Kino: „Remember Me“ - Schmerzhaftes Erinnern

„Remember Me“, USA 2010, Regie: Allen Coulter, Kinostart: 25.03.2010

Unregelmäßig aufleuchtende Buchstaben erscheinen auf einem flackernden Hintergrund: REMEMBER ME. Der Schriftzug verblasst, das Spiel aus Licht und Schatten wird gleichmäßiger. Es hat den Rhythmus eines Gegenstandes, der mit sehr hoher Geschwindigkeit vor dem Auge des Betrachters vorbei zieht. Zwei dunkle Umrisse zeichnen sich ab. Wie Figuren auf der Projektion eines Filmstreifens.
Es sind zwei Silhouetten, die durch die Scheiben eines vorbeifahrenden Zuges aufblitzen. Wir befinden uns auf einem dunklen Bahnsteig in Brooklyn, New York, im Jahr 1991. Eine Frau wartet mit ihrer kleinen Tochter auf den nächsten Zug. Die Tochter dreht munter Pirouetten. Die Mutter lächelt. Sie schaut sich um. Zwei verdächtig wirkende Typen bringen erste Dunkeltöne in die Szenerie. Der Zug fährt endlich ein. Die Typen agieren schnell – sie umstellen die Frau und bedrohen sie mit einer Waffe. Ein Überfall. Die Frau hält ihre Tochter schützend hinter sich, gibt den Männern, was sie wollen. Diese steigen mit der Beute in den Zug. Die Türen schließen sich. Stille. Für einen Moment schauen sich Opfer und Täter noch einmal in die Augen. Dann gehen die Türen wieder auf. Einer der Typen richtet seine Waffe direkt auf die Frau. Er drückt ab. Das Mädchen schreit. Der Zug fährt los.

REMEMBER ME – Ally Craig (Emilie de Ravin) war gerademal 11 Jahre alt, als sie miterleben musste, wie ihre Mutter ermordet wird. Eine schmerzhafte Erinnerung, die sie ihr Leben lang nicht vergessen wird. Zehn Jahre später versucht sie jeden Moment so zu leben, als ob es gleichzeitig der letzte sein könnte. So bestellt sie im Restaurant das Dessert immer zu erst – wer kann schon mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob er das Essen bis zur Nachspeise überleben wird?

New York, Lower East Side: Die Kamera fährt langsam durch ein versifftes Apartment. Es ist Morgen. Das Telefon klingelt. Wir betreten das Schlafzimmer. Ein nacktes Bein, das anmutig unter der Bettdecke hervor lugt, lässt erahnen, was für eine junge Schönheit sich gerade im Bett räkeln muss. Doch nicht ihr gilt unser Interesse, sondern einem jungen, attraktiven Mann, der draußen am Fenster auf der Feuerleiter hockt und lässig eine Zigarette raucht: Robert Pattinson. Im strahlenden Morgenlicht. Hehe. Sein Charakter, Tyler Hawkins, besitzt die unheimliche Coolness, die nur solchen Figuren teilhaftig ist, denen das penetrante Klingeln eines Telefons absolut nichts ausmachen. Als er das Zimmer schließlich betritt und an das Telefon geht – ganz vorsichtig, um nicht what’s-her-name aufzuwecken – durchfährt ihn eine plötzliche Unruhe: Es ist ein Erinnerungsanruf. Wie konnte er es nur vergessen? In der nächsten Einstellung steht Tyler halbausgeschlafenen im schwarzen Anzug an einem Grab. Um ihn herum eine Schar ebenfalls schwarzgekleideter Menschen. Es ist seine Familie. Sie stehen zusammen am Grab seines Bruders Michael, der vor sechs Jahren Selbstmord begann.

REMEMBER ME – Tyler setzt alles daran, seinen großen Bruder Michael nicht zu vergessen. Jeden Sonntag geht er in das Café, in dem er und Michael immer zusammen frühstückten, und all seine Gedanken, die er in sein kleines Büchlein niederschreibt, adressiert an seinen Bruder. Doch ist es sehr schwer, die Erinnerung an jemanden festzuhalten, der sich auf so unverständliche Weise aus dem eigenen Leben entfernte. Tylers Erinnern wird somit zu einer doppelt schmerzhaften Angelegenheit: Die Trauer um den Verlust seines geliebten Bruders geht einher mit einem unbändigen Zorn über das Nicht-Nachvollziehen-Können der selbstmörderischen Tat seines Idols. Tiefgreifende Selbstzweifel treiben den sensiblen Tyler in eine sich meist körperlich entladene Aggression, die sich letztlich nur gegen ihn selber richtet. Sein Erinnern macht ihn verletzlich und verletzend zugleich.

So unterschiedlich der Umgang mit dem Schmerz bei den beiden Twentysomethings auch ist, ihre Trauer ist doch etwas, das sie wie ein unsichtbares Band miteinander verbindet. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Schicksal (oder vielmehr ein allzu zielstrebiges Drehbuch) diese beiden jungen Menschen aufeinanderstoßen und sich sofort verlieben lässt. Das Ergebnis ist ein Liebesdrama, das die gelegentlichen Ausrutscher des Scripts in kitschige Plattitüden durch stilsicher inszenierte Familiendrama-Einstreuer auszugleichen versucht.

Denn der Film funktioniert vor allem über seine spannungsreichen Figurenkonstellationen: Die Auseinandersetzung mit dem Tod hat die Dynamik innerhalb beider Familien maßgeblich verändert. Während Ally nun allein mit ihrem Vater Neil Craig (Chris Cooper) leben muss, einem über den Tod seiner Frau verbitterten Cop aus Queens, hat sich Tylers Mutter Diane (Lena Olin) neu verheiratet und Tylers Vater Charles (Pierce Brosnan) immer mehr von Tyler und seiner kleinen Schwester Caroline (Ruby Jerins) distanziert. Durch dieses reichliche Konfliktpotenzial entwickeln sich die folgenden Familienszenen, vor allem die Konfrontationen zwischen den beiden jungen Protagonisten und ihren Vätern, zu kleinen Höhepunkte des Films. Die Schwere der Trauer lässt die Charaktere nicht offen miteinander umgehen, Konflikte werden in das Innere verschoben, brodeln dort aber nur umso heftiger weiter. Die ständige Präsenz des Unausgesprochenen ist es, die in solchen spannungsvollen Momenten an der Oberfläche der Charaktere so lange herum kratzt, bis es zu vulkanartigen Gefühlsausbrüchen kommt und die unterdrückten Emotionen den Figuren nur so um die Ohren fliegen.

Regisseur Allen Coulter („Die Hollywood-Verschwörung", 2006) schafft es, bei aller Melodramatik nicht zu sehr ins Klischee abzurutschen, und versucht eine nachvollziehbare Charakterstudie über Menschen in Trauer abzuliefern. Ihm zur Seite steht ein hervorragender Cast, angeführt von einem charismatisch kühlen Pierce Brosnan und einem wie immer beeindruckenden Chris Cooper, der seltsamerweise gerade in den Rollen der gewalttätigen Autoritätspersonen am meisten aufzublühen scheint. Neben diesen und anderen Schauspielgrößen wie etwa der Schwedin Lena Olin („Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, 1987) überzeugen auch die Jungschauspieler, wie etwa die Australierin Emilie de Ravin, bekannt aus der US-Serie „Lost“ (2004). Selbst Robert Pattinson gibt sein Bestes, sein Teenieschwarm-Image als Edward aus der Vampirschmonzette „Twilight“ abzulegen und die Tiefen seiner Rolle zu ergründen. Dies gelingt ihm sogar über weite Strecken, allerdings droht er ab und an, zu sehr in bemühte James Dean-Attitüden abzustürzen.

„Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muss man leben.“


Mit diesen beiden Versen endet Mascha Kalékos berühmtes Gedicht „Memento“. Das unmögliche Unterfangen des Menschen, mit dem Tod einer geliebten Person leben zu können, das ist es, was der Film „Remember Me“ nachzuempfinden versucht. Ob es ihm immer so überzeugend gelingt, ist eine andere Frage. Gerade das überraschende Ende, das mit einem gewaltigen Twist Protagonisten wie auch Zuschauer förmlich erschlägt, dürfte bei vielen Leuten zu polarisierenden Reaktionen geführt haben. Letztlich ist der Film doch vor allem in dem am stärksten, was er nicht zeigt.

REMEMBER ME: Im Gewirr aus Liebe und Verlust, Trauer und Glück bedeutet die Erinnerung an das unwiederbringlich Vergangene vor allem eins: Schmerz.


Simon Born


Regie: Allen Coulter. Drehbuch: Will Fetters. Musik: Marcelo Zarvos. Kamera: Jonathan Freeman. Produzenten: Nicholas Osborne, Trevor Engelson. Ausführende Produzenten: Carol Cuddy, Robert Pattinson.
Darsteller: Robert Pattinson (Tyler Hawkins), Emilie de Ravin (Ally Craig), Chris Cooper (Sergeant Neil Craig), Lena Olin (Diane Hirsch), Tate Ellington (Aidan Hall), Ruby Jerins (Caroline Hawkins), Pierce Brosnan (Charles Hawkins)
Verleih: Concorde
Laufzeit: 113 Min.
Kinostart Deutschland: 25.03.2010

DVD: „Klass - Die Chronik einer Katastrophe“ – Schule der Gewalt

„Klass“, Estland 2007, Regie, Drehbuch: Ilmar Raag.


In einen empfindlichen Bereich der politischen Korrektheit begibt sich Ilmar Raag mit seinem Film, eine sich über sieben Tage erstreckende und in ebenso viele Kapitel geteilte Geschichte über zwei Amokläufer. Der gewagte Schritt besteht darin, Amokläufer und Opfer als eins darzustellen. Anders als Gus van Sants „Elephant“ vermeidet dieser Film den Arthouse-Look und entscheidet sich für einen dem Thema naheliegenden, dokumentarischen Kamerablick.

