Screenshot Classics: "Shine A Light" - The Rolling Stones: Exile on Mean Street

USA 2008, R: Martin Scorsese


Im Herbst 2006 filmte Martin Scorsese im New Yorker Beacon-Theater ein Konzert der Rolling Stones und erweiterte die imposante Filmographie einer der dienstältesten Rock-Bands um einen weiteren Eintrag. Einerseits erschien das Projekt als logische Konsequenz der langjährigen Stones-Referenzen Martin Scorseses, und dennoch stellt sich die Frage, ob angesichts der obligatorischen Live-DVDs und Klassikern der Rock-Filmgeschichte wie Jean-Luc Godards „One Plus One“ (GB 1968) oder „Gimme Shelter“ (USA 1970) von Albert und David Maysles, der zufälligen Chronik des desaströsen Altamont-Festivals, noch ein weiterer Konzert-Film über die Rolling Stones nötig war. Ausgesprochen naheliegend erschien es hingegen für Scorsese, New Hollywood-Legende und passionierter Stones-Fan, der seit „Mean Streets“ (USA 1973) immer wieder Songs der Band in seinen Filmen einsetzt.

Die Gelegenheit den „ersten Scorsese-Film, in dem nicht Gimme Shelter vorkommt“ (Mick Jagger) zu drehen, war ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Zuerst sollte Scorsese den Auftritt der Band vor mehreren Millionen Zuschauern an der Copacabana drehen, der vor einigen Monaten auch auf DVD erschienen ist. Er lehnte dieses Konzept ab und bannte stattdessen einen Auftritt im überschaubaren New Yorker Beacon Theater auf Zelluloid.
Scorseses Entscheidung erwies sich als wohlüberlegt. Die Stadionkonzerte der Stones hatte in den frühen 1980er Jahren bereits Hal Ashby in „Let’s Spend the Night Together“ als Kinofilm verarbeitet. Abgesehen davon, dass die Performance lustlos erschien, erschöpfte sich der Film in der Dokumentation des gewaltigen Aufwands, den man inzwischen auch alle vier Jahre auf den DVDs zur aktuellen Stones-Live-Tour betrachten kann.

In „Shine A Light“ nutzt Scorsese die Vorstellung im kleinen Rahmen für ein dynamisch gefilmtes Set, bei dem die Band sonst kaum live aufgeführte Raritäten und unbekanntere Stücke aus den 1970er und 1980er Jahren in spielfreudigen Versionen zum Besten gibt. Darunter finden sich Songs wie die Temptations-Cover-Version „Just My Imagination“, die leicht in Vergessenheit geratenen, aber ausgesprochen eingängigen „Shattered“, „Some Girls“ und „She Was Hot“, die an Camp grenzende Ballade „As Tears Go By“, die sonst zu Gunsten von „Happy“ vernachlässigten Keith Richards-Stücke „You Got the Silver“ und „Connection“ sowie die Tracks „All Down the Line“ und „Loving Cup“ (mit einem Gastauftritt von Jack White), die wie das als Titel-Song ausgewählte „Shine A Light“ von der 1972 erschienen, regelmäßig als eines der besten Rock-Alben gefeierten „Exile on Main Street“ stammen. Auf den Stadionkonzerten, die seit dreißig Jahren 98 Prozent der Stones-Auftritte ausmachen, finden sich diese Stücke kaum. Die dort hingegen omnipräsenten Smash Hits wie „Jumping Jack Flash“ und „Satisfaction“ finden sich im Film natürlich auch auf der Playlist, sie befinden sich jedoch in der Unterzahl und erhalten gerade bei dem sonst mit Feuerwerk und allen möglichen Bühnen-Effekten abgefeierten „Sympathy For the Devil“ durch die intimere Atmosphäre des Auftritts eine neue Qualität.

Wenn man mit der Musik der Stones nichts anfangen kann, wird man allerdings kaum Spaß am Film haben. Wahrscheinlich besteht genau darin eines der Probleme der routiniert lamentierenden Rezensenten, die nicht wahr haben wollen, dass Regisseur und Band trotz des millionenschweren jährlichen Einkommens mit mehr Begeisterung ihren Auftritt absolvieren, als man es von den meisten auf dem Level der frühen 1990er Jahre stagnierten Gitarren-Rock-Bands gewohnt ist. Besonderheiten wie die ungewöhnliche Playlist tauchen in den gängigen Kritiken zu „Shine A Light“ kaum auf. Die meisten Rezensenten, mit der erfreulichen Ausnahme von Filmdienst und epd Film (und cinefacts.de , Anm. d. Onlineredaktion), erweisen sich als weitaus einfallsloser und berechenbarer als selbst die uninspiriertesten Stones-Platten. Die altbewährte Wimmer-Litanei, dass die Band ihren kreativen Höhepunkt vor Jahrzehnten überschritten habe, hätte ohne größere Veränderungen bereits vor achtundzwanzig Jahren zum letzten Stones-Konzertfilm abgedruckt werden können. Während die Vorwürfe angesichts der bemühten berufsjugendlichen Posen Jaggers Anfang der 1980er Jahre teilweise ihre Berechtigung hatten, erscheinen sie heute extrem redundant.

