Jährlich lädt das Sundance Film Festival
in Utah zur Feier des weltweiten Independentkinos ein. Stets finden hier horror flicks
und comedies ebenso ihren Platz wie Arbeiten, die sich jedweder
Genreeinordnung zu widersetzen scheinen; von Bedeutung ist bei der
Programmauswahl einzig und allein, dass die Produktionen jeweils einen
innovativen Ansatz und eine frische Perspektive erkennen lassen – dass sie unbändig
und mutig sind: „Because we all seek something more than the same old story“
(so das offizielle Sundance-Motto). Auch in diesem Jahr war die Bandbreite
der gezeigten Werke – und, damit einhergehend, der Sujets, Dramaturgien und
Ästhetiken – beeindruckend: Während sich einige Beiträge als
„Arthouse-Mainstream“ rubrizieren lassen, können andere ohne Übertreibung als
„cineastische Avantgarde“ bezeichnet werden.
Hier findet Sundance statt. (Bild (c) Köhnemann) |
Vier Vertreter des Programms
von 2014 sollen in diesem Text besprochen werden: HELLION von Kat Candler, YOUNG ONES von Jake
Paltrow, 52 TUESDAYS von Sophie Hyde
und GOD HELP THE GIRL von Stuart Murdoch. Erzählerisch und optisch verfahren die
vier Filme höchst unterschiedlich; sie eint jedoch ein Thema, das seit jeher
ein gewisses Maß an jener vom Sundance Institute geforderten
Unbändigkeit verlangt: nämlich das coming of age ihrer jungen (Anti-)Helden.
Identitätssuche und Selbstwerdung werden in ihnen narrativ und visuell zur
Darstellung gebracht – wobei sich wiederum die Adäquatheit der Begriffe
„Identität“ und „Selbst“ durchaus anzweifeln lässt (wie dies insbesondere 52
TUESDAYS demonstriert). Es gilt nun zu fragen: Was haben jene vier ungleichen
Entwicklungsgeschichten über die condition juvénile mitzuteilen? Und inwiefern
sind Innovation, Frische und Mut in ihren Konzepten und Ausführungen vorhanden?
Als erstes Werk sei HELLION vorgestellt –
eine Schöpfung aus der Austin/Texas-film
scene, von Regisseurin und Autorin Kat Candler, die hier ihr gleichnamiges,
sechsminütiges short movie aus dem Jahr 2012 ausgebaut hat. Der
titelgebende „Teufelsbraten“ ist der 13-jährige Jacob (Josh Wiggins), der mit
seinem Vater Hollis (Aaron Paul) und seinem drei Jahre jüngeren Bruder Wes
(Deke Garner) im ländlichen Raum lebt. Seit die Mutter bei einem Unfall starb, ist
der working class-Vater sowohl gedanklich-emotional als auch physisch
oft abwesend; die beiden Söhne sind somit häufig unbeaufsichtigt.
Jacob ist ein Hitzkopf, ein troublemaker, der Schmerz, Zorn und Konfusion der
Adoleszenz in denkbar destruktivem Verhalten ausagiert: Man lernt ihn kennen,
als er gerade gemeinsam mit seinen Freunden ein fremdes Fahrzeug mittels Baseballschlägern und Farbspraydosen beschädigt. Seine ratlose Rebellion gegen
alles und jeden wird in einer späteren Sequenz auf den Punkt gebracht, in
welcher Jacob nach einem Streit (mit Vater Hollis) den Restaurantschauplatz wutentbrannt
verlässt und dabei ein trotziges „Fuck all of you!“ an sämtliche
Anwesenden herausschreit. Kat Candler widmet dem jugendlichen Ungestüm ihres Protagonisten viel Aufmerksamkeit – sie
taucht tief in dessen Gedankenwelt (etwa in die Leidenschaft für Motocross) ein.
Rowdytum und Vandalismus spiegeln sich
– ebenso wie das juvenile Verständnis von Coolness – in den wilden
inszenatorischen Methoden des Werks wider, z.B. in der unruhigen Kamera oder
dem laut-lärmenden Sound. Die Streetwear
der Kids (Caps, Shirts von Metal-Bands, Fetzenjeans etc.) mutet nie wie
überspezifische Filmkostümierung an, sondern wirkt absolut glaubwürdig.