Der Film ist gleichzeitig eine Studie der Gewalt und ihrer Entwicklungen innerhalb von Gruppen von Jugendlichen, dort also, wo Persönlichkeiten und Identitäten sich erst kristallisieren. „Klass“ steht für die Klasse, die unter der radikalen Persönlichkeit des Prüglers Anders (Lauri Pedaja) nach und nach im Verlauf des Films nicht mehr aus einzelnen Schülern besteht, sondern zu einer kompakten Masse wird, mit dem einzigen Zweck, Joosep (Pärt Uusberg) durch Prügel und sich bis ins Unmenschliche steigernde Demütigungen klarzumachen, dass er ein Freak sei. Nur ein Individuum, Kaspar (Vallo Kirs), sticht aus dieser Masse heraus und versucht den anderen ihre Ungerechtigkeit klarzumachen, und das wird zu seinem Ende führen.

Sehr direkt und schonungslos knüpft „Klass“ an dem Nationalsozialismus ähnlichen, martialischen Verhältnissen an, und lässt eine Gemeinschaft den Nichtangepassten offiziell abstoßen. Ein zunächst in sich geschlossenes Universum der Gewalt entfaltet sich über seine Grenzen hinaus und greift in die zuerst noch als anders erhoffte Welt der Autorität der Erwachsenen ein, macht klar, dass Joosep, weil er ein Freak ist, nicht anders behandelt werden darf.

Wie Haneke in „Funny Games“ zieht Ilmar Raag alle vorhandenen Register, um eine sehr intensive, sehr schwer auszuhaltende Dramaturgie zu entwickeln. Einerseits durch den dokumentarischen Blick der Kamera verstärkt, andererseits durch die sichtlich unerfahrenen, aber glänzenden jungen Schauspieler, die einen ungeheuer realen Raum um sich schaffen, wagt „Klass“ den perversen Schritt, den Zuschauer in die Lage zu bringen, mit dem tragischen Ende zu sympathisieren.

Natürlich reicht eine Woche erzählte Zeit eigentlich nicht, um ein solches Ausmaß an Folgen auszulösen. So werden Geschehnisse dargestellt, die sich kaum mehr im Rahmen des Möglichen befinden. Wie etwa den überspitzten Humor der Lehrer oder ihre Rücksichtslosigkeit manchem Schüler gegenüber. Oder das so sehr in sich geschlossene Universum der Klasse, zu der Joosep gehört, dass alle Einflüsse von außen vor den ungeschriebenen Gesetzen dieses kleinen Systems einfach verschwinden. Ebenso die Kommunikation, die nie zustande kommt, die vor allem als Ausdruck einer vermeintlichen Persönlichkeit der Schüler nichts anderes zu bieten hat als einen Leerraum, den die Klasse als gewalttätige Einheit ungeheuerlich füllt.

„Klass“ ist einer der packendsten Filme, die in diesem Frühjahr auf DVD erscheinen, der es unheimlich präzise versteht, sich nicht nur an all seinen zur Verfügung stehenden Mitteln, sondern auch an der Rezeptionskultur des Zuschauers zu bedienen, um einen radikalen Akt beinah manipulativ zu erklären. So, dass es am Ende nur Freude bringt, die Worte Kaspars zu hören, nachdem er mehrere Schüler erschossen hat: „Ich sterbe nicht. Euch zum Trotz. Ich sterbe nicht.“


Ciprian David


„Klass“
Regie, Drehbuch: Ilmar Raag. Kamera: Kristjan-Jaak Nuudi. Musik: Martin Kallasvee, Paul Oja, Timo Steiner. Produktion: Ilar Raag, Riina Sildos.
Darsteller: Vallo Kirs, Pärt Uusberg, Lauri Pedaja
Land: Estland
Verleih: MFA+ Filmdistribution
Länge: 98
Verkauf: 18.3.2010


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DVD: „Exte: Hair Extensions“ - Haarhorror von Sion Sono

„Exte: Hair Extensions“ / „Ekusete“, Japan 2007, Regie: Sion Sono.


Haare sind gruselig. Sehr oft werden sie im Horrorfilm als starker visueller Effekt benutzt. Sie verdecken Gesichter, wie eine Maske ohne Züge, ohne Augenschlitze, und verwandeln diese in das drohende Unbekannte. Oder sie fallen ab, als Zeichen der Zerstörung der körperlichen Integrität, als Metapher des Verfalls einer Person. Doch in Sion Sonos Film sind sie viel mehr als das, sie werden zum Hauptakteur, zur vernichtenden Kraft, zur eigenständigen Waffe.

Der Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass viele Frauen ihre Haarpracht durch Extensions verschönern. Diese Extensions sind meistens echte Haare, von anderen Menschen stammend. Und das Tragen von Haaren anderer Menschen scheint niemanden zu stören. Nein, es wird gemacht, obwohl es nur um Schönheit geht, und einen entwickelten Markt dafür gibt es auch. Anders sieht es aus, wenn es sich um die Gesundheit handelt, und darauf geht der Film ein: Ein Mädchen wird ihrer Organe und ihrer Haare beraubt, nachdem sie entführt wurde. Diese landen auch auf einem Markt, für Organe ist der Markt aber zunächst schwarz. Die Opferperspektive und das Leiden gewinnen in diesem Fall Oberhand, der Wille des Opfers ist das, was den Film in seiner Handlung bewegt: die Haare des Mädchens wachsen auch nach ihrem Tod weiter. Sie entwickeln gar ein Eigenleben: eine Glocke, die das Mädchen während ihrer Misshandlung in der Hand hielt, wird zum pawlowschen Auslöser, der die Haare zum Erwachen bringt. Einmal erwacht, kennen sie nur eins: Rache.

In einem Container wird die Leiche des Mädchens entdeckt, am Hafen. Sie wird in eine pathologische Einrichtung gebracht und trifft dort im Angestellten Yamazaki (Ren Ôsugi) auf einen Haarfetischisten. Dieser entdeckt schnell den Haarwuchs und nimmt sie mit zu sich Zuhause. Dort bekommt sie einen improvisierten Altar, in einer Hängematte zwischen Boden und Decke schwebend, und Freiraum für ihren Haarwuchs. Yamazaki sorgt dafür, dass Strähnen von ihrem Haar in verschiedenen Friseursalons unter die Menschen kommen und ihr vernichtendes Werk anrichten können.

Parallel dazu zeigt der Film die Geschichte der angehenden Hairstylistin Yûko Mizushima (Chiaki Kuriyama) und ihrer Nichte Mami (Miku Satô). Unter den seelischen und körperlichen Misshandlungen von Kiyomi (Tsugumi), Schwester von Yûko und Mutter von Mami, haben sich beide, wie die Haare des von ihren Organen beraubten Mädchens, ein reflexartiges Verhalten angeeignet. Während Yûko mit dem Erwachsenwerden diesen Druck von außen hinter sich lassen konnte, lebt das kleine Mädchen in einer aus drei Zeilen bestehenden Welt: „Ja.“, „Ich habe verstanden.“ und „Entschuldigung.“ Durch die Mutter bekommt die Kleine auch körperlichen Schmerz zu spüren, was zu einer zusätzlichen Sensibilisierung des Zuschauers führt und zu einer Intensivierung der Szenen zwischen den drei. Mami wird also für eine Weile bei ihrer Tante abgegeben und lernt langsam die Vielseitigkeit des Lebens eines Menschen kennen. Doch durch den Friseursalon, in dem Yûko ihre Ausbildung macht, kommen die beiden mit den mörderischen Haaren in Kontakt.

Die zwei Erzählfäden, die der Film aufnimmt, treffen nur forciert aufeinander und hinterlassen den Eindruck, es würde sich um zwei sinnverwandte, ineinander geschnittene Filme handeln. So sind oft die Szenen, in denen Mami Hilflosigkeit gegenüber ihrer Mutter zeigt, viel intensiver als die Horrorszenen um die mörderischen Hair Extensions, und sie verwandeln den Film schließlich doch vielmehr in einen Essay. Dieser essayistische Ansatz lässt sich auf einer subtileren Ebene wiederfinden, indem mit leisen Tönen die Geschichte der Befreiung Yûkos von gesellschaftlichen Zwängen im Hintergrund erzählt wird. Durch einen genialen Inszenierungstrick berichtet sie am Filmanfang auf dem Weg zur Arbeit diegetisch und gleichzeitig als wäre sie ein Dritter, ein Erzähler, über ihr Leben. Ein Leben, das auch, diesmal von ihren Karriereambitionen, bedingt und unterdrückt wird, das ihr keine Zeit lässt, das Meer fünf Minuten am Tag zu betrachten, obwohl sie täglich vorbeifährt, ein Leben, das keinen Raum für private Verhältnisse bietet. Mit der Entwicklung Mamis entwickelt aber auch Yuko Persönlichkeit und ihr Talent als Hairstylistin schafft es nach und nach, die Fleißarbeit in den Hintergrund zu drängen.

„Exte: Hair Extensions“ gibt sich als visuell beeindruckender Unterhaltungshorror, der oft für Nervenkitzel sorgt. Doch die Albernheit des Themas lässt die essayistische Konstruktion oft in den Vordergrund treten und weist ihn als ein Essay auf drei Ebenen über die Identität und Integrität des Menschen aus, seinen Körper, die Beziehungen zu den Menschen seiner näheren Umgebung und seine Position in der Gesellschaft betreffend.

Fast drei Jahre nach seinem Kinostart wird er bei Rapid Eye Movies in die Edition Asien aufgenommen und als außergewöhnlicher asiatischer Film auf dem deutschen DVD-Markt vorgestellt. Auf der DVD befindet sich ein ausführliches Making-of, die die ganze Besetzung und den Regisseur zu Wort kommen lässt, welches Einblicke in den Einstellungen der Schauspieler dem Film und den gespielten Charakteren gegenüber gewährt, sowie in die Gestaltung der Spezialeffekte durch Greenscreens und Masken bietet. Dabei konturiert sich Sion Sonos Arbeitsweise, die verschiedenen Einflüsse auf seine Filme, von Charakter- und Dialoggestaltung bis hin zu Szenen, Ideen und Motiven vor und während dem Dreh werden vorgestellt.


