Grindhouse-Nachlese Juli 2015 – Amoklauf, Kinokiller und Zwergenwerfen
Grindhouse-Triple-Feature, 25. Juli 2015:
"Der Mann auf dem Dach" / "Mannen på taket",
Schweden 1976, Regie: Bo Widerberg
"Im Augenblick der Angst" / "Angustia" /
"Anguish", Spanien 1978, Regie: Bigas Luna
"Los campeones justicieros" / "The Champions
of Justice", Mexiko 1971, Regie: Federico Curiel
Und das im übrigen bei einem Titel, der normaler nicht sein
könnte: die siegreiche Gerechtigkeits-Gang, das ist die schlichte Aussage über die
maskierten Helden des Films. Nichts Reißerisches, nichts Aufputschendes. Wir
erinnern uns an den letzten Großevent der Grindhouse-Reihe, damals, 2013, als
einen ganzen Tag lang sieben Filme hintereinander liefen, Titel des einen: "Die
nackten Superhexen vom Rio Amore". Bei dem diesjährigen höchst verdienstvollen
Film-Triple-Spezial? Da herrscht Nüchternheit in der Titelgebung vor.
Der Mann auf dem Dach
Das beginnt schon beim ersten Film des Abends. "Der
Mann auf dem Dach". Genau darum geht es: Ein Mann auf dem Dach. Einer, der
um sich schießt. Der Film beruht auf einem Roman des Autorenpaares Per Wahlöö /
Maj Sjöwall mit dem Titel "Das Ekel aus Säffle" – und darum geht es
auch: um einen widerwärtigen Mann, der aus Säffle stammt, als Polizeioffizier
eine mehr als harte Linie fuhr und für seine Brutalitäten im Amt brutal
hingemetzelt wurde.
Dieser Polizist Nyman ist inzwischen ein alter Mann,
pflegebedürftig im Krankenhaus, man sieht ihn, wie er nur mit Hilfe einer
Schwester aufs Klo kann, mitleidheischend auf Hilfe angewiesen – und wir sehen
die Augen seines Mörders hinterm Vorhang aufblitzen, wir sehen das Bajonett,
mit dem er auf ihn einsticht. Wir sehen die Polizeiarbeit, ein Krankenzimmer
voll Blut und Innereien, ein Schlachtfest, zum Kotzen im wahren Sinn. Auftritt
Kommissar Beck – ja, der Kommissar Beck, der in unzähligen
Schwedenkrimis im Fernsehen auftritt; Urfigur des skandinavischen
Kriminalgenres, der inzwischen durch diverse öffentlich-rechtliche
Wiederholungen fast schon ausgelutscht wirkt.
Nun: Hier haben wir das Original. Direkt aus den Wahlöö-Sjövall-Romanen,
von Bo Widerberg auf die Leinwand gebracht in betont nüchterner Weise, die die
langatmigen Details der Polizeiarbeit ebenso wenig ausspart wie die Spannungen
der Gesellschaft, die zerrissen ist zwischen jugendlichem Aufruhr der 1970er und
reaktionärer Staatsgewalt. Kameradschaft gebiert Corpsgeist, Verdrängung und
Schweigen bei Überschreitungen polizeilicher Kompetenzen, ein "Wir gegen
die"-Gefühl innerhalb der Staatsmacht, das letztendlich alles legitimiert.
Von Polizeibrutalität gegen Demonstranten über Demütigung von Gefangenen bis
zur Beweisfälschung, um Verhaftete gerichtsfest aburteilen zu können –
Kommissar Nyman war einer der ganz Großen in dieser Kunst.
Jetzt ist er tot. Dass dieser Mord etwas zu tun hat mit
seinem Verhalten, ist wahrscheinlich. Und alsbald kommt Beck mit seinen
Kollegen auch auf den Trichter – insbesondere nach einem Gespräch mit
Nyman-Intimus Hult, der so ungefähr jede Maßnahme billigt, die Nyman vorhatte;
etwa mit bewaffneter berittener Polizei in Protestkundgebungen hineinpreschen,
um möglichst viele der jungen Leute möglichst wirkungsvoll davon abzubringen,
sich jemals wieder zu versammeln…
"Der Mann auf dem Dach" ist kein Whodunnit-Krimi.
Es ist ein Gesellschaftsthriller, der den Krimiplot geschickt mit der gesellschaftlichen
Realität verwebt und in vielen kleinen, scheinbar unbedeutenden Details eine
Welthaltigkeit kreiert, in der die linke Kritik an Staat und Gesellschaft und
Mentalität sich Bahn bricht, ohne je aufdringlich zu wirken.
