Schwule Priester und Polizisten, ein Pornojunkie und dicke Kinder aus Österreich
Eine ruhige Minute in einer Filmpause – auch wenn es hier im
Grand Hyatt gegenüber dem Berlinale Palast, wo das Pressecenter der
Internationalen Filmfestspiele untergebracht ist, vor lauter Berichterstattern
aus allen Herren Ländern wimmelt und ein babylonischen Stimm- und Sprachgewirr
konzentrationshemmende Kulisse ist.
"Verirrung" und "Verwirrung" hätten auch Themenbegriff des
heutigen, zweiten Tages sein können – oder auch, vielleicht konkreter:
"Verbotene Liebe".
Den Auftakt machte heute morgen im Pressescreening W IMIĘ...,
übersetzt IN THE NAME OF (POL 2013 - Wettbewerb) von Malgośka Szumowska, und während es
draußen leicht, aber penetrant der Schnee fiel, herrschte auf der Leinwand
Sommer auf dem polnischen Land. Dort, in einer Art Heim für Schwererziehbare
sind Jungmänner untergebracht, und mit nackten Oberkörpern spielen sie Fußball,
verausgaben sich beim Steinekloppen; überhaupt sprühen sie nur so von – nicht
immer glücklicher – Virilität. Der katholische Priester Adam (Andrzej Chyra)
ist hier zusammen mit einem Laien der Boss, ist Aufseher, Betreuer. Vor
allem aber ein bodenständiger bärtiger Mann, der zupacken kann, eine natürliche
Autorität genießt, bei den Jungs, bei den Landleuten. Dass ihn eine einsame
Dame aus dem Dorf ihre Liebe gesteht, bringt ihn nicht aus der Fassung – er sei
schon vergeben, so seine Antwort auf ihre Avancen.
Damit ist natürlich Gott gemeint, aber Adam hat auch ein
anderes Geheimnis, das ihn nachts sich im Bett herumwälzen lässt und dem die
Masturbation in der Badewanne nur kurze Erleichterung verschafft: Adam fühlt
sich zu Männern hingezogen – vor allem zu einem Bauernburschen, einem Außenseiter
aus der Nachbarschaft, der ähnlich empfindet.
Er sei kein Pädophiler, sondern einfach nur schwul, erklärt
er spät im Film seiner Schwester in Toronto per Skype, mit belegter Stimme, die
Wodka-Flasche neben dem Notebook. Die versteht nicht oder will nicht verstehen,
verdammt aber Adam auch nicht. Wie der gelungene Film selbst. Denn statt mit
seinem Sujet ein schwertrübes Drama über Soutanen-Sex oder Prüderie und
Schwulenfeindlichkeit im polnischen Hinterland zu inszenieren, geht Szumowska
das Thema und die missliche Situation mit erstaunlich leichter Hand und gar
entwaffnendem Fröhlichkeit an. Sicher, unter den Kindern wie den Jugendlichen
geht es nicht gerade zimperlich zu (und „Jude“ fällt hier mehrfach als
Schimpfwort). Aber weder erfahren wir, weshalb Adam tatsächlich von Warschau in
die Provinz versetzt wurde, noch erscheint er als ein schwacher, zweifelnder
Leidensmann, für den Mitleid beim Publikum eingeklagt würde. Genug
Deutungsspielraum überlässt der Film uns, wenn der Kardinal die Sache in die
Hand nehmen will, und Bauarbeiter in der Mittagspause sind auch recht entspannt
über die Verdächtigungen um den nun ehemaligen Pater, der erneut die Gemeinde
gewechselt hat: Sobald ein Priester den Schwarzrock ausziehe, sei er einer wie
du und ich.
In diesem Sinne rafft sich am Ende nicht nur Adams Geliebter
auf, sondern gönnt der Film sich, uns und seiner Hauptfigur ein boshaft-witzig
angedeutetes Happy End, eines, das die katholische Kirche für viele Gläubige
wenig gut wegkommen lässt und das zugleich das Thema priesterlicher
homosexueller „Veranlagung“ unaufgeregt wie politisch unkorrekt auf den Kopf, gegen die gängigen Klischees und verbreiteten Schreck- und Schimpfbilder
stellt.
***
Eine ganz andere Art von Sexualpräferenz ist bestimmend für
das Leben von Jon, selbstbewusster, oberlässiger und köperkultivierter
A-Klasse-Frauenflachlegeprofi aus New Jersey. Als ideales Macho-Schreckgespenst
der aktuellen, allgegenwärtigen Brüderle-Seximus-Debatte scheinen sind für ihn
die – von ihm und seinen Kumpeln benoteteten – Damen im Nachtclub nicht mehr
als zu eroberndes vulgo zu fickendes Frischfleisch, aber seine wahre
Befriedigung findet er nur im Second-Hand-Sex: in der Internet-Pornografie, der
Jon noch zugetaner ist als dem Live-Geschlechtsverkehr. So stiehlt er sich entsprechend aus dem postkoitalen Bett hin zum Rechner. Das
wiederkehrende Sound des Windows-Systemstarts wird über den Verlauf des Films
zum grandios aufgeladenen Symbolklang.