Ciprian David



„Exte: Hair Extensions“ / „Ekusete“
Regie: Sion Sono. Drehbuch: Shion Sono. Masaki Adachi, Makoto Sanada. Kamera: Hiro'o Yanagida. Musik: Tomoki Hasegawa, Sion Sono. Produktion: Tsugio Hattori, Makoto Okada.
Darsteller: Ren Osugi, Chiaki Kuriyama, Megumi Satô, Tsugumi
Verleih: Rapid Eye Movies
Länge: 123 min.
Veröffentlichung: 19.03.2010


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DVD: „Alle Anderen“ – Im Urlaub allein

„Alle Anderen“, Deutschland 2009, Regie, Drehbuch: Maren Ade.


In einer sehr fragilen Idylle haben sich Gitti (Birgit Minichmayr) und Chris (Lars Eidinger) wie in einem Kokon eingenistet. Ihre kompakten Persönlichkeiten werden schon am Anfang des Films über Chris’ Nichte und Neffe, die sie einen Nachmittag lang betreuen, spielerisch vorgestellt: Der introvertierte, kompromisslose Architekt mit künstlerischen Ambitionen, Chris, kann bestens durch Laute mit dem Baby seiner Schwester umgehen, während seine Freundin, eine direkte, gesprächsbedürftige und Transparenz-fordernde PR-Agentin der Schwester des Kleinen die schonungslose Artikulierung der Gefühle zwecks Klärung der Position zueinander beibringt. Die ehrlichen Worte und ein Fingerschuss des Mädchens werden prompt von Gitti durch eine grandios gespielte Agonie des Sterbens belohnt.

Und diese Agonie wird zum Programm in Maren Ades Film: Durch diese Anfangsszene gekennzeichnet, erlebt man als Zuschauer von nun an nichts anderes als das Sterben einer Beziehung, so, wie sie bis dahin war. Der Sardinien-Urlaub des Paares wird zum Anlass der Konfrontation der Differenzen zwischen den beiden, und wie bereits nach dieser Anfangsszene metaphorisch angedeutet, mag Chris diese Konfrontation nicht angehen. Seine Kommunikationsutensilien sind zwar sehr variiert, verlassen aber nie den Bereich des Spiels, suchen sich immer ein indirektes Medium, wie etwa Schnappi, sein phallisches Ingwer-Alter-Ego, oder die Weite der Verallgemeinerung. Doch ein Nestchen innerhalb der Beziehung ist Gitti alles andere als gerecht, und früh im Film wird Chris’ Verschlossenheit zu einem Schatten über den idyllischen Spielen der Anfangsszenen. Ständig um ihn, um die Beziehung bemüht, sucht Gitti das Gespräch, versucht ihren Freund in seinen Lebensplänen und -krisen zu unterstützen und treibt ihn dadurch umso mehr in seine einsame Gedankenwelt.

Ins Extrem gerät die Situation, nachdem das Paar einen Kollegen von Chris und dessen Frau trifft und die Einladung dieser Bekannten annimmt. Spätestens durch Hans und Sana wird deutlich, dass Chris seine Aufmerksamkeit nicht auf die Beziehung richtet, sondern auf seine Zukunft. Während Gittis Beruf auf der Ebene des Erwähnten bleibt, treten bei Chris die Liebe, der eigene Erfolg und das Bedürfnis nach Halt und Sicherheit in eine immer enger werdende, immer bedrückenderen Konstellation zueinander, in welcher sich Gitti ständig der momentanen Situation anpassen muss.

Und das versucht sie auch, und müde wird sie. Denn ihre Gemeinsamkeiten als Paar, ihre Meinungen und Haltungen, schlicht alles, was ihre Beziehung ausmacht, beschmutzt und entwürdigt Chris in seinem verzweifelten Versuch, in Hans’ Art einen Leitfaden für das eigene Leben zu finden. Durch Hans und Sana konturiert sich auch die Beschränktheit der Möglichkeiten, die Gitti und Chris als Liebespaar bevorstehen. Zwischen der spielerischen Abwesenheit der Kommunikation und der von dem anderen Paar demonstrierten ernsten Ablegung der Persönlichkeit und Individualität, jede dieser beiden Alternative in den Hauptcharakteren Echos findend, gibt es nur ein Verlierer: die Beziehung der beiden. Das Ende bleibt offen.

Durch die leichte, dokumentierende Kameraführung, die die Bewegungen der Protagonisten umeinander und aneinander vorbei in ihrem Gleiten reflektiert, entsteht in „Alle Anderen“ ein in sich geschlossenes, von Außen mit wenigen Ausnahmen unbeeinflusstes Universum. Die Stimmungsintensität lässt alle Höhepunkte verschwinden.

Für die erschienene DVD zum Film wurden in den Extras die Protagonisten in zwei Montagesequenzen namens „Ein Sommer ohne Chris“ bzw. „Ein Sommer ohne Gitti“ getrennt. Entfallene Szenen ergänzen das Geschehen, und alles wird ausführlich von Birgit, Maren und Lars kommentiert. Dazu gibt es noch Interviews und ein umfangreiches Booklet.


Ciprian David


„Alle Anderen“
Regie, Drehbuch: Maren Ade. Kamera: Nernhard Keller. Produktion: Maren Ade, Janine Jackowski.
Darsteller: Birgit Minichmayr, Lars Eidinger
Verleih: Prokino
Länge: 119 Min.
Veröffentlichung: 11.03.2010


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Grindhouse-Horror im Mannheimer Cinema Quadrat

Am Samstag wieder die monatliche Grindhouse-Nacht im Mannheimer Cinema Quadrat: Die Doppelnacht am 27.3. um 21.30 Uhr.
Diesmal:

Faceless

Spanien 1988. R: Jess Franco. D: Helmut Berger, Telly Savalas, Stéphane Audran.

Doktor Flamand ist ein angesehener Schönheitschirug. Durch ein Säureattentat einer wütenden Ex-Kundin wird das Gesicht seiner Tochter Ingrid entstellt. Seitdem lebt sie einsam in der Klinik, in der ihr Vater arbeitet und die seiner Geliebten Nathalie gehört. Flamand bittet in seiner Verzweiflung, Ingrids Gesicht wieder herzustellen, den Altnazi Karl Moser um Hilfe. Moser hatte während des 2. Weltkrieges im KZ Dachau erfolgreich Gesichtsplantationen durchgeführt. Zu diesem Zweck kidnapped er junge Mädchen, denen er die Gesichtshaut abzieht und seiner Tochter transplantiert. Dann gerät ein Detektiv hinter die Machenschaften des mörderischen Arztes. Eleganter Voyeurismus mit einem herrlich großspurigen Helmut Berger und einem wie immer saucoolen Telly Savalas

Und:

Überraschungs-Horror

Was sich darunter wohl verbergen mag? Aus unterrichteten Kreisen verlautet, dass es wohl ein spanischer Zombiefilm werden wird...

Kino: „Ein Prophet“ – Das Innen und das Außen

„Ein Prophet“ / „Un prophète“
Frankreich 2009, Regie: Jacques Audiard


Schon am Anfang, im Vorspann, wird Orientierung in „Ein Prophet“ zum Schlüsselwort. Der Bildschirm bleibt zunächst schwarz, doch Geräusche sind aus dem Off zu hören. Über die Anfangs-Credits werfen unsichtbare Gestalten ihre Schatten, verstecken sie teilweise und beziehen damit den Zuschauer in diese Suche nach Orientierung mit ein. Dann folgen die ersten Bilder: Eine schnelle Folge von Nahaufnahmen, die den Hauptcharakter gleichzeitig vorstellen und verstecken, zeichnen die engen Grenzen von dessen zukünftigen Lebensraums.

Er wird gerade ins Gefängnis geführt. Durch die Gitter des Polizeiwagens sucht sein Blick die Außenwelt, doch diese streift zu schnell an dem Wagen vorbei, sein Horizont hört bei diesen Gittern auf. Viel erfährt man nicht über Malik El Djebena (Tahar Rahim), außer dass er 19 Jahre alt ist, dass er zwei Polizisten mit einem Messer angegriffen haben soll. Verwandte hat er nicht, Bekannte ebensowenig, sein einziges Gut sind 50 Franc, und er scheitert noch daran, diese ins Gefängnis zu schmuggeln. Denn Malik ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Gefängnis noch nicht geboren.

Seine Taufe ergibt sich aus den Konfliktinteressen zwischen den Gruppen von Insassen, die das Gefängnis dominieren. Somit wird der Film zu einer Sozialstudie, die Korsen auf der einen Seite, unter der Führung von César Luciani (wunderbar von Niels Arestrup verkörpert), auf der anderen die Moslems. Nachdem Malik von zwei Moslems seiner Schuhe beraubt wird, gehen die Korsen auf ihn zu und stellen ihn vor eine Wahl. Entweder tötet er einen anderen Insassen und kommt im Gegenzug in den Genuss ihres Schutzes, oder sein Leben wird durch sie ein schnelles Ende finden. Er wählt das Leben und dieser Mord soll seine Wiedergeburt, seine Taufe sein.

Malik El Djebena ist kein Mörder. Seine Versuche, sich vor der Tat zu drücken, scheitern alle, und die Welt um ihn herum fängt an, sich ihm zu öffnen: Die Macht der Insassen reicht bis zu den Gefängniswärtern. Er muss sich also auf die Mordtat vorbereiten, sie verarbeiten. Und diese Vorbereitung inszeniert Regisseur Jacques Audiard sehr konsequent, indem er das Innere des Protagonisten durch die Darstellung des Äußeren ausdrückt. Verkörpert durch die Rasierklinge, die als Mordwaffe dienen soll, lässt das Gewissen des werdenden Mörders zuerst ihn selber den Schmerz dieser Verwandlung spüren: Malik muss diese Klinge in seinem Mund verstecken, und dies zu beherrschen braucht Übung. Doch es gelingt ihm. Für wenige, sehr intensive Augenblicke erlebt er im Sterben des anderen Insassen, eines Bruders im Glauben, seine Wiedergeburt.