Camron Owens, Dylan Cole, Deke Garner, Josh Wiggins aus HELLION (Bild (c) Köhnemann) |
Was den gewiss nicht neuartigen youth in revolt-Stoff letztlich zu mehr als einem soliden Indie-Drama
(und zu etwas anderem als der „same old story“) macht, sind zwei Dinge. Zum
einen sind alle zentralen Charaktere – auch die Erwachsenenfiguren –
differenziert (mit durchschimmernden, individuellen Hintergrundgeschichten) gestaltet,
sodass HELLION die zwei gröbsten Fehler, die eine Milieustudie begehen kann,
erfreulicherweise vermeidet: Weder werden die Handelnden (bzw. die nicht
/ selten / zu spät Handelnden) in Form eines moralischen
Lehrstücks verurteilt, noch wird hier in Sozialkitsch-Manier Betroffenheit
evoziert. Candlers Drehbuch ermöglicht es dem Zuschauer, Anteil am Schicksal
des gesamten Personals zu nehmen, ohne die Figuren dabei simplifizierend als
„Opfer der Umstände“ darzustellen.
Hollis, der Vater, hat den Tod seiner Frau nicht verkraftet;
durch seine Mittel, mit der Trauer umzugehen (Rückzug, Alkohol, Festhalten an
Verlorenem), erlegt er seinem Sohn Jacob
ein zu hohes Maß an Verantwortung
auf. Der 13-Jährige zieht wiederum den Bruder in seine (klein-)kriminellen
Aktionen des Aufbegehrens mit hinein – bis das Jugendamt einschreitet und die Familie
auseinandergerissen zu werden droht. Es folgen fatale Fehlentscheidungen
von nahezu allen Beteiligten – und zugleich wird ein Einblick in deren durchaus begreifbare Absichten geboten. Dass Letzteres
so gut gelingt, ist neben der Autorin auch den Schauspielern zu verdanken: Der
Debütant Josh Wiggins ist ein beachtenswertes
Nachwuchstalent, das über die nötige Intensität verfügt, um den Aufruhr von (v.a.
aber in) Jacob beglaubigen zu können; und BREAKING BAD-Star Aaron
Paul (als Vater) sowie die wunderbare Juliette Lewis (als Tante) vermitteln in sensiblen, klischeefreien
Interpretationen, dass das coming of age – die mit größter Unsicherheit einhergehende
persönliche Reifung – im Grunde niemals gänzlich abgeschlossen ist.
Dies führt auch unmittelbar zur zweiten Stärke, die
HELLION vom youth cinema-Durchschnitt
abhebt: Zwar hat Jacob am Ende message movie-mäßig gelernt, dass man für
seine Taten einstehen muss – dennoch ist die Zeit, in der Fehler gemacht und Verletzungen
zugefügt werden, mit dieser Einsicht eben höchstwahrscheinlich nicht einfach vorüber.
Jacob ist am Ende (noch) nicht der,
der er gern wäre – denn das glückt ausschließlich den Helden trivialer
Teenagerfilme.
In Jake Paltrows YOUNG ONES – dem nächsten Sundance-Beitrag, der hier kurz betrachtet werden soll – gibt es gleich zwei
adoleszente Hauptfiguren. Der writer-director Paltrow offeriert in
seinem ambitionierten Werk eine Geschichte um Mord und Vergeltung in geradezu
epischer Anlage. Er erzählt die Saga der Familie Holm in
Gestalt einer Science-Fiction-/Western-Verschränkung, in welcher dystopisches MAD MAX-Feeling und John
Ford’sche territory-Dramatik ineinandergreifen. Der Film – gedreht in Südafrikas Nordkap-Provinz – spielt im
Amerika der nahen Zukunft. Aufgrund einer extremen Dürre ist Wasser zu einem raren,
wertvollen Rohstoff geworden, derweil es in der Medizin sowie in der
(Kommunikations-)Technik zu gewaltigen Fortschritten gekommen ist. Das
detailreiche cinematic universe, das Paltrow und sein Kameramann Giles
Nuttgens in überwältigend komponierten Einstellungen auf die Leinwand bannen, zeugt
(noch unterstützt von Nathan Johnsons wuchtiger Musik) fraglos von Kreativität
– gar von einem gewissen Größenwahn, welcher in der Welt des Kinos ja durchaus
zu begrüßen ist, insofern er nicht zu einem reinen Effektspektakel führt (was
hier eindeutig nicht der Fall ist).
Während YOUNG ONES inszenatorisch
ohne Zweifel außergewöhnlich ist, ist das in drei Kapitel aufgeteilte Epos in
der Charakterzeichnung wiederum recht klassisch. Ehe die jungen Figuren und
deren coming of age in den Mittelpunkt rücken, tritt in chapter one
der Familienvater Ernest Holm (Michael
Shannon) als Protagonist in Erscheinung.
