Classic: „Control“ – When the Music’s Over
Großbritannien 2007. Regie: Anton Corbijn.
Die Nadel des Tonabnehmers wartet in Lauerstellung über der aufgespießten, sich ständig im Kreis bewegenden, pechschwarzen Beute. Eine kleine Handbewegung – die Nadel senkt sich. Ein kurzes, tiefes Ploppen aus den Lautsprechern, dann: Musik. Geboren aus einer einzigen Rille, die spiralförmig zur Mitte der Scheibe führt. Eine vorgezeichnete Bewegung nach Innen, dort, am Ende der Platte, lauert der Tod der Musik, der leere, innere Rand. Das Nichts.
"Control", das sind die letzten Jahre von Ian Curtis, Angestellter der Arbeitsvermittlung in Manchester, später Frontmann der britischen Band Joy Division. Heraus aus dem muffigen Büro, hinauf auf die großen Bühnen der Welt, die Zuhörer mit Gesang und Beats hypnotisieren: der Traum vieler Jungs und Mädchen wird für den großen Jungen Ian zum albtraumhaften Extremsituation. Denn die Performance ist für Ian mehr als nur ein Job, für Ian bedeutet er die totale Entäußerung seines Selbst, Hingabe bis zur Erschöpfung, erratisches Zucken auf der Bühne, heißes, verglühendes Sein. Zu Hause wartet seine Familie, Ehefrau Debbie und die kleine Tochter Natalie. Nach einer zu frühen Heirat findet sich Ian in der Rolle des Ehemannes und Vaters, die er nicht zu spielen vermag. Wenn Ian später über seine Gebliebte Annik Honoré sagt, dass er sie hasst, wird er sich anhören müssen, dass er sie aber ebenso liebt. Das gilt ebenso für seine Familie.
Man kann es sich vielleicht so vorstellen, dass die Weltwahrnehmung von Ian Curtis weniger linear als simultan funktioniert. Es gibt keine gleitenden Übergänge, kein Nacheinander von Zuständen. Die Nadel gleitet nicht in einer Rille und spielt eine Melodie, stattdessen zerkratzen Tausende von Nadeln gleichzeitig seine Existenz, spielen die Songs von Liebe und Hass zur gleichen Zeit, ein unentwirrbares Knäuel aus Emotionen und Gedanken, ein Zuviel, ein wabernder Dunst, der die Brille des Geistes beschlagen lässt, so dass es keine klare Sicht mehr gibt. Das ist vielleicht der Grund, warum Ian keine Entscheidung treffen kann, nicht weiß, ob er mit Debbie oder Annik zusammen sein will. Er ist die Maus in der "Kleinen Fabel" von Kafka. Immer enger schnürt der Faden der Zeit seinen Handlungsspielraum ein, in jeder Richtung lauert das Verderben, in fast allen Einstellungen wird er von Räumen, Wänden, Linien bedrängt. Überall lauert die Grenze der Freiheit. Aber jede nicht getroffene Entscheidung ist doch auch eine Entscheidung zur Verweigerung einer Auswahl. Vielleicht erliegt man manchmal einfach der Illusion, durch diese Selbstverweigerung den Lauf der Dinge anhalten zu können, die Nadel für einen Moment aus der Rille zu heben, die Musik zum Verstummen zu bringen und im Moment der Ruhe den Weg wieder klar zu sehen. Auftauchen aus dem zähen Morast des Daseins. Das geht freilich nicht. Der Morast und der Tonabnehmer sind das Leben selbst, und es wiegt tonnenschwer. Wer auftaucht, geht unter. Wenn die Musik vorbei ist, dann für immer.
Ian spürt diese Last, seit er weiß, dass seine epileptischen Anfälle tödlich enden können. Anton Corbijn hat "Control" in existentialistisches Schwarzweiß gegossen, und Ian spürt diese beiden Pole der Wahrnehmung. Auf der einen Seite das gesamte Farbspektrum, das, zusammengenommen, ein helles Strahlen ergibt. Erhellend, das Sehen erst ermöglichend, aber auch schmerzhaft blendend. Auf der anderen Seite die Dunkelheit. Nicht mehr wahrnehmen können. Nichts mehr wahrnehmen müssen. In einer Szene soll Ian auf die Bühne, um zu singen – er schafft es nicht. An der Wand hinter ihm klebt ein Flyer, auf dem der Name "Peter Pan" steht. Der Junge, der nicht erwachsen werden wollte. Der Junge, der keine Entscheidung treffen will. Im echten Leben gibt es nur eine Möglichkeit, nicht erwachsen zu werden.
Auftauchen in die Dunkelheit. Das Ende der Musik.
von Daniel Bund
Regie: Anton Corbijn. Drehbuch: Matt Greenhalgh, basierend auf der Biografie "Touching from a Distance" von Deborah Curtis. Kamera: Martin Ruhe. Produzenten: Iain Canning, Anton Corbijn, Deborah Curtis u.a.
Darsteller: Sam Riley, Samantha Morton, Alexandra Maria Lara, Joe Anderson, Toby Kebbell u.a.
Verleih: Capelight Pictures
Laufzeit: 121 min
"Control" gibt es auch auf DVD, zum Beispiel als 2-Disc-Special-Edition, bestellbar in unserem Online-Shop.