Von diesem Moment an interessiert sich der Film mehr für Malik selbst. Man erfährt, dass er nicht lesen kann, doch er wird es lernen. Zusätzlich lernt er Italienisch, um seine Beschützer zu verstehen. Die Räume und Flure des Gefängnisses werden zum Kindheitsort des neuen Malik El Djebena, dem Araber unter den Korsen, wie ihn die anderen Araber sehen, und gleichzeitig dem Korsen unter den Arabern, wie ihn die Korsen langsam annehmen werden. Doch bis dahin bleibt dieser Blick von außen definitorisch für seine Identität, dieser Blick, mit dem sein Leiden sich von ihm losgelöst hat und zu einer Rasierklinge geworden ist. Die Rasierklinge ist aber zurückgetreten, an ihrer Stelle steht der prägende Moment seiner Wiedergeburt. Sein neuer Begleiter ist der Geist seines Opfers. Dieser Geist ist gleichzeitig Doppelgänger und Mentor, erklärtihm die Welt und beschützt ihn, dieser Geist ist sein prophetisches Bewusstsein. Und wie der Titel ankündigt, ist dieses Bewusstsein der Schlüssel des Films.

Doch was ist das Prophetische? Es ist das Führen eines Opfers aus dem Leben hinaus, den sakralen Moment des Opfers miterlebend, und sich dadurch von diesem Sakralen anstecken lassen, es ist aber gleichzeitig das bloße Überleben. Und Überleben heißt, die Welt um sich herum zu durchblicken, in ihrer Struktur, vor allem aber in ihrer Entwicklung, denn das ist es, was Malik von nun an macht.

Ganz unten anfangend, als Lakai für César, erweitert er nicht nur seine Sprachkenntnisse, sondern auch seinen Blick in die Machtstrukturen des Gefängnisses, in die Interessenkonflikte zwischen den Gruppen, in die Reichweite des Netzes, das César zum thronenden Patriarchen über diese Masse an Brutalität, Macht und Geld macht. Nach und nach wird er zu Augen und Ohren des alten César, seine Interessen liegen zunächst innerhalb des Gefängnisses, dann, aufgrund seiner abgesessenen Zeit und guter Führung, auch außerhalb, während des ihm durch die Hilfe von César gegönnten Freigangs.

Draußen lernt Malik, dass dort dieselbe Ordnung herrscht wie im Gefängnis, die Machtmenschen dieselben sind, dass die Gitter bloß zu einer Metapher einer zuerst so präsenten Welt werden können. Als Araber unter den Korsen ist er der ideale Mittelsmann, und sein Bewusstsein lässt ihn dies zu seinem eigenen Vorteil nutzen. Er fängt an, immer mehr auf eigenem Fuß nebenbei zu handeln, mit allen Parteien vernetzt, und gewinnt nach und nach die Makroperspektive auf diese Gesellschaft der Macht und des Geldes, die Perspektive, die den einzelnen Gruppen immer versteckt blieb.
Malik geht sogar über diese Welt der rauen Gewalt hinaus, lebt sich in einer Familie ein, in der Familie eines ehemaligen Mitinsassen, der bald sterben und ihm, wie einst sein Opfer am Anfang des Films, eine neue Perspektive eröffnen wird. Immer mehr definieren ihn seine Taten anstatt der Blick von außen, immer mehr tritt sein Doppelgänger in den Hintergrund bis hin zum Verschwinden, immer mehr nähert sich der Moment, wo er den alten Patriarchen konfrontieren muss, um seine Stelle einzunehmen, um das fragmentierte Alte zu ersetzen und es zum einheitlichen Neuen zu verwandeln. Und erst wenn dieser alte César, der zu sehr an seine Macht geglaubt hat und nicht mehr dahinter zu schauen vermochte, im Gefängnishof am Boden liegt, sein Statussymbol völlig ablegend, erst dann ist Malik frei, ein Mensch mit vollen Rechten, erst dann öffnet sich für ihn das Gefängnistor zum letzten Mal, ihn in das Absolute der Freiheit hinaus lassend.

„Ein Prophet“ ist ein Epos von großer Intensität und Stärke, ein Film, der durch seine Struktur und Geschichte, aber auch Regie und Kameraführung imponiert, ein Film aber, der gleichzeitig mit großer Aktualität und analytischem Gespür einen tiefgehenden Einblick in die sozialen Verhältnisse in französischen Gefängnissen wagt, und dadurch die große Frage der Globalisierung aus einer neuen Perspektive durchleuchtet.


Ciprian David



„Ein Prophet“ / „Un prophète“

Regie: Jacques Audiard. Drehbuch: Thomas Bidegain, Jacques Audiard. Originaldrehbuch: Abdel Raouf Dafri, Nicolas Peufaillit. Musik : Alexandre Desplat. Kamera : Stéphane Fontaine. Produktion: Lauranne Bourrachot, Martine Cassinelli, Marco Cherqui.
Darsteller : Tahar Rahim, Niels Arestrup, Adel Bencherif.
Verleih: Sony
Kinostart : 11.03.2010
Länge: 155 Min.

DVD: „Durst“ – Vampirismus à la Chan-Wook Park

„Durst“ / „Bakjwi“
Südkorea 2009. Regie: Chan-Wook Park


Wie in „Old Boy“ und „I'm a Cyborg, But That's OK“ thematisiert der südkoreanische Starregisseur Chan-Wook Park auch in diesem Film die Grenzen des Menschlichen. Ob „Monster“, die zweite Persönlichkeit des Hauptcharakters, Erzeugnis einer 15 Jahre langen Einsperrung in „Old Boy“, oder eine Frau, die denkt, sie sei ein Cyborg und deswegen mit ihrer in Gefühlen und Hunger manifestierten Menschlichkeit in Konflikt gerät, die gemeinsame Linie wird in „Durst“ weitergeführt.

Der Rahmen ist in „Durst“ ein anderer: Der Priester Sang-hyeon (Kang-ho Song), Seelsorger für Sterbende, geht seinem Glauben nach und bietet sich in einem biomedizinischen Labor in Afrika als Testsubjekt in der Studie über einen bisher hundertprozentig tödlichen Virus an. Dort wird er versehentlich mit dem Blut eines Vampirs infiziert und nach klinischem Tod als Blutsauger wiedergeboren. Zuerst als lebender Beweis für Wunder wahrgenommen, entpuppt sich der Priester als von Perversionen und Blutsucht geplagter Mensch. Während er seinen Blutdurst weiterhin aus der Priesterkleidung heraus und auf unorthodoxe Art am Sterbebett seiner Gläubigen stillen kann, wird er von seiner neuen Natur gezwungen, die sexuelle Facette seiner Süchte auf viel blutigere Art zu befriedigen.

Eine reichlich mit Splatter-Elementen geschmückte Bluttransfusion zeichnet den Weg von Sang-heyon. Zuvor als Priester das heilige Blut Christi an Gläubige ausschenkend holt er sich es zurück von den Sterbenden unter ihnen, und zwar direkt aus ihrem Leib, durch die Infusionsschläuchen, die sie am Leben erhalten. Den Beichten seiner Gläubigen geht er nach und bietet sich weiterhin als Seelsorger an, dazu aber auch als Blutentsorger für die, die bloß noch auf dem Tod warten.

Als Geistlicher vermeidet er Gewalt. Doch seine Kindheit holt ihn ein, er kommt mit der Familie eines Schulfreundes wieder in Kontakt und wird durch dessen Frau in seine Vergangenheit verwickelt. Der Vampir in ihm verlangt nach ihr, geißeln muss er sich täglich um mit Schmerz vom Schmerz abzulenken. Doch da treffen sie sich. Nachts. Mitten auf der Straße, ganz allein. Die barfuß von zuhause flüchtende Hobby-Schlafwandlerin steckt er in seine Schuhe, und das ist der Anfang vom Ende. Von nun an werden rasant die Sexualität und die Schmerzensgeschichte des Anderen entdeckt.

Doch was sie beide zunächst als Befreiung aus den bisherigen Verhältnissen erleben, ist von kurzer Dauer. Denn das Leiden, das den unerfahrenen Liebhaber mit Tae-ju (Ok-bi Kim) zu verbinden scheint, enthüllt sich immer mehr als reine Sexualität, beflügelt von ihrer Sucht nach der Freiheit des Ausbruchs ins Neue. Die für ihn immer deutlichere Angewiesenheit aufeinander mag sie genauso wenig anerkennen wie seine moralischen Bedenken und seinen Glauben. Dazu verfolgt sie der überspitzt dargestellte Geist des aus dem Liebesdreieck beseitigten Ehemannes. So wird der Ehebruch nur Anlass zur Hysterie, die alle Annäherungsversuche in Zorn enden lässt.

So sehr sich der Regisseur von einem Jahrhundert Vampirfilm bedient, so beiläufig, humorvoll, schematisch und spielerisch wird in „Durst“ darauf eingegangen. Im Vordergrund stehen immer das Leiden des zum Monster gewordenen Menschen, seine Einsamkeit und seine Ausweglosigkeit, die bis zum Ende aufrechterhalten werden. Die in der westlichen Welt ungewohnte Dramaturgie, am Anfang den Zuschauer auf ein Melodram einzustimmen, um mittendrin damit zu brechen und sich in ein düsteres Drama ohne Höhepunkte zu verwandeln, wirkt etwas gewöhnungsbedürftig. Ebenso funktioniert es mit den Charakteren des Films, die viele ihrer Facetten anreißen, ohne dass diese weitergeführt werden. Nichtsdestotrotz ist „Durst“ als Vampirfilm eine willkommene Erneuerung, die trotz der Flut der themenverwandten Produktionen der letzten Jahre nicht zu übersehen ist.

„Durst“ wurde unter anderem beim Fantasy Film Fest in Berlin gezeigt, genau am Geburtstag und doch in Anwesenheit des Regisseurs. Dafür wurde ihm vom Festivalpublikum vor der Diskussionsrunde gratuliert. Beides ist unter den Extras auf der DVD zu sehen. Mit einer Autogrammstunde, auch im Bonusmaterial enthalten, hat er im Gegenzug seine Fans beglückt.