Der Farmer wartet bzw. hofft auf Regen – und versucht, die Existenzgrundlage
seiner Familie durch den Verkauf von Alkohol zu sichern. Das zweite
Kapitel widmet sich dem Motorrad fahrenden Draufgänger Flem (Nicholas Hoult), der mit Holms Tochter Mary (Elle
Fanning) zusammen ist (und diese später heiratet); im dritten Kapitel rächt
Holms Sohn Jerome (Kodi Smit-McPhee) schließlich
ein feiges Verbrechen. Näheres zur Handlung soll an dieser Stelle nicht
verraten werden, da dies dem Werk vieles von seiner (emotionalen) Spannung
rauben würde.
Flem und Jerome sind als Typen
angelegt (wiewohl es ein paar kleine, reizvolle Brüche gibt): Jerome wird als zurückhaltender,
empfindsamer Junge konturiert, der jedoch – um die Unmoral zu strafen und um in
die Erwachsenenwelt überzutreten – zu Mitteln der Grausamkeit greifen muss; der
bad boy Flem steht indes in der
Tradition jener Rebellen, die die US-Schriftstellerin
Susan E. Hinton in den Sechziger- und
Siebzigerjahren (als sie selbst noch sehr jung war) erdacht hat und die v.a. dank
der Francis-Ford-Coppola-Verfilmungen THE OUTSIDERS und RUMBLE FISH auch als Gestalten
des Kinos Kultstatus erlangt haben. Es ist äußerst interessant zu sehen, wie eine
Hinton-eske, Motorcycle Boy-ähnliche Figur nun von Jake Paltrow in ein postapokalyptisch
anmutendes Wildwestumfeld transferiert wird; schade – und leider allzu konservativ
– ist allerdings, dass diese gesetzlose und doch anziehende Figur auch hier (wie
schon ihre Vorgänger in den Hinton-Büchern) letztlich scheitern muss. Eine
(weitere) Individuation wird ihr nicht zugestanden – bzw. darf ihr wohl
nicht zugestanden werden.
HELLION und YOUNG ONES
werden – trotz der Beteiligung veritabler Superfrauen wie Juliette Lewis und
Elle Fanning – von den männlichen Charakteren und von deren Entwicklungsprozess(versuchen)
dominiert. In 52 TUESDAYS und GOD HELP THE GIRL
stehen hingegen junge Frauen im Zentrum. Zwar geht es in 52 TUESDAYS –
der auch auf der Berlinale lief, in der „Generation 14plus“-Reihe – ebenfalls
um eine Mannwerdung – aber nicht um das Werden vom Jungen zum Mann,
sondern von der Frau zum Mann: Zu Beginn des australischen Werks von Sophie Hyde erfährt Billie (Tilda
Cobham-Hervey), dass sich ihre Mutter (Del Herbert-Jane) einer Geschlechtsumwandlung
unterziehen wird. Billie – die seit der
Trennung ihrer Eltern bei der Mutter lebt – soll für ein Jahr zum Vater (Beau
Travis Williams) ziehen, da die female-to-male transition einige
Zeit (und Energie) beanspruchen wird. Ihre Mutter – die sich fortan James nennt
– will sich in jenem Jahr des „Übergangs“ jedoch jeden Dienstag mit ihr treffen;
und so begleitet der Film Billie und
James durch 52 Dienstage – durch Veränderungen des Körpers sowie der
Gefühlslagen.
Zwei Punkte sind in Bezug
auf 52 TUESDAYS von besonderem Reiz. Zum einen sind dies die Bedingungen, unter
denen gedreht wurde. Denn auch das Filmteam fand sich über ein Jahr hinweg
jeden Dienstag zusammen, um (in chronologischer Reihenfolge) Material für
jeweils einen der 52 Tage zu drehen (wobei die Schauspieler stets erst eine
Woche vorher ihr Script für den folgenden Dreh erhielten, sodass sie – wie die
Figuren, die sie zu verkörpern hatten – nicht wussten, wie sich die Dinge auf
lange Sicht entwickeln würden). Auf diese Weise konnte ein Lebensjahr der
Charaktere in Echtzeit mitvollzogen werden. Die originelle Methode wurde im
Rahmen des diesjährigen Sundance Film Festivals (und des Berlinale-Wettbewerbs) leider ein wenig von Richard Linklaters
Vorgehensweise bei seinem
Großprojekt BOYHOOD in den Schatten gestellt, da Linklater gar über ganze zwölf
Jahre hinweg die Geschichte eines Heranwachsenden gefilmt hatte. Bemerkenswert
ist Sophie Hydes Ansatz – und v.a. das authentisch wirkende Ergebnis – aber zweifelsohne
trotzdem.
