkann. Nachts macht er sich auf. Jetzt habe er die richtigen Kontaktlinsen dabei, sagt er am Tor der edlen Villa. Drinnen killt er die Frau, sehr brutal, und schneidet ihr die Augen raus. Der Mann des Opfers muss auch dran glauben.

Und wir glauben nun zu wissen, wie der Hase läuft: Ein Psycho-Slasher-Film, mit sehr originellen Bildern, exquisit atmosphärisch inszeniert und mit einer genregerechten Handlung.
Allein: So einfach ist es nicht. Denn plötzlich befinden wir uns in einem Kinosaal.

Im Kinosaal, in dem der soeben gesehene Film läuft. Der heißt "The Mommy" – im Unterschied zu dem Film, den wir sehen. Und wir begreifen, wie großartig der deutsche Filmtitel ist: "Im Augenblick der Angst" – das Sehen in mehrfacher Ebene, der augensammelnde Psychopath, die stets überwachende Mama, die Zuschauer, die ihm zusehen, wir, die wir den Zuschauern zusehen… Und irgendwo im Inneren blicken wir in die Zukunft, zum 30. Mannheimer Filmsymposium Mitte November, Thema: "Zuschauer(t)räume", und jawohl, tatsächlich, im mittlerweile bekanntgegebenen Programm wird diesem Film mit Vorführung und Vortrag breiter Raum geboten!

Doch ganz direkt und augenblicklich sind wir gefangen von diesem Film. Der einen spannenden Film im Film zeigt, der die gespannten Reaktionen im Publikum zeigt und damit eine quadratpotenzierte Spannung erzeugt: Immer wieder sehen wir im Kinosaal den Kinosaal, in dem "The Mommy" läuft, in beunruhigender Doppelung. Irgendwann gerät "The Mommy" ins Delirium, und mit ihm die Kinozuschauer, die in hypnotischen Rausch zu verfallen scheinen ob der Formen und Farben, denen sie ausgesetzt sind, und der Film selbst – die äußere Ebene, der wir zusehen – verbindet in der Konsequenz Trance und Psychedelik mit Urängsten… Und natürlich geht das Ganze vom Psychischen ins Handfeste über, ein Psycho nicht nur auf der Leinwand, auch im Zuschauerraum, weil man wirklich nirgendwo mehr sicher sein kann. Und zwei Teenie-Freundinnen, die etwas ahnen, die Zeuge werden von Unaussprechlichem. Irgendwann häufen sich die Leichen auf der Toilette, und alle Türen werden verrammelt.

Und dazu diese bohrende Stimme der Film-Mutti mit ihren bösen Einflüsterungen – mittels telepathischen Muscheln (!) –, so böse, dass sie sogar das zartbesaitetere Mädel im Publikum telepathisch zu beeinflussen scheint: weil die Schranken, die die Leinwand, die die Fiktion aufrichtet, eingerissen werden ebenso wie die, die die Seele errichtet hat. Ein komplexes, verschachteltes Meisterwerk ist das, verstörend, weil es direkt darauf zielt, wo wir sitzen, im Kino und im Leben…

Los campeones justicieros


Zwei großartige Filme also, meisterhaft inszeniert, die eigentlich gar nicht in die Grindhouse-Schiene passen wollen: weil der eine betont nüchtern daherkommt als Sozialthriller; und weil der andere die reißerischen Mechanismen des Kinos aufdeckt, aufmischt und heftig zurückwirft. Ist da noch Platz fürs Zwergenwerfen?

Aber hallo. Aber HALLO! Wir kommen zu einem der lustigsten Filme der Cinema-Quadrat-Grindhouse-Geschichte. "Los campeones justicieros", ein Catcherfilm aus Mexiko, im Mittelpunkt Blue Demon, begleitet von Tausend Masken, vom Killer-Arzt, vom Schwarzen Schatten, von einigen Miss-Mexiko-Anwärterinnen. Jau, das sind alles reale Personen, echte Menschen, denen wir hier bei ihrem Alltag zusehen dürfen: Beim Ringkampf und beim Posen, in Masken bzw. Bikini.

Blue Demon ist Meister-Wrestler, und mit seinen Kollegen kämpft er für die Gerechtigkeit. Das ist nicht leicht, weil ein paar rotbekapuzte Zwerge ihn ausschalten wollen. Die sind im Auftrag von Dr. Zarkoff hinter den "Champions of Justice" her… Zwerge. In roten Capes! Nein: Ist nicht lachhaft, denn wir bewegen uns in einer Welt, in der die Helden stets maskiert sind. Immer. Andauernd. Einmal sehen wir "Tausend Masken", wie er seine Maske wechselt, und zwar so geschickt blitzschnell, dass nicht eine Pore Gesichtshaut zu sehen ist. Im Maßanzug, im Schlafanzug: Die Maske ist aufgesetzt. Es sind schließlich Helden. Helden des Sports und der Kriminalitätsbekämpfung, zumal gegen diesen üblen Superschurken, der auch unter dem Namen "Schwarze Hand" schon früher – vermutlich in vorherigen Filmen – für allerlei Ungemach gesorgt hat. Jetzt hat er Armreife entwickelt, die auch den kleinsten Kleinwüchsigen übermenschliche Kräfte verleihen. Und natürlich hat er auch einige maskierte Ringer um sich geschart, damit Blue Demon und Co. ihre Fertigkeiten im Ring ausführlich zeigen können. Recht günstig, dass zu diesem Zweck eine Kampfmatte im Labor herumliegt. Ein Labor übrigens mit Teleschirm, durch den Dr. Zarkoff weit entfernte Kämpfe und Verfolgungsjagden beobachten kann.