Ciprian David


„Durst“
Regie: Chan-Wook Park. Drehbuch: Seo-Gyeong Jeong, Chan-Wook Park. Buch: Émile Zola (Thérèse Raquin). Kamera: Chung-hoon Chung. Musik: Young-ook Cho.
Darsteller: Kang-ho Song, Ok-vin Kim, Hae-sook Kim, Ha-kyun Shin, In-hwan Park
Produktion: Ahn Soo-Hyun, Chan-Wook Park
Verleih: MFA+
Start: 18.2.2010


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DVD: „Memories of Matsuko“ - Eine kleine Heilige

„Memories of Matsuko“ / “Kiraware Matsuko no isshô”
Japan 2006. Regie: Tetsuya Nakashima


Der 20-jährige Shou Kawajiri (Eita) wollte eigentlich Musiker werden und verließ daher seine Heimat, um nach Tokyo zu ziehen. Zwei Jahre ist er nun schon dort, hat es zu nichts gebracht, seine Freundin hat ihn gerade verlassen. Shou empfindet sein Leben als sinnlos und hat keine Idee, was er weiter damit anfangen könnte. Von seinem Vater erfährt er, dass dieser eine zwei Jahre ältere Schwester namens Matsuko (Miki Nakatani) gehabt hatte, die von der Familie verstoßen worden war. Allerdings wurde sie nun in Tokyo ermordet und der Vater bittet Shou darum, ihr vermülltes Appartement aufzuräumen. Widerstrebend nimmt der junge Mann seine Aufgabe wahr. Doch während er ihre Sachen ordnet, stößt er auch auf ein paar Erinnerungsstücke und nach und nach trifft er Menschen, die seine Tante kannten. So bekommt Shou immer mehr ein Bild von ihrem Leben, den Umständen, die sie zwangen, ihre Familie zu verlassen, die verschiedenen Stationen ihres Lebens, vor allem die vielen Männer und was dazu führte, dass sie am Ende verwahrlost, fett und einsam starb.

Dies klingt nach dem Stoff für ein großes Melodram. Und genau das ist „Memories of Matsuko“ auch. Gleichzeitig handelt es aber um eine Parodie des Genres, besonders in Matsukos Art, mit ihrem mehr als tragischen Lebenslauf umzugehen. Als kleines Mädchen fühlte sie sich immer gegenüber ihrer jüngeren, kranken Schwester zurückgesetzt, die ihr Vater (Teruyuki Kagawa) ihr vorzog. Dies führte aber nicht zu Haß gegenüber der Schwester oder dem Vater. Im Gegenteil liebte sie beide über alle Maßen. Einmal stellte sie fest, dass ihr Vater über eine bestimmte Grimasse, die sie zog, lachen musste und sie endlich einmal beachtete. Fortan verzog sie ständig das Gesicht. Als sie aber älter wurde, funktionierte auch das nicht mehr. Und dann, zu ihrer Zeit als junge Lehrerin, wurde sie für einen Vorfall gekündigt, bei dem sie eigentlich nur hatte versuchen wollen, alles richtig zu machen. Aus Zorn über die fatalen Verstrickungen und die ständige Ablehnung ihres Vaters griff sie ihre kranke Schwester an. Dies führte zu ihrem Ausstoß aus ihrer Familie. Doch wie sie immer ihr Schicksal angenommen hatte und niemals mit Haß oder Bösartigkeit gegenüber den Menschen, die sie liebte, reagiert hatte, versucht sie ihren Weg weiter zu gehen.

Der Film verdeutlicht ihre Beharrlichkeit und ihre Gutmütigkeit durch eine äußerst phantasiereiche und bunte Bildgestaltung. Somit wirkt der Film, auch wegen der Ähnlichkeit zu der Protagonistin, oft wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“, allerdings mit einem weit schwierigerem und brutalerem Lebensweg. Vielfach gibt es Musicaleinlagen oder Einfügungen von Zeichentrick. All das Bunte und Fröhliche legt Matsukos Inneres frei. Der schönste Tag ihres Lebens war ein Ausflug mit ihrem Vater in ein Einkaufszentrum. Nichts mehr wünscht sie sich, als einen Partner zu haben, was die Verstoßung ihres Vaters und die fehlende Akzeptanz ihrer Familie kompensieren würde. Das Erstaunliche ist, dass sie trotz allem Schrecklichem, das ihr wiederfährt, niemals die Hoffnung aufgibt. Obwohl auch sie schwere Schuld auf sich lädt, bleibt sie im Kern immer gut. Metapher für Matsukos Leben sind die in jeder Einstellung präsenten Blumen. Nie verliert sie ihre innere Schönheit, wie die Blumen welkt sie und zieht sich zusammen, doch beim kleinsten Lichtstrahl erblüht sie von neuem, schön und rein wie eh und je. So erlebt Matsuko das schwerste Melodram, ist der Inbegriff einer geschlagenen, aufopfernden Frau und nimmt alles als Märtyrerin und Heilige. Ihr letzter Liebhaber nennt sie später sogar seinen Gott, da sie ihn, der eigentlich schon als Schüler für den Beginn ihres Unglücks gesorgt hatte, dennoch über alles liebte.

Der Neffe Shou erfährt dies alles durch Erzählungen und gewinnt so langsam eine Vorstellung von Matsuko. Dabei stellt er fest, dass sie viel Ähnlichkeit mit ihm hatte und ihr Umgang mit ihrem Schicksal lässt ihn für sein eigenes Leben neuen Mut schöpfen. Denn gerade in diesem von allen als wertlos angesehenem Leben seiner Tante verbirgt sich eine liebenswerte Person, ein Vorbild, ja sogar eine kleine Heilige. Dadurch, dass Shou für sich Matsukos wahre Persönlichkeit offenlegt und sie mag, wird ihr nach dem Tod von diesem jungen Spross ihrer Familie die Absolution erteilt, die sie sich immer wünschte. Verbildlicht wird diese Verbindung der beiden dadurch, dass sie sich am Schluss treffen. Shou begleitet seine Tante zum Flußufer, wo sie ermordet wird, und er als einziger kennt ihren Mörder. Der Fluss, auf den sie in ihren letzten Lebensjahren immer weinend starrte, der dem ihres Heimatortes so sehr glich, ist gleichsam Bild für ihre Sehnsucht nach ihrer Familie und für den Strom des Lebens mit all den Zufällen und Ereignissen, die den Verlauf prägen. Matsuko konnte im Leben kein Glück finden, doch hat sie das nie verbittert, sie hat immer versucht, allem und allen mit Liebe und Hoffnung zu begegnen.

Für das Erzählen einer derartigen Geschichte bedarf es natürlich einer sehr wandlungsfähigen und charismatischen Hauptdarstellerin. Miki Nakatani hat zurecht viele Preise für ihre Darstellung erhalten. Ihre schöne Gestalt strahlt über den gesamten Film und es gelingt ihr Matsuko in allen Lebenslagen und -altern glaubwürdig darzustellen.

„Memories of Matsuko“ ist ein durchweg hervorragender und empfehlenswerter Film, der leider hierzulande wenig bekannt ist, obwohl er großes Potential auch als Publikumsliebling hätte. Besonders bemerkenswert ist die extreme Buntheit und Lebendigkeit der Inszenierung, die aber trotzdem niemals Matsukos Geschichte ins Lächerliche oder Absurde zieht, ihrer Heldin zollt die Erzählung stets den gebührenden Respekt. Die DVD-Veröffentlichung bietet nun an, den Film zu entdecken. Zudem befinden sich auf der DVD ein sehr ausführliches Making Of sowie tiefgehende Interviews mit allen Hauptdarstellern, ein Musikvideo, entfallene Szenen und zwei kurze, unterhaltsame Features zu einer Pornodarstellerin aus dem Film und zu witzigen Tätowierungen einer Nebenrolle.

Elisabeth Maurer


„Memories of Matsuko“ / “Kiraware Matsuko no isshô”

Regie: Tetsuya Nakashima
Drehbuch: Tetsuya Nakashima nach dem Roman von Muneki Yamada
Kamera: Masakuzo Ato
Musik: Gabriele Roberto
Produzenten: Yutaka Suzuki
Darsteller: Miki Nakatani, Eita, Yusuke Iseya, Teruyuki Kagawa, Mikako Ichikawa
Verleih: Splendid
Laufzeit: 130 min
Veröffentlichung: 26.2.2010


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DVD: "Story of a Prostitute" - Nouvelle Vague in Japan

"Story of a Prostitute"
Japan 1965. Regie: Seijun Suzuki


Mit den 50ern erlebte die japanische Filmindustrie eine neue schöpferische Welle. Im Unterschied zu den anderen radikalen Änderungen der Zeit (wie die Nouvelle Vague in Frankreich und später das New Hollywood in den USA) findet die Nuberu Bagu ihren Keim mitten im japanischen Studiosystem, einer nach dem Hollywood-Modell an großen Studios, Stars, aber auch Regisseuren angelehnten Organisation.

Seijun Suzukis „Story of a Prostitute“ ist als Vertreter dieser Welle exemplarisch: aus den Nikkatsu-Studios stammend soll der Film ein an einen Bestseller von Tajiro Tamura angelehntes Melodram sein. Die filmische Umsetzung ist jedoch das Resultat einer der Realität näheren Anpassung der Romanvorlage. Harumi (Yumiko Nogawa), die Heldin, wird schon in der zweiten Einstellung als Prostituierte bezeichnet, fast ein Gegensatz zu ihrer viel romantischeren Rolle als Unterhalterin im Roman von Tamura. Verraten von ihrem Liebhaber, entscheidet sie zur Front zu ziehen, um sich dort zusammen mit einigen Berufskolleginnen um die Bedürfnisse der japanischen Soldaten zu kümmern. Doch der machtsüchtige Hauptmann Narita (Isao Tamagawa) beansprucht sie für sich alleine, zwingt sie in ein Herr-Knecht Verhältnis. Dessen Untergebener Mikami (Tamio Kawaji), ein humanistischer Idealist, ergänzt die Konstellation zu einem Dreieck. Zwischen Harumi und Mikami erwacht die Liebe, mitten in einem von Ehre und Machtgefüge dominiertem Universum, die Folgen davon werden immer dramatischer.