Zum anderen ist die Figur
„Billie“ erfreulich facettenreich – und wird von Tilda Cobham-Hervey mit Verve
und starkem Ausdruck interpretiert. Glücks- und Unglücksmomente werden mit
äußerster Jugenddramatik durchfühlt: another week, another drama! Während
James eine Beziehung mit einer Arbeitskollegin (Danica Moors) eingeht (diese
aber vor Billie geheim hält) und sich mit anderen Transgenderpersonen austauscht,
lernt die Teenager-Tochter in der Schule das Pärchen Jasmine und Josh (Imogen
Archer und Sam Althuizen) kennen und beginnt mit den beiden eine experimentierfreudige ménage à trois,
die sie mit ihrer Videokamera einfängt. Durch jene von der Heteronormativität
abweichende Form der Dreiecksliebe, in welcher das Begehren zwischen Billie und
Jasmine alsbald ebenso intensiv ist wie das zwischen Billie und Josh bzw. zwischen
Josh und Jasmine, behandelt 52 TUESDAYS neben James’ transition diverse gender-
und queertheoretisch interessante Aspekte; und auch Billies éducation sentimentale (et sexuelle)
ist – wie jene von Jacob in HELLION
– am Ende des Films keineswegs zum Abschluss gekommen.
Um besagte „Erziehung der Gefühle“ filmisch zu
erkunden, wird in GOD HELP THE GIRL (ebenfalls auch im
Berlinale-Generation 14plus-Programm gezeigt) wiederum das traditionsreiche Feld des Musicals
bespielt. Die Geschichte um die musikalischen Ambitionen eines Jugendtrios in
Glasgow ist das Drehbuch- und Regiedebüt von Stuart Murdoch – Gründungsmitglied der Indie-Pop-Band Belle
and Sebastian. Es basiert
auf Murdochs gleichnamigem Konzeptalbum von 2009.
Der Film wirkt, als hätte sich der (leider bereits
verstorbene) französische Kinonostalgiker Jacques Demy (LES PARAPLUIES DE
CHERBOURG) an eine Neufassung der Susanna-Kaysen-Autobiografie
GIRL, INTERRUPTED gewagt. Die Heldin des Werks ist Eve (Emily Browning),
eine einsame junge Frau, bei der einem zuerst einmal unwillkürlich das Adjektiv
„zerbrechlich“ einfällt. Sie folgte einst ihrem Ex-Freund von Australien nach
Schottland – und fand sich (nachdem ihr Leben völlig außer Kontrolle geraten
war) in einer Klinik wieder. Dort wird Eves Anorexie nun noch immer behandelt.
Regisseur Stuart Murdoch (Bild (c) Köhnemann) |
„I wanna go back to life“, erklärt Eve –
und so versucht sie, aus dem Schreiben und Performen von Songs neue Kraft zu
schöpfen. Mit dem ungelenk-charmanten
James (Olly Alexander) und der flatterhaften
public school-Prinzessin
Cassie (Hannah Murray) gründet sie eine Band – und muss neben Unbeschwert-Fröhlichem (wie z.B. kayaking im Clyde oder einem GREASE-würdigen
Auftritt im Seniorenheim) auch Enttäuschungen und Rückschläge erleben. Zum
einen zelebriert GOD HELP THE GIRL die Schönheit Glasgows sowie den Hipster-Chic
seiner Figuren und animiert mit einigen Nonsens-Momenten zum Lachen; zum
anderen nimmt er die Probleme von Eve, James und Cassie aber sehr ernst – und macht
deutlich, dass zwischen der young and fun-Welt,
die sich das Trio zu konstruieren versucht, und der Realität eine erhebliche Lücke klafft. Dieser Lücke gilt es sich
letztlich zu stellen.
Alles in allem lässt sich sagen, dass HELLION, YOUNG ONES, 52 TUESDAYS und GOD
HELP THE GIRL vier ansehenswerte Werke sind, die mit
erkennbarem Herzblut entstanden sind. Während sich in HELLION v.a. in der Differenziertheit der
Protagonisten- und Konfliktdarstellung Mut und Frische bekunden, sind es in 52
TUESDAYS nicht zuletzt die aufgeworfenen Fragen der Gender- und Queer-Theorie,
die den Film herausheben. YOUNG ONES weist einen vergleichsweise
konventionellen dramatischen Bogen auf, beweist jedoch einen starken
Gestaltungswillen und hat in seinem Weltentwurf (über-)zahlreiche Ideen zu
bieten; GOD HELP THE GIRL weiß hingegen in erster Linie aufgrund der Auslotung jener
Diskrepanz zwischen einer juvenilen Gegenwelt und der Wirklichkeit zu
überzeugen.
Andreas Köhnemann