Nymans Witwe und deren halbwüchsiger Sohn; die schöne junge
Frau von Beck-Kollege Kollberg; Hult, der sich nur in Uniform gefällt; der
junge Langhaarige, der aufgegriffen worden war und zu lange in der Zelle saß,
der aber viel zu verweichlicht ist, um wirklich zu protestieren; schließlich
Beck mit seiner Teenager-Tochter, um die er sich nicht kümmert, der an seinem
Modellbauschiff sitzt und der, sobald der Fall ins Rollen kommt, aus dem
Geheimfach seines Schreibtischs die Dienstwaffe herausholt und ohne viel mit
der Frau zu reden verschwindet, um künftig im Kommissariat zu nächtigen.
Fleißige Kleinarbeit führen die Ermittlungen alsbald zu
Erikson, Ex-Polizist, der ein fettes Hühnchen mit Nyman zu rupfen hat – und mit
der Polizei überhaupt. Erikson, der sich auf dem Dach verschanzt und auf alles
schießt, was eine Uniform anhat – diese letzte halbe Stunde des Films ist äußerst
effektiv inszeniert, mit unheimlicher Spannung und höchst drastisch
dargestellt: Verschanzt mit ein paar Gewehren ist Erikson unerreichbar: er hat
alles im Blick, und er ist entschlossen genug, jeden abzuknallen, der sich
nähert… Deshalb wird auch Kommissar Beck angeschossen, ernsthaft. Die
Hauptfigur! Er hängt schwer verletzt auf einem Balkongeländer, knapp unterhalb
des Schussfeldes. Sein Kollege klettert die Fassade hoch, packt ihn in ein,
seilt ihn ab. Und vielleicht überlebt Beck nicht. Denn Gewalt ist
allgegenwärtig. Gewalt gebiert wieder Gewalt.
Was auch Hubschrauber mit einschließt: Alsbald hängt ein
Toter SEK-Kollege an den Kufen; und ein anderer Helikopter stürzt ab. Ja, er
stürzt ab! Eine unglaubliche Szene, die Menschenmassen, die auseinanderstieben,
der Absturz auf einen U-Bahn-Schacht, und nein: keine Explosion. Wir sind
schließlich nicht in Hollywood.
Im Augenblick der Angst
Ganz tief hinein in die alte Hollywood-Doktrin taucht
dagegen Bigas Luna: Er treibt die Identifikation von Filmfigur und
Kinozuschauer zum Äußersten. Zunächst aber geraten wir – also: wir hier im
Grindhouse-Saal im Cinema Quadrat – hinein in eine bizarre Wohnung. Schnecken
kriechen umher, in einem großen Vogelbauer viele, viele Tauben, dazu ein
dicklicher Mann – John – und eine gnomenhafte Frau. Das ist seine Mama. Er ist
der Sohn. Unter ihrem Pantoffel. Mit greller, schriller Stimme gellt sie ihre
Befehle; denn alles ist Befehl bei ihr, auch Liebesbezeugungen gegen den Herrn
Sohnemann. Eine Taube entwischt. Er verfolgt sie durch die vollgestopften
Räume, sie steckt hinter einem Schrank fest, nörgelnd sieht sich die Mama
genötigt, sich vom Sessel zu erheben, John legt ein paar Holzplatten frei, um
hinter den Schrank zu kommen, mit zärtlichem Würgegriff, angefeuert von der
Frau Mutter, befreit er den Vogel, um ihn zurück in den Käfig zu stecken.
Anschließend: Das Nachtmahl.
Sehr, sehr schräg das ganze, auf groteske Art witzig und
zugleich höchst bedrohlich. Hitchcock ist nicht fern. Die Atmosphäre ist derart
merkwürdig – insbesondere, wenn John seinem Beruf nachgeht: Praxishelfer beim
Augenarzt. Er selbst mit dicker Brille, der totale Weichlich, ein Nerd avant la
lettre. Der viel zu tapsig ist, um einer Patientin Kontaktlinsen einzusetzen. Und
der zugleich so etwas wie Zurecht- oder Zurückweisungen gar nicht abkann.
Nachts macht er sich auf. Jetzt habe er die richtigen Kontaktlinsen dabei, sagt
er am Tor der edlen Villa. Drinnen killt er die Frau, sehr brutal, und
schneidet ihr die Augen raus. Der Mann des Opfers muss auch dran glauben.
Und wir glauben nun zu wissen, wie der Hase läuft: Ein
Psycho-Slasher-Film, mit sehr originellen Bildern, exquisit atmosphärisch
inszeniert und mit einer genregerechten Handlung.
Allein: So einfach ist es nicht. Denn plötzlich befinden wir
uns in einem Kinosaal.