Joseph Gordon-Levitt (zuletzt vor allem mit THE DARK KNIGHT
RISES und LOOPER im Kino) hat DON JON'S ADDICTION (Reihe "Panorama") geschrieben, als spritziges,
wenngleich nicht ganz sentimentalitäten- und standarddramaturgie-freies Debüt
ohne Studio im Rücken inszeniert und gleich noch die Hauptrolle mit
bestechender Selbstironie übernommen. Als Unterschichten-Woody-Allen des
Facebook- und YouPorn-Zeitalters kommentiert er sein Leben und seine Vorlieben,
und insbesondere seine Erläuterungen, warum die expliziten Beischlaffilme per
Datenleitung dem zwangsläufig enttäuschenden „real thing“ vorzuziehen sind,
bieten Logik und nachvollziehbarer Argumente, wie der Film mit seiner
Hauptfigur in ihrer Frechheit und Witzigkeit grundlegende und bedenkenswerte
Einblicke in das moderne Beziehungs- als Warenverhältnis in Sachen Sex.
Denn natürlich handelt der Film nicht ausschließlich von
Jons Onanie-Ritualen, die DON JON'S ADDICTION wie den Rest seines Alltags in
kurzen, wiederholten Bildern verpackt: Er lernt seine Traumfrau (Scarlett
Johansson) kennen, doch die hält ihn hin, drängt ihn zu gegenseitigen Familien-
und Freundesbegegnungen, gar zur beruflichen Fortbildung. Und ringt ihm eine
Porno-Abstinenz ab. Ein Versprechen, das Jon gerne gibt (schließlich tue er
sowas nie, das sei für Loser, und das eine Mal war der Scherz eines
Freundes...). Was jedoch weder lange, noch gut gehen kann.
Für DON JON'S ADDICTION hat Gordon-Levitt Star-Kollegen für
Neben- und Kleinstrollen gewinnen können, neben einer etwas enervierenden
Johansson Juliane Moore oder – großartig! - „Wer ist hier der Boß?“-Tony Danza
als Jons italienischer Papa, der klar macht, woher der Sohnemann seine
Lebenshaltung hat. Angesichts dieser Besetzung (Anne Hatheaway veräppelt sich und
ihre Rom-Com-Rollen in einer kurzen Film-im-Film-Sequenz sogar selbst) und der
schwungvollen Herangehensweise als Komödie (die Gordon-Levitt auf der
Pressekonferenz als dahingehend bewusste Wahl ausgab) könnte man leicht
übersehen, welches ernste, zeitgenössische und nicht nur medienkulturelle
Problem hier verhandelt wird. Dass Jon und seine Kumpel in ihrem Sexismus, mit
ihren frauenfeindlichen Sprüchen wenig realitätstauglich und -berechtigt sind,
ist (auch auf der Leinwand, insbesondere der des moralischen Hollywoodkinos)
längst kein Geheimnis mehr. Dass aber auch umgekehrt Barbara sich tatsächlich
nicht wirklich für ihren Freund Jon interessiert, insofern sie ihn ihren
Vorstellungen von Partnerschaft und Lebensplan zurechtmodelliert und ihn, als
das nicht klappt, gänzlich und selbstverständlich als eine Art Fehlinvestition
schnellst- und radikalstmöglich verabschiedet, sieht man im Kino so schon
weniger häufig und problematisiert (weshalb sich DON JON'S ADDICTION diesem
Aspekt
auch merklich vorsichtig und
beiläufig widmet).
Vor diesem Hintergrund thematisiert der Film folglich nicht
nur, sondern ist teilweise Ausdruck der Krise eines aktuellen modernen
Möchtegern-Don-Juan. Einem, der sich lieber in hyperperfekten Sex-Virtualitäten
verliert (und zu verlieren traut), als sich mit den Unwägbarkeiten, An- und
Überforderungen der Wirklichkeit, ihren Unklar- und Unwägbarkeiten,
Rollenpflichten und Leistungsanforderungen auseinanderzusetzen. In dieser
Hinsicht erreicht in einigen Momenten das Reflexions- und Tarnungsniveau eines
Judd Apatow.
***
Ähnlich gefühls- und geschlechts(modell)verwirrt ist Marc (Hanno Koffler), der mit seinem Kollegen Kay (Max Riemelt als
bleicher selbstzerstörerischer Verführer) eine homosexuelle Beziehung anfängt,
derweil die Freundin (sehr gut: Katharina Schüttler) im engen Elternhaus von
Marc schwanger ist. Pikant an der Liaison darüber hinaus: Marc und Kay sind
beides Schutzpolizisten, und zwischen kernigen Kommentaren in der
Gemeinschaftsdusche und Einsätzen in Körperpanzerung gegen Fußballrowdys ist
derlei nicht nur trotz, sondern gerade wegen der weiblichen Kolleginnen (und
ihren Hetero-Erwartungen) nicht sonderlich wohlgelitten.