Von Anfang an beeindruckt der Film durch außergewöhnliche Stilelemente, die durch die Erzählung hindurch brechen, gleichzeitig Marke des Regisseurs und Zeichen seiner Distanzierung von den Nikkatsu-üblichen Produktionen. Extreme Slow-Motion bis hin zu Stop-Action verlängert die Zeit, vor allem in dramatischen Einstellungen, und pointiert somit die Gefühlshöhen und -tiefen der Hauptcharaktere. Oft werden Filmsegmente wiederholt aneinander geschnitten oder durch andere Filmstücke unterbrochen, den Kuleschow-Effekt nachahmend. Viel radikaler jedoch wirkt die Montage von Standbildern der Nahaufnahmen der Protagonisten, die Filmwelt um sie herum erfrierend und das Dramatische fast bis hin zur Karikatur überspitzend. Oder eine Collage, die den Hauptmann Narita vom Filmcharakter kurz zum Pappmenschen macht, bevor diese neue Form wörtlich in Papierfetzen gesprengt wird.

Die japanische Nuberu Bagu – die neue Welle – lässt sich aber vor allem in der Inhaltsebene von „Story of a Prostitute“ wiederfinden. Unter der Maske eines brutalen, abgehackten Schnitts, der zunächst den Eindruck erweckt, es wäre versucht worden, eine komplexe Romanvorlage in einen Film zu pressen, entfaltet sich ein sozialkritisches, für die damaligen Verhältnisse fast feministisches Werk. Ganze Romanpassagen auf einen Satz aus dem Off oder auf eine sprunghafte, fast Kohärenz mangelnde Aneinanderreihung von Einstellungen reduzierend, verwandelt Suzuki eine auf den ersten Blick falsche Methode der Literaturverfilmung ins Stilmittel. Denn hinter diesen Inkohärenzen, hinter der Härte mancher synthetisierender Sätze entdeckt der Zuschauer nach und nach eine ironische Kritik gegenüber den Verhältnissen im Militär, gegenüber dem strengen Moralkodex des japanischen Militärs und gegenüber den Verhältnissen zwischen Männern und Frauen.

Beeindruckend in dieser Hinsischt ist der Umgang des Films mit der Heldin, Harumi. Zuerst wird sie isoliert in einer Einstellung gezeigt und eine Stimme aus dem Off etikettiert sie als Prostituierte. Eine Stimme ohne Name, welche rückblickend als Meinungsträger der japanischen Gesellschaft bezeichnet werden kann. Ihr Beruf ersetzt zunächst im Film ihr Menschsein, wie Hauptmann Narita es auch verdeutlicht, und wie es wiederum auch mit den Soldaten geschieht, die bloß noch als Behälter einer nationalen Tugend ihre Daseinsberechtigung finden. Doch der Auslöser der Filmhandlung kommt als eine doppelte Überraschung für den Zuschauer: Erstens durch den psychoanalytischen Charakter, bisher dem Film völlig fremd, und zweitens, weil der Weg von der Prostituierten Harumi zum gleichberechtigten Menschen Harumi über eine Spaltung geführt wird. Sie kann den Hauptmann nicht ausstehen, doch sobald er sie berührt, weigert sich ihr Körper zu widerstehen. Diese Spaltung zwischen Körper und Geist wird schnell immer größer und so holt sie sich mit Mikami zunächst eine Waffe gegen den Hauptmann. Doch diesmal verrät sie ihr Herz, sie verliebt sich, und gleichzeitig tritt nach und nach die Prostituierte in den Hintergrund ihres Gesamtbildes. Von nun an überbietet sie immer mehr die Ehre der Menschen um sich herum, soweit, dass sie ihrem Geliebten in den Tod folgt, den beide als einzige aus Überzeugung angehen.

Trotz der herausstechenden zeitgenössischen Ideen und Stilmittel, die einige Jahre später zu Suzukis Entlassung aus Nikkatsu führten, wurde der Film nie ein Publikumserfolg. Entstanden in einer Zeit, in der die Tenöre unter den Kinobesuchern, die Jugend, die großen Studios aus Prinzip ablehnten, hatte der Film nie die Gelegenheit auf die Menschen seiner Zeit zu wirken. Nun erscheint der Film in einer restaurierten Fassung auf DVD im deutschen Verleih.

Ciprian David


"Story of a Prostitute"
Regie: Seijun Suzuki. Drehbuch: Hajime Takaiwa. Buch: Taijio Tamura. Kamera: Kazue Nagatsuka. Musik: Naozumi Yamamoto.
Darsteller: Yumiko Nogawa, Tamio Kawaji, Isao Tamagawa
Länge: 96 Min
Verleih: Eye See Movies
Start: 26.02.2010


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Classic: „Control“ – When the Music’s Over


Großbritannien 2007. Regie: Anton Corbijn.


Die Nadel des Tonabnehmers wartet in Lauerstellung über der aufgespießten, sich ständig im Kreis bewegenden, pechschwarzen Beute. Eine kleine Handbewegung – die Nadel senkt sich. Ein kurzes, tiefes Ploppen aus den Lautsprechern, dann: Musik. Geboren aus einer einzigen Rille, die spiralförmig zur Mitte der Scheibe führt. Eine vorgezeichnete Bewegung nach Innen, dort, am Ende der Platte, lauert der Tod der Musik, der leere, innere Rand. Das Nichts.

"Control", das sind die letzten Jahre von Ian Curtis, Angestellter der Arbeitsvermittlung in Manchester, später Frontmann der britischen Band Joy Division. Heraus aus dem muffigen Büro, hinauf auf die großen Bühnen der Welt, die Zuhörer mit Gesang und Beats hypnotisieren: der Traum vieler Jungs und Mädchen wird für den großen Jungen Ian zum albtraumhaften Extremsituation. Denn die Performance ist für Ian mehr als nur ein Job, für Ian bedeutet er die totale Entäußerung seines Selbst, Hingabe bis zur Erschöpfung, erratisches Zucken auf der Bühne, heißes, verglühendes Sein. Zu Hause wartet seine Familie, Ehefrau Debbie und die kleine Tochter Natalie. Nach einer zu frühen Heirat findet sich Ian in der Rolle des Ehemannes und Vaters, die er nicht zu spielen vermag. Wenn Ian später über seine Gebliebte Annik Honoré sagt, dass er sie hasst, wird er sich anhören müssen, dass er sie aber ebenso liebt. Das gilt ebenso für seine Familie.

Man kann es sich vielleicht so vorstellen, dass die Weltwahrnehmung von Ian Curtis weniger linear als simultan funktioniert. Es gibt keine gleitenden Übergänge, kein Nacheinander von Zuständen. Die Nadel gleitet nicht in einer Rille und spielt eine Melodie, stattdessen zerkratzen Tausende von Nadeln gleichzeitig seine Existenz, spielen die Songs von Liebe und Hass zur gleichen Zeit, ein unentwirrbares Knäuel aus Emotionen und Gedanken, ein Zuviel, ein wabernder Dunst, der die Brille des Geistes beschlagen lässt, so dass es keine klare Sicht mehr gibt. Das ist vielleicht der Grund, warum Ian keine Entscheidung treffen kann, nicht weiß, ob er mit Debbie oder Annik zusammen sein will. Er ist die Maus in der "Kleinen Fabel" von Kafka. Immer enger schnürt der Faden der Zeit seinen Handlungsspielraum ein, in jeder Richtung lauert das Verderben, in fast allen Einstellungen wird er von Räumen, Wänden, Linien bedrängt. Überall lauert die Grenze der Freiheit. Aber jede nicht getroffene Entscheidung ist doch auch eine Entscheidung zur Verweigerung einer Auswahl. Vielleicht erliegt man manchmal einfach der Illusion, durch diese Selbstverweigerung den Lauf der Dinge anhalten zu können, die Nadel für einen Moment aus der Rille zu heben, die Musik zum Verstummen zu bringen und im Moment der Ruhe den Weg wieder klar zu sehen. Auftauchen aus dem zähen Morast des Daseins. Das geht freilich nicht. Der Morast und der Tonabnehmer sind das Leben selbst, und es wiegt tonnenschwer. Wer auftaucht, geht unter. Wenn die Musik vorbei ist, dann für immer.

Ian spürt diese Last, seit er weiß, dass seine epileptischen Anfälle tödlich enden können. Anton Corbijn hat "Control" in existentialistisches Schwarzweiß gegossen, und Ian spürt diese beiden Pole der Wahrnehmung. Auf der einen Seite das gesamte Farbspektrum, das, zusammengenommen, ein helles Strahlen ergibt. Erhellend, das Sehen erst ermöglichend, aber auch schmerzhaft blendend. Auf der anderen Seite die Dunkelheit. Nicht mehr wahrnehmen können. Nichts mehr wahrnehmen müssen. In einer Szene soll Ian auf die Bühne, um zu singen – er schafft es nicht. An der Wand hinter ihm klebt ein Flyer, auf dem der Name "Peter Pan" steht. Der Junge, der nicht erwachsen werden wollte. Der Junge, der keine Entscheidung treffen will. Im echten Leben gibt es nur eine Möglichkeit, nicht erwachsen zu werden.

Auftauchen in die Dunkelheit. Das Ende der Musik.


von Daniel Bund


Regie: Anton Corbijn. Drehbuch: Matt Greenhalgh, basierend auf der Biografie "Touching from a Distance" von Deborah Curtis. Kamera: Martin Ruhe. Produzenten: Iain Canning, Anton Corbijn, Deborah Curtis u.a.
Darsteller: Sam Riley, Samantha Morton, Alexandra Maria Lara, Joe Anderson, Toby Kebbell u.a.
Verleih: Capelight Pictures
Laufzeit: 121 min


"Control" gibt es auch auf DVD, zum Beispiel als 2-Disc-Special-Edition, bestellbar in unserem Online-Shop.

Altes und Neues im Kino: "Hurt Locker" und "Anvil"


Für "The Hurt Locker"/"Tödliches Kommando" hat sich Andreas Rauscher schon bei der deutschen Erstaufführung auf dem Filmfest München begeistert; jetzt kommt der Film aus durchsichtigen verleihtaktischen Gründen wieder in die hiesigen Kinos, weil er irgendeinen amerikanischen Preis gewonnen hat.

Jetzt im Kino angelaufen ist auch "Anvil", die Dokumentation über eine seit Jahrzehnten tragisch scheiternde Heavy-Metal-Band. Zwar kein Oscarfilm, aber wärmste Empfehlung von Harald Mühlbeyer!