Es ist hinreichend bekannt, dass im Gegensatz zu den Beatles, The Clash und den meisten anderen mit einer bestimmten Zeit assoziierten Rock-Bands die Stones vor dreißig Jahren, nachdem man bereits zwei Generationen von Nachfolgebands überlebt hatte, beschlossen, auch noch mindestens die nächsten beiden Generationen zu überdauern. Die gespielte Empörung über die nicht abreißende Serie von Alterswerken und aufwändigen Tourneen erscheint inzwischen nur noch bemüht, schwerfällig und starrsinnig. Seit den 1990er Jahren demonstrieren die Stones eine gewisse Altersweisheit und eine Spielfreude, die in den 1980er Jahren zeitweise verloren gegangen war. Sie versuchen gar nicht mehr über die offensichtlichen Widersprüche zwischen ihrem Status als millionenschwerer Rock-Zirkus und den Working Class Hero-Posen des „Street Fighting Man“ hinwegzutäuschen (oder noch besser „You Better Move On“, in dem Mitte der 1960er Jahre der klassenbewusste Jagger betont, dass seine große Liebe keine „fancy things“ und „diamond rings“ nötig hätte, mit der ein Upper Class Schnösel sie zu verführen versucht). Auch wenn größere Innovationen ausblieben, gelang der Band mit „Voodoo Lounge“, „Bridges to Babylon“ und „A Bigger Bang“ im Lauf der letzten fünfzehn Jahre eine Reihe durchaus hörenswerter, grundsolider Alben. In „Shine A Light“ zeigt sich die Band des eigenen Ausnahmestatus durchgehend bewusst. Gastauftritte von Jack White und Christina Aguilera versuchen nicht verkrampft den Anschluss an neue Trends zu vollführen, sondern integrieren sich fließend ins Repertoire, und im Duett mit dem Alt-Blueser Buddy Guy sind die Stones ohnehin ganz in ihrem Element.

Mit deutlicher Ironie fügt Scorsese immer wieder Ausschnitte aus alten Interviews ein, die an spontane Assoziationen während eines Konzertbesuchs erinnern. Jagger erklärt in einem Interview von 1965, dass die Band sich gar nicht sicher gewesen sei, ob man länger als zwei Jahre überdauern würde. Zehn Jahre später betont er hingegen, dass er es sich durchaus vorstellen könne mit Mitte 60 immer noch auf der Bühne zu stehen. Keith Richards pflegt eifrig den eigenen Mythos als bester schlechter Gitarrist der Rock-Geschichte, wenn er erklärt, dass Ron Wood und er beide ziemlich lausige Gitarristen wären. Gemeinsam seien sie aber immer noch besser als zehn andere.

In „Shine A Light“ geht es um die kulturelle und musikalische Projektionsfläche namens Rolling Stones und nicht um einen enthüllenden dokumentarischen Blick, der am Schluss ohnehin nur ein weiteres Mal zusammenfassen würde, was man in ganzen Regalmetern von Stones-Büchern nachlesen kann. Scorseses Inszenierung gestaltet sich angenehm unaufdringlich und gerade deshalb effektvoll. Der immense Aufwand mit einem ganzen Ensemble international bekannter Kameraleute, darunter Ellen Kuras, Kamerafrau bei Spike Lee und Michel Gondry, und Andrew Lesnie, Oscar-Gewinner für die „Lord of the Rings“-Trilogie (Neuseeland / USA 2001-2003), macht sich zwar durchaus in der eleganten Bildgestaltung bemerkbar, gerät aber ein wenig in den Hintergrund, da durch die sorgfältig geplante Kadrierung die zahlreichen Kameras nicht ins Bild geraten.

Die kurzen Blicke hinter die Kulissen haben nichts mit den Intentionen des Direct Cinema zu tun, die dazu führten, dass der Sex, Drugs and Rock’n’Roll zu explizit dokumentierende Film „Cocksucker Blues“ (USA 1972) von der Band persönlich aus dem Verkehr gezogen wurde. Scorsese inszeniert das Geschehen hinter der Bühne hingegen wie die Muppet-Show mit sich selbst als nervösem Stage Director, der entsetzt feststellen muss, dass ihm wenige Tage vor dem Event immer noch nicht die Set-Liste zugestellt wurde und der darüber sinniert, ob mit der geplanten Light-Show Mick Jagger im buchstäblichen Sinne Feuer fangen könnte. Die Rahmenhandlung erscheint selbst als deutlicher Teil der Inszenierung. Gerade diese Gelassenheit macht „Shine A Light“ überaus sympathisch. Abgesehen davon ist es erfreulich, dass das, abgesehen von dem exzellenten Beastie Boys-Film „Awesome I Fuckin’ Shot That“ und Jonathan Demmes „Neil Young - Heart of Gold“, stark vernachlässigte Genre Konzertfilm wieder Auftrieb erhält.

Einen unangenehmen Beigeschmack verursacht lediglich, dass der seit den frühen 1990er Jahren bei der Band aktive Bassist Darryl Jones sowie die seit Jahrzehnten auf Alben und Tourneen mitwirkenden Background-Vocalisten Lisa Fischer und Bernard Fowler, der Saxophonist Bobby Keys und der Keyboarder Chuck Leavell weitgehend in den Hintergrund verbannt werden. Es wäre mehr als angezeigt gewesen ihnen ein eigenes Segment der Doku zu widmen. Angesichts der Ausdauer der Band kann dieses Versäumnis jedoch im nächsten Film nachgeholt werden.

von Andreas Rauscher

R: Martin Scorsese K: Robert Richardson, Ellen Kuras, Andrew Lesnie, Emmanuel Lubezki, M: Rolling Stones, D: Mick Jagger, Keith Richards, Ron Wood, Charlie Watts, Darryl Jones, Chuck Leavell, Bobby Keys, Lisa Fischer, Bernard Fowler, Buddy Guy, Jack White, Christina Aguilera, Martin Scorsese.
Länge: 122 Min.

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