Etwa das Handgemenge auf der Wiese zwischen diversen Ringern und den neun Zwergen, die so superstark sind, außer wenn das ferngesteuerte Kraft-Armband nicht funktioniert. Dann werden sie durch die Gegend geschmissen, aufgefangen, weitergeworfen, eine helle Freude! Das Ganze geht natürlich in eine Autoverfolgung durchs Gebirge weiter, mitsamt Reißnägeln, die auf der Fahrbahn verstreut werden, Öl, das verspritzt wird und so weiter! Absturz den Abhang hinunter, Explosion, ja warum denn nicht. Das Ganze gezeigt mittels einer Kameraführung, die eher zufällig dabei zu sein scheint statt tatsächlich das Geschehen irgendwie dramaturgisch oder bildgestalterisch rüberbringen zu wollen: Was geschieht muss genügen für die Immersion, wie es gezeigt wird, dafür reichen die Fähigkeiten der Köpfe hinter der Kamera denn doch nicht aus.

Welch böser Plan: Miss Mexiko und ihre Sub-Misses sollen in Kälteschlaf versetzt werden, in Bikini erstarren sie in ihren Kabinen, und dann will Zarkoff sie eine Gehirnwäsche unterziehen! Welch böse Mittel: Einer der Helden wird nächtens angerufen, doch es kommt rauchähnliches, betäubendes Gas aus dem Hörer! Welch böse Falle: Eine Spur führt in ein Lagerhaus! Welch bösen Dialoge: "Das ist eine gefährliche Falle! Wir gehen mit!" – "Genau das will die Schwarze Hand!" – "Was es wohl für eine Falle ist?" – "Vamos!" Dort dann werden sie in einem riesigen Netz eingefangen, anschließend natürlich Prügelei, das muss man wohl nicht extra erwähnen.

Später dann, wenn wir auf den Höhepunkt zugehen, schlägt die schöne Dame, die die Helden begleitet, vor, Wasserski zu fahren. Während Blue Demon ein Flugzeug bespringt und entert, in dem die eingefrorenen Mädels außer Landes gebracht werden sollen. Aber, und das ist der Clou: Das Wasserskifahren ist nicht einfach nur zum Spaß, nein, wir haben es mit einer extrem unvorhersehbaren Volte zu tun, jemand ist ein Doppelagent, im Boot eine Bombe, und unter Wasser lauern harpunenbewaffnete Feinde, als wär's ein James Bond-Film!

Der Endkampf im Labor – teils Catchen auf der Matte, teils Prügelei – bietet wieder einen Zwergenwurf, diesmal in einen der Bildschirme, woraufhin der rotgewandete Kleinwüchsige sofort Feuer fängt – ein unsterblicher Moment. Dr. Zarkoff wiederum, den kümmert's nicht: Mit einer Unsichtbarkeits-Pille macht er sich aus dem Staub, für den Fall eines Fortsetzungsfilms.

Blue Demon ist eigentlich ansonsten der Sidekick für Ringkampf-Ikone El Santo, der diesem ganzen Genre unweigerlich seinen Stempel aufgedrückt hat; doch hier schlägt sich der Blaue Dämon ganz wunderbar, ja eigentlich unübertrefflich, allein durch – der Arte-Film, in dem El Santo und Blue Demon sich mit einem Dracula- und einem Werwolf-Verschnitt auseinandersetzen müssen, ist nicht halb so komisch.
Und wir als Zuschauer wünschten uns, in Deutschland gäbe es ähnliche Filme, die reale Sportler in ganz großartig erhebende Heldenstellungen hinaufkatapultieren würden. Schließlich gibt es nicht wenige Sportarten, in denen Deutschland traditionell Weltmarktführer ist: Das ginge vom Pferdesport – welche Möglichkeiten für Verfolgungsjagden! – über das Fechten – diese Kämpfe, die ich imaginiere! – bis zum Fußball – Bayern und Dortmund treten sich gegenseitig in den Arsch! Wo ist der Autor, der hier stimmige Stories ersönne, wo der Regisseur, der aus Helden des Sports Helden der Leinwand machen wollte!


Harald Mühlbeyer