Screenshot REGION: Nachtrag "Nachtschwärmer"


Wie HIER berichtet, wurde die Videoinstallation "Lebenslauf" der "Nachtschwärmer" Michael Schwarz und Alexander Griesser im Rahmen der Kunstmesse Kunst ausgestellt.

Und eben erfahren wir, dass "Lebenslauf" von der Auswahlkommission offiziell für das Land Rheinland-Pfalz angekauft wurde. Glückwunsch - und zwar allen! Was das Land jetzt freilich mit "Lebenslauf" anstellt, wissen wir noch nicht, wir halten Sie aber auf dem, nun ja, Laufenden.

Ein Nachtrag auch zum Kurzfilm ADVENT von Nachtschwärmer: Dessen Premiere wurde verschoben - nicht terminlich, sondern veranstaltungsmäßig:

Seine Festival-Tour startet ADVENT schon am 19. März 2010, 22.15 Uhr im Kurzfilmwettbewerb der "Lichter Filmtage Frankfurt"

Am 22. April ist der Dokumentarfilm dann auf dem "goEast - Festival des
Mittel- und Osteuropäischen Films
" in Wiesbaden zu sehen.

Und am gleichen Tag präsentiert das European Media Art Festival Osnabrück die Nachtschwärmer-Kurzdoku DOLCE VITA.

Derartige Infos und mehr gibt es natürlich auch direkt: auf der Nachtschwärmer-Homepage oder - eigentlich noch schöner, ausführlicher und dichter dran - auf der Nachtschwärmer-Facebook-Seite.

Screenshot Classics: "Shine A Light" - The Rolling Stones: Exile on Mean Street

USA 2008, R: Martin Scorsese


Im Herbst 2006 filmte Martin Scorsese im New Yorker Beacon-Theater ein Konzert der Rolling Stones und erweiterte die imposante Filmographie einer der dienstältesten Rock-Bands um einen weiteren Eintrag. Einerseits erschien das Projekt als logische Konsequenz der langjährigen Stones-Referenzen Martin Scorseses, und dennoch stellt sich die Frage, ob angesichts der obligatorischen Live-DVDs und Klassikern der Rock-Filmgeschichte wie Jean-Luc Godards „One Plus One“ (GB 1968) oder „Gimme Shelter“ (USA 1970) von Albert und David Maysles, der zufälligen Chronik des desaströsen Altamont-Festivals, noch ein weiterer Konzert-Film über die Rolling Stones nötig war. Ausgesprochen naheliegend erschien es hingegen für Scorsese, New Hollywood-Legende und passionierter Stones-Fan, der seit „Mean Streets“ (USA 1973) immer wieder Songs der Band in seinen Filmen einsetzt.

Die Gelegenheit den „ersten Scorsese-Film, in dem nicht Gimme Shelter vorkommt“ (Mick Jagger) zu drehen, war ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Zuerst sollte Scorsese den Auftritt der Band vor mehreren Millionen Zuschauern an der Copacabana drehen, der vor einigen Monaten auch auf DVD erschienen ist. Er lehnte dieses Konzept ab und bannte stattdessen einen Auftritt im überschaubaren New Yorker Beacon Theater auf Zelluloid.
Scorseses Entscheidung erwies sich als wohlüberlegt. Die Stadionkonzerte der Stones hatte in den frühen 1980er Jahren bereits Hal Ashby in „Let’s Spend the Night Together“ als Kinofilm verarbeitet. Abgesehen davon, dass die Performance lustlos erschien, erschöpfte sich der Film in der Dokumentation des gewaltigen Aufwands, den man inzwischen auch alle vier Jahre auf den DVDs zur aktuellen Stones-Live-Tour betrachten kann.

In „Shine A Light“ nutzt Scorsese die Vorstellung im kleinen Rahmen für ein dynamisch gefilmtes Set, bei dem die Band sonst kaum live aufgeführte Raritäten und unbekanntere Stücke aus den 1970er und 1980er Jahren in spielfreudigen Versionen zum Besten gibt. Darunter finden sich Songs wie die Temptations-Cover-Version „Just My Imagination“, die leicht in Vergessenheit geratenen, aber ausgesprochen eingängigen „Shattered“, „Some Girls“ und „She Was Hot“, die an Camp grenzende Ballade „As Tears Go By“, die sonst zu Gunsten von „Happy“ vernachlässigten Keith Richards-Stücke „You Got the Silver“ und „Connection“ sowie die Tracks „All Down the Line“ und „Loving Cup“ (mit einem Gastauftritt von Jack White), die wie das als Titel-Song ausgewählte „Shine A Light“ von der 1972 erschienen, regelmäßig als eines der besten Rock-Alben gefeierten „Exile on Main Street“ stammen. Auf den Stadionkonzerten, die seit dreißig Jahren 98 Prozent der Stones-Auftritte ausmachen, finden sich diese Stücke kaum. Die dort hingegen omnipräsenten Smash Hits wie „Jumping Jack Flash“ und „Satisfaction“ finden sich im Film natürlich auch auf der Playlist, sie befinden sich jedoch in der Unterzahl und erhalten gerade bei dem sonst mit Feuerwerk und allen möglichen Bühnen-Effekten abgefeierten „Sympathy For the Devil“ durch die intimere Atmosphäre des Auftritts eine neue Qualität.

Wenn man mit der Musik der Stones nichts anfangen kann, wird man allerdings kaum Spaß am Film haben. Wahrscheinlich besteht genau darin eines der Probleme der routiniert lamentierenden Rezensenten, die nicht wahr haben wollen, dass Regisseur und Band trotz des millionenschweren jährlichen Einkommens mit mehr Begeisterung ihren Auftritt absolvieren, als man es von den meisten auf dem Level der frühen 1990er Jahre stagnierten Gitarren-Rock-Bands gewohnt ist. Besonderheiten wie die ungewöhnliche Playlist tauchen in den gängigen Kritiken zu „Shine A Light“ kaum auf. Die meisten Rezensenten, mit der erfreulichen Ausnahme von Filmdienst und epd Film (und cinefacts.de , Anm. d. Onlineredaktion), erweisen sich als weitaus einfallsloser und berechenbarer als selbst die uninspiriertesten Stones-Platten. Die altbewährte Wimmer-Litanei, dass die Band ihren kreativen Höhepunkt vor Jahrzehnten überschritten habe, hätte ohne größere Veränderungen bereits vor achtundzwanzig Jahren zum letzten Stones-Konzertfilm abgedruckt werden können. Während die Vorwürfe angesichts der bemühten berufsjugendlichen Posen Jaggers Anfang der 1980er Jahre teilweise ihre Berechtigung hatten, erscheinen sie heute extrem redundant.

Es ist hinreichend bekannt, dass im Gegensatz zu den Beatles, The Clash und den meisten anderen mit einer bestimmten Zeit assoziierten Rock-Bands die Stones vor dreißig Jahren, nachdem man bereits zwei Generationen von Nachfolgebands überlebt hatte, beschlossen, auch noch mindestens die nächsten beiden Generationen zu überdauern. Die gespielte Empörung über die nicht abreißende Serie von Alterswerken und aufwändigen Tourneen erscheint inzwischen nur noch bemüht, schwerfällig und starrsinnig. Seit den 1990er Jahren demonstrieren die Stones eine gewisse Altersweisheit und eine Spielfreude, die in den 1980er Jahren zeitweise verloren gegangen war. Sie versuchen gar nicht mehr über die offensichtlichen Widersprüche zwischen ihrem Status als millionenschwerer Rock-Zirkus und den Working Class Hero-Posen des „Street Fighting Man“ hinwegzutäuschen (oder noch besser „You Better Move On“, in dem Mitte der 1960er Jahre der klassenbewusste Jagger betont, dass seine große Liebe keine „fancy things“ und „diamond rings“ nötig hätte, mit der ein Upper Class Schnösel sie zu verführen versucht). Auch wenn größere Innovationen ausblieben, gelang der Band mit „Voodoo Lounge“, „Bridges to Babylon“ und „A Bigger Bang“ im Lauf der letzten fünfzehn Jahre eine Reihe durchaus hörenswerter, grundsolider Alben. In „Shine A Light“ zeigt sich die Band des eigenen Ausnahmestatus durchgehend bewusst. Gastauftritte von Jack White und Christina Aguilera versuchen nicht verkrampft den Anschluss an neue Trends zu vollführen, sondern integrieren sich fließend ins Repertoire, und im Duett mit dem Alt-Blueser Buddy Guy sind die Stones ohnehin ganz in ihrem Element.

Mit deutlicher Ironie fügt Scorsese immer wieder Ausschnitte aus alten Interviews ein, die an spontane Assoziationen während eines Konzertbesuchs erinnern. Jagger erklärt in einem Interview von 1965, dass die Band sich gar nicht sicher gewesen sei, ob man länger als zwei Jahre überdauern würde. Zehn Jahre später betont er hingegen, dass er es sich durchaus vorstellen könne mit Mitte 60 immer noch auf der Bühne zu stehen. Keith Richards pflegt eifrig den eigenen Mythos als bester schlechter Gitarrist der Rock-Geschichte, wenn er erklärt, dass Ron Wood und er beide ziemlich lausige Gitarristen wären. Gemeinsam seien sie aber immer noch besser als zehn andere.

In „Shine A Light“ geht es um die kulturelle und musikalische Projektionsfläche namens Rolling Stones und nicht um einen enthüllenden dokumentarischen Blick, der am Schluss ohnehin nur ein weiteres Mal zusammenfassen würde, was man in ganzen Regalmetern von Stones-Büchern nachlesen kann. Scorseses Inszenierung gestaltet sich angenehm unaufdringlich und gerade deshalb effektvoll. Der immense Aufwand mit einem ganzen Ensemble international bekannter Kameraleute, darunter Ellen Kuras, Kamerafrau bei Spike Lee und Michel Gondry, und Andrew Lesnie, Oscar-Gewinner für die „Lord of the Rings“-Trilogie (Neuseeland / USA 2001-2003), macht sich zwar durchaus in der eleganten Bildgestaltung bemerkbar, gerät aber ein wenig in den Hintergrund, da durch die sorgfältig geplante Kadrierung die zahlreichen Kameras nicht ins Bild geraten.