Im Kinosaal, in dem der soeben gesehene Film läuft. Der
heißt "The Mommy" – im Unterschied zu dem Film, den wir sehen. Und
wir begreifen, wie großartig der deutsche Filmtitel ist: "Im Augenblick
der Angst" – das Sehen in mehrfacher Ebene, der augensammelnde Psychopath,
die stets überwachende Mama, die Zuschauer, die ihm zusehen, wir, die wir den
Zuschauern zusehen… Und irgendwo im Inneren blicken wir in die Zukunft, zum 30. Mannheimer Filmsymposium Mitte November,
Thema: "Zuschauer(t)räume", und jawohl, tatsächlich, im mittlerweile
bekanntgegebenen Programm wird diesem Film mit Vorführung und Vortrag breiter
Raum geboten!
Doch ganz direkt und augenblicklich sind wir gefangen von
diesem Film. Der einen spannenden Film im Film zeigt, der die gespannten
Reaktionen im Publikum zeigt und damit eine quadratpotenzierte Spannung
erzeugt: Immer wieder sehen wir im Kinosaal den Kinosaal, in dem "The
Mommy" läuft, in beunruhigender Doppelung. Irgendwann gerät "The
Mommy" ins Delirium, und mit ihm die Kinozuschauer, die in hypnotischen
Rausch zu verfallen scheinen ob der Formen und Farben, denen sie ausgesetzt
sind, und der Film selbst – die äußere Ebene, der wir zusehen – verbindet in
der Konsequenz Trance und Psychedelik mit Urängsten… Und natürlich geht das
Ganze vom Psychischen ins Handfeste über, ein Psycho nicht nur auf der
Leinwand, auch im Zuschauerraum, weil man wirklich nirgendwo mehr sicher sein
kann. Und zwei Teenie-Freundinnen, die etwas ahnen, die Zeuge werden von
Unaussprechlichem. Irgendwann häufen sich die Leichen auf der Toilette, und
alle Türen werden verrammelt.
Und dazu diese bohrende Stimme der Film-Mutti mit ihren
bösen Einflüsterungen – mittels telepathischen Muscheln (!) –, so böse, dass
sie sogar das zartbesaitetere Mädel im Publikum telepathisch zu beeinflussen
scheint: weil die Schranken, die die Leinwand, die die Fiktion aufrichtet,
eingerissen werden ebenso wie die, die die Seele errichtet hat. Ein komplexes,
verschachteltes Meisterwerk ist das, verstörend, weil es direkt darauf zielt,
wo wir sitzen, im Kino und im Leben…
Los campeones justicieros
Zwei großartige Filme also, meisterhaft inszeniert, die
eigentlich gar nicht in die Grindhouse-Schiene passen wollen: weil der eine
betont nüchtern daherkommt als Sozialthriller; und weil der andere die
reißerischen Mechanismen des Kinos aufdeckt, aufmischt und heftig zurückwirft.
Ist da noch Platz fürs Zwergenwerfen?
Aber hallo. Aber HALLO! Wir kommen zu einem der lustigsten
Filme der Cinema-Quadrat-Grindhouse-Geschichte. "Los campeones
justicieros", ein Catcherfilm aus Mexiko, im Mittelpunkt Blue Demon,
begleitet von Tausend Masken, vom Killer-Arzt, vom Schwarzen Schatten, von
einigen Miss-Mexiko-Anwärterinnen. Jau, das sind alles reale Personen, echte
Menschen, denen wir hier bei ihrem Alltag zusehen dürfen: Beim Ringkampf und
beim Posen, in Masken bzw. Bikini.
Blue Demon ist Meister-Wrestler, und mit seinen Kollegen
kämpft er für die Gerechtigkeit. Das ist nicht leicht, weil ein paar
rotbekapuzte Zwerge ihn ausschalten wollen. Die sind im Auftrag von Dr. Zarkoff
hinter den "Champions of Justice" her… Zwerge. In roten Capes! Nein:
Ist nicht lachhaft, denn wir bewegen uns in einer Welt, in der die Helden stets
maskiert sind. Immer. Andauernd. Einmal sehen wir "Tausend Masken",
wie er seine Maske wechselt, und zwar so geschickt blitzschnell, dass nicht
eine Pore Gesichtshaut zu sehen ist. Im Maßanzug, im Schlafanzug: Die Maske ist
aufgesetzt. Es sind schließlich Helden. Helden des Sports und der
Kriminalitätsbekämpfung, zumal gegen diesen üblen Superschurken, der auch unter
dem Namen "Schwarze Hand" schon früher – vermutlich in vorherigen
Filmen – für allerlei Ungemach gesorgt hat. Jetzt hat er Armreife entwickelt,
die auch den kleinsten Kleinwüchsigen übermenschliche Kräfte verleihen. Und
natürlich hat er auch einige maskierte Ringer um sich geschart, damit Blue
Demon und Co. ihre Fertigkeiten im Ring ausführlich zeigen können. Recht
günstig, dass zu diesem Zweck eine Kampfmatte im Labor herumliegt. Ein Labor
übrigens mit Teleschirm, durch den Dr. Zarkoff weit entfernte Kämpfe und
Verfolgungsjagden beobachten kann.