Sauber, auch ein wenig fernsehtauglich hat Stephan Lacant
diese Geschichte mit dem Titel
FREIER FALL (Reihe "Perspektiven Deutsches Kino") inszeniert und dabei ein Schicksal
skizziert, das auch heute noch alles andere als alltäglich ist. Ungekünstelt
sind die Dialoge, und das passt allein schon deshalb, weil wir Figuren zusehen,
die gewöhnliche Normalität erleben, vortäuschen, wiederherstellen oder für sich
selbst (er-)finden, zumindest erobern wollen. Auch Koffler ist eine gelungene Besetzung
als Marc: Zum einen passt sein leicht dumpfes, wuchtiges Äußeres, seine
Macher-Mimik und Arbeiter-Gestik – wie der Adam in W IMIĘ – wenig zum Stereotyp
eines zärtlichen Schwulen, der sich diffizil mit seinem Inneren konfrontiert.
Zum anderen ist es Kofflers Rollengeschichte als – natürlich bloß vordergründig
- selbstverliebtes und gedankenflaches Macho-Großmaul mit dem Hang zum Affekt (zuletzt
im bemerkenswerten TV-Film AUSLANDSEINSATZ), die hier einen gelungenen
Hintergrund bildet. Freilich: als selbstsicherer Homosexueller war Koffler
bereits auch schon zu sehen: 2004 in Marco Kreutzpaintners SOMMERSTURM ...
***
Schließlich: Ulrich Seidl mit dem Abschluss seiner
PARADIES-Trilogie, deren erster beiden Teile (PARADIES: LIEBE und PARADIES:
GLAUBE) in Cannes und Venedig liefen. Nun also
PARADIES: HOFFNUNG, in Berlin,
und man kann hinsichtlich der überwiegend statischen, streng geometrisch
ausgerichteten Bildern, in denen sich Menschen zum Affen machen oder zum Affen
machen lassen, schon ein bißerl von einer Masche reden. Aber nachdem dieser
Ansatz in LIEBE noch einen unguten Geschmack hatte, weil der Sextourismus
älterer weißer Damen in Afrika an und für sich so schon etwas Groteske,
Aberwitziges, mithin Traurig-Erbärmliches hatte, ohne dass es dazu noch die
Seidlrismen gebraucht hätte, ist der außerirdische, so neutrale, distanzierte und
darum so hundsgemeine Blick (den Seidl mit dem besseren Todd Solondz entfernt verwandt
sein lässt) in HOFFNUNG ganz bei sich und am rechten Fleck. In einem Diät-Camp,
das an ein Landschulheim aus den Spät-70ern mit Drillprogramm gemahnt, soll die
13-jährige Melanie (Melanie Lenz) zusammen mit anderen Adipositas-Jugendlichen
überzählige Pfunde verlieren. Wobei sie sich in den Arzt vor Ort verliebt, der
so prinzipiell der Aufmerksamkeit seiner liebesbedürftigen wie linkischen
Verehrerin nicht abgeneigt scheint und sich gar zum einen oder anderen
Doktorspiel hergibt.
Jeder mag sich selbst aussuchen, was er hier eher – wenn überhaupt
was – angeprangert sieht: die Fettleibigkeit als Ausdruck einer generellen Modernitätstristesse
oder das alberne müde, das aktionistische Streben gegen das Symptom, so wenn die pummeligen Jungen
und Madel hintereinander weg durchs Bild beim Purzelbaum schlagen kugeln, marschieren
oder „nordic walken“. Oder in Reihe an der Sprossenwand hängen wie arme Tröpfe.
Egal, so schamlos und bitterböse darf man sich sonst wohl nirgends über dicke Kinder
amüsieren, über intimen Erfahrungsaustausch in Sachen Sex von minderjährigen,
pubertierenden Mädchen und sogar über eine (Beinah-?) Affäre eines
Mitvierziger-Doktors in stets offenem Hemdkragen und feschen Jeans mit einer
ebensolchen. Die Österreicher halt… Bei uns – und überhaupt, manch anderem außer
Seidl –: ein Unding!
Aber weil das Lachen doch auch immer vom Publikum selbst
gemacht ist und zumindest im Halse kratzt, so es dort nicht steckenbleibt, weil man
Seidl vor allem jedoch eine Sympathie und seltene Offenheit gegenüber gerade
seinen jüngeren Darstellern (bei denen einmal mehr die Grenze zwischen Rolle und
Laiendarsteller-Person verwischt) zu attestieren ist: Deshalb ist PARADIES: HOFFNUNG
unter der Firnis der Groteske ein bemerkenswert einfühlsames Stück. Eines, das
nicht etwas – oder nur scheinbar – die zentralen jungen Figuren und ihre
Akteure bloßstellt, sondern wenn jemanden, dann eigentlich den Zuschauer mit seinem
geforderten Blick im Kinosessel selbst.
zyw