Die kurzen Blicke hinter die Kulissen haben nichts mit den Intentionen des Direct Cinema zu tun, die dazu führten, dass der Sex, Drugs and Rock’n’Roll zu explizit dokumentierende Film „Cocksucker Blues“ (USA 1972) von der Band persönlich aus dem Verkehr gezogen wurde. Scorsese inszeniert das Geschehen hinter der Bühne hingegen wie die Muppet-Show mit sich selbst als nervösem Stage Director, der entsetzt feststellen muss, dass ihm wenige Tage vor dem Event immer noch nicht die Set-Liste zugestellt wurde und der darüber sinniert, ob mit der geplanten Light-Show Mick Jagger im buchstäblichen Sinne Feuer fangen könnte. Die Rahmenhandlung erscheint selbst als deutlicher Teil der Inszenierung. Gerade diese Gelassenheit macht „Shine A Light“ überaus sympathisch. Abgesehen davon ist es erfreulich, dass das, abgesehen von dem exzellenten Beastie Boys-Film „Awesome I Fuckin’ Shot That“ und Jonathan Demmes „Neil Young - Heart of Gold“, stark vernachlässigte Genre Konzertfilm wieder Auftrieb erhält.

Einen unangenehmen Beigeschmack verursacht lediglich, dass der seit den frühen 1990er Jahren bei der Band aktive Bassist Darryl Jones sowie die seit Jahrzehnten auf Alben und Tourneen mitwirkenden Background-Vocalisten Lisa Fischer und Bernard Fowler, der Saxophonist Bobby Keys und der Keyboarder Chuck Leavell weitgehend in den Hintergrund verbannt werden. Es wäre mehr als angezeigt gewesen ihnen ein eigenes Segment der Doku zu widmen. Angesichts der Ausdauer der Band kann dieses Versäumnis jedoch im nächsten Film nachgeholt werden.

von Andreas Rauscher

R: Martin Scorsese K: Robert Richardson, Ellen Kuras, Andrew Lesnie, Emmanuel Lubezki, M: Rolling Stones, D: Mick Jagger, Keith Richards, Ron Wood, Charlie Watts, Darryl Jones, Chuck Leavell, Bobby Keys, Lisa Fischer, Bernard Fowler, Buddy Guy, Jack White, Christina Aguilera, Martin Scorsese.
Länge: 122 Min.

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DVD: „Ashes of Time Redux“ – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

“Ashes of Time Redux” / “Dung che sai duk”
Hongkong 1994/2009. Regie: Wong Kar Wai


Gut 14 Jahre nach dem Kinostart gelang es Wong Kar Wai nach mehreren Jahren Arbeit Kopien seines Films „Ashes of Time“ zusammenzusammeln und aus dem inzwischen teilweise nicht mehr verwertbarem Material eine Redux-Version zu schneiden. Inzwischen befanden sich mehrere Schnittfassungen des Films im Umlauf, als Raubkopien oder unter der Schere asiatischen Verleiher entstanden, die meisten davon vom Regisseur nicht genehmigt. Zwei Jahre später, 2010, feiert Ashes of Time Redux seinen Start im deutschen DVD-Verleih.

„Ashes of Time“ wird leider oft als ein Abtrünniger in Wong Kar Wais Gesamtwerk gesehen, die Tradition des chinesischen wuxia-Genres erfolgslos weiterführend. Wuxia-Romane und Filme verstehen sich als phantastische Herangehensweise an historische oder pseudohistorische Themen, konstruiert um Schwertkämpfer, Schlachten, Soldaten- oder Reiterkämpfe. Die Handlung und die streng darauf basierende Dramaturgie werden dabei immer von Macht und Kraft der Charaktere bestimmt. Wong Kar Wai, großer Fan dieses Genres, erzählt mit „Ashes of Time“ die Vorgeschichte des Bestsellers „Der Adler erschießt Helden“ von Louis Cha, eine Trilogie, die im asiatischen Raum (wie der Regisseur in einem Interview in den Extras der Bonus-DVD erklärt) einen ähnlichen Stellenwert besitzt wie J.R.R. Tolkiens „Lord of The Rings“ in der westlichen Welt.

An diesem Punkt hört die Verbindung des Films zu wuxia auf, denn Wong Kar Wai gestaltet ihn, wie all seine Filme, als Auteur. In einem sehenswerten Interview, ebenfalls auf der Bonus-DVD zu finden, erklärt der Kameramann Christopher Doyle, dass die Filme von Wong Kar Wai in erster Linie nicht dem Drehbuch oder der Handlung, sondern einem Gesamtkonzept unterliegen, was die eines Filmemachers nötige Autorschaft, besonders bei Wong Kar Wai, ausmacht. So sind die dominierenden Konzepte in „Ashes of Time“ nicht (wie von einem wuxia-Film erwartet) Kraft und Macht. Die Zeit, die Gefühle der Charaktere und vor allem das Gedächtnis bestimmen den Verlauf des Films. Und genau in dieser Richtung bringt die Redux-Version Neuerungen: Unter den sieben entfallenen Minuten im Vergleich zur ursprünglichen Version befinden sich hauptsächlich Actionszenen. So der Kampf am Anfang des Films, der vor allem dadurch aussagekräftig wurde, dass er in der neuen Variante durch Landschaftaufnahmen ersetzt wurde, die Atmosphäre der Redux von vornherein auf die Bedeutung des Verlaufs der Zeit beziehend.

Die elliptische, sehr an der Stimmung des Hauptcharakters orientierte Erzählweise wirkt sehr komplex, sollte man ein Actionepos erwarten. Ou-yang Feng (Leslie Cheung) ist ein Auftragskiller im Ruhestand. Obwohl jung, ließ er den Kampf hinter sich und zog sich in die Wüste zurück, um in Einsamkeit und in der Ferne vom Eifer des Kampfes die Ursache seiner inneren Unruhe zu suchen. So vermittelt er aus der von ihm eröffneten Gaststätte aus Auftragsmorde. Die anderen Charaktere, gespielt von in China und Hong Kong sehr bekannten Schauspielern, sind Freunde, Kunden oder Berufsverbündete, die durch ihr Kommen und Gehen dem Film einen episodischen Charakter verleihen und dem Protagonisten nach und nach, durch ihre Einstellungen, Handlungen und Eigenschaften, seine Vergangenheit wieder nah bringen, die natürlich die Ursache seines seelischen Leidens in sich birgt.

Die vorhandenen technischen Ressourcen seinem Filmkonzept unterordnend, lässt Wong Kar Wai Nahaufnahmen oder Totalen der Helden und deren Umgebung abwechselnd in grobkörnigen, klaren, überbelichteten oder unterbelichteten, teils natürlich, teils in der Nachbearbeitung gefärbten Aufnahmen erscheinen. Die Natur und die Jahreszeiten markieren dabei den Verlauf der Zeit. Die Wüste, immer anders, doch immer gleich, erinnert ständig an eine Ewigkeit, die die ganzen Kämpfe und Tode als Zeugin übersteht. Das einzige Pendant zu dieser Ewigkeit ist die Stimmung des Protagonisten, aus der Vergangenheit nach ihm greifend, sich über den Ereignissen seiner Gegenwart wie ein Schleier niedersetzend und diese in Nichtigkeiten verwandelnd.

Die Sehnsucht des Helden gewinnt in „Ashes of Time“ nach und nach Form, zuerst als in den von ihm als Erzähler kommentierten Flashbacks auftauchenden Erinnerung an die Frau seines Bruders, die Frau, die er zurückgelassen hatte, um Kämpfer zu werden. Doch er ist nicht der einzige Erzähler, seine Erinnerungen sind nicht die einzigen, die „Ashes of Time“ erzählt. Alle Charaktere tragen mit ihren Zuständen und Vergangenheiten dazu bei. Und sie machen es stellvertretend, irgendwann wird dem Zuschauer bewusst, dass alle Erinnerungen, Erlebnisse, Szenen nur dazu beitragen, die Vergangenheit des Hauptcharakters zu kristallisieren, bis hin zum Punkt, an dem der Film den Protagonisten aus dieser Vergangenheit heraus zwingt, seine Entscheidungen zu reflektieren, auf sie wieder einzugehen, und sich zu dem zu verändern, was die Romanvorlage voraussetzt.

„Ashes of Time Redux“ ist vielmehr eine Wiederbelebung eines essenziellen Films in Wong Kar Wais Schaffen als das Ergebnis einer Schaffenskrise, wie ihm oft, vor allem im amerikanischen Raum, vorgeworfen wird. Die 2-Disc Special-Edition bietet sämtliche Interviews an, die diesen nötigen Schritt erklären. Der Regisseur selber erläutert die technischen Aspekte hinter der Redux und erzählt über die Restaurationsodyssee eines Films, dessen Dreh selbst ein existenzielles Abenteuer war. Die Schauspieler erzählen in ihren Interviews melancholisch, was Drehen mit Wong Kar Wai vor fast 15 Jahren in China für sie bedeutete, und bringen Hintergrundinformationen zum Arbeitsstil des Regisseurs. Vor allem Christopher Doyle, der seitdem bei allen weiteren Filmen von Wong Kar Wai beteiligt war, ist mit seinen erleuchtenden Kommentaren zur Autorschaft des Regisseurs und des Kameramanns beim Filmemachen Grund genug, und zwar nicht nur für Fans, sich die DVD zu kaufen.

Ciprian David


Regie: Wong Kar Wai. Drehbuch: Wong Kar Wai, Louis Cha. Kamera: Christopher Doyle, Kwan Pung-Leung. Musik: Frankie Chan, Yo-Yo Ma. Produktion: Jeffrey Lau, Tsai Sung-Lin, Jacky Pang Yee Wah, Wong Kar Wai.
Darsteller: Brigitte Lin, Leslie Cheung, Maggie Cheung, Tony Leung Chiu Wai, Jacky Cheung, Tony Leung Ka Fai, Li Bai, Carina Lau, Charlie Yeung
Verleih: Splendid Entertainment
Start: 26.02.2010


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