Etwa das Handgemenge auf der Wiese zwischen diversen Ringern
und den neun Zwergen, die so superstark sind, außer wenn das ferngesteuerte
Kraft-Armband nicht funktioniert. Dann werden sie durch die Gegend geschmissen,
aufgefangen, weitergeworfen, eine helle Freude! Das Ganze geht natürlich in
eine Autoverfolgung durchs Gebirge weiter, mitsamt Reißnägeln, die auf der
Fahrbahn verstreut werden, Öl, das verspritzt wird und so weiter! Absturz den
Abhang hinunter, Explosion, ja warum denn nicht. Das Ganze gezeigt mittels
einer Kameraführung, die eher zufällig dabei zu sein scheint statt tatsächlich
das Geschehen irgendwie dramaturgisch oder bildgestalterisch rüberbringen zu
wollen: Was geschieht muss genügen für die Immersion, wie es
gezeigt wird, dafür reichen die Fähigkeiten der Köpfe hinter der Kamera denn
doch nicht aus.
Welch böser Plan: Miss Mexiko und ihre Sub-Misses sollen in
Kälteschlaf versetzt werden, in Bikini erstarren sie in ihren Kabinen, und dann
will Zarkoff sie eine Gehirnwäsche unterziehen! Welch böse Mittel: Einer der
Helden wird nächtens angerufen, doch es kommt rauchähnliches, betäubendes Gas
aus dem Hörer! Welch böse Falle: Eine Spur führt in ein Lagerhaus! Welch bösen
Dialoge: "Das ist eine gefährliche Falle! Wir gehen mit!" –
"Genau das will die Schwarze Hand!" – "Was es wohl für eine
Falle ist?" – "Vamos!" Dort dann werden sie in einem riesigen
Netz eingefangen, anschließend natürlich Prügelei, das muss man wohl nicht
extra erwähnen.
Später dann, wenn wir auf den Höhepunkt zugehen, schlägt die
schöne Dame, die die Helden begleitet, vor, Wasserski zu fahren. Während Blue
Demon ein Flugzeug bespringt und entert, in dem die eingefrorenen Mädels außer
Landes gebracht werden sollen. Aber, und das ist der Clou: Das Wasserskifahren
ist nicht einfach nur zum Spaß, nein, wir haben es mit einer extrem unvorhersehbaren
Volte zu tun, jemand ist ein Doppelagent, im Boot eine Bombe, und unter Wasser
lauern harpunenbewaffnete Feinde, als wär's ein James Bond-Film!
Der Endkampf im Labor – teils Catchen auf der Matte, teils
Prügelei – bietet wieder einen Zwergenwurf, diesmal in einen der Bildschirme,
woraufhin der rotgewandete Kleinwüchsige sofort Feuer fängt – ein unsterblicher
Moment. Dr. Zarkoff wiederum, den kümmert's nicht: Mit einer
Unsichtbarkeits-Pille macht er sich aus dem Staub, für den Fall eines
Fortsetzungsfilms.
Blue Demon ist eigentlich ansonsten der Sidekick für Ringkampf-Ikone El Santo, der diesem ganzen Genre unweigerlich seinen Stempel aufgedrückt hat;
doch hier schlägt sich der Blaue Dämon ganz wunderbar, ja eigentlich unübertrefflich,
allein durch – der Arte-Film, in dem El Santo und Blue Demon sich mit einem
Dracula- und einem Werwolf-Verschnitt auseinandersetzen müssen, ist nicht halb
so komisch.
Und wir als Zuschauer wünschten uns, in Deutschland gäbe es
ähnliche Filme, die reale Sportler in ganz großartig erhebende Heldenstellungen
hinaufkatapultieren würden. Schließlich gibt es nicht wenige Sportarten, in
denen Deutschland traditionell Weltmarktführer ist: Das ginge vom Pferdesport –
welche Möglichkeiten für Verfolgungsjagden! – über das Fechten – diese Kämpfe,
die ich imaginiere! – bis zum Fußball – Bayern und Dortmund treten sich
gegenseitig in den Arsch! Wo ist der Autor, der hier stimmige Stories ersönne,
wo der Regisseur, der aus Helden des Sports Helden der Leinwand machen wollte!
Harald Mühlbeyer