Das Imperium schlägt zurück oder die 36 Kammern des "Jade Empire"

von Andreas Rauscher

„Jade Empire“
Systeme: PC, Xbox
Entwickler: Bioware
Vertrieb: 2K Games
FSK: 16
Veröffentlichungsdatum: 2005 (Xbox), 2007 (PC)

Spätestens nach den ersten einführenden Aufgaben von „Jade Empire“ stellt man sich zwangsläufig die Frage, weshalb nicht schon viel früher die Welt der asiatischen Wu Xia-Epen für ein Rollenspiel genutzt wurde. Diese Kombination aus spektakulären Kämpfen und phantastischen Motiven lässt sich auf eine Jahrhunderte umfassende literarische Tradition, vergleichbar den westlichen Rittergeschichten, zurückverfolgen. Die in einer märchenhaften Variante des mittelalterlichen Chinas voller Geister und Dämonen angesiedelten Abenteuergeschichten lieferten die Grundlage für zahlreiche Klassiker des Hongkong-Kinos der 1980er und 1990er Jahre. Regisseure wie Tsui Hark und Ching Siu-Tung verstanden es die mythischen Figuren mit den Schauwerten des modernen Actionkinos zu verbinden. Mit Hilfe von Drahtseiltricks realisierte Kampfszenen verliehen den Filmen, in denen die Kamera kaum stillstand, eine Dynamik wie man sie sonst nur aus Videospielen kennt.

Während andere asiatische Arthouse-Favoriten asketische Meditationen über die schönsten Bahnstrecken Tokios schufen oder darüber sinnierten, in wie vielen Varianten man eine Teeküche im Rahmen einer Plansequenz durchqueren kann, verschrieb sich das neue Hongkong-Kino in Filmen wie „Zu – Warriors of the Magic Mountain“ (1983) und „A Chinese Ghost Story“ (1987) ganz dem Kino der Attraktionen. Die bildgewaltigen und ebenso actionreichen wie melodramatischen Produktionen weckten sowohl das Interesse aufgeschlossener Cineasten, als auch obsessiver Genrefans. Mit internationalen Erfolgen wie Ang Lees „Tiger and Dragon“ (2000) fand das Wu Xia-Genre schließlich den Weg in die gehobeneren Multiplexe und weckte plötzlich das Interesse von Regisseuren wie Zhang Yimou und Chen Kaige, die sich zuvor eher auf traditionelle Dramen über das ländliche China spezialisiert hatten.

Offensichtlich konnten sich aber die Gamedesigner des kanadischen Studios Bioware noch an die Höhepunkte der Hongkong-New Wave erinnern, bevor sie zur filmisch soliden, aber zugleich auch verkrampft um hochkulturelle Anerkennung bemühten Tradition der Qualität erstarrte. Das in sieben Kapitel unterteilte „Jade Empire“ nutzt die phantasievollen Martial Arts-Stile und magischen Gefechte der Wu Xia-Epen als Inspirationsquelle, wie zuvor das „Dungeons and Dragons“-Spielsystem für die beiden „Baldur’s Gate“-Teile (1998, 2000) und die berühmt-berüchtigte weit, weit entfernte Galaxis für „Knights of the Old Republic“ (2003) als kreatives Spielfeld herangezogen wurden. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Lizenzproduktionen entwickelte Bioware auf der Grundlage dieser fiktionalen Welten ganz eigene Ansätze im Gameplay und der spielerischen Dramaturgie. Im Lauf der Jahre hat sich daraus eine eigene spielgestalterische Handschrift entwickelt. Der Hang zu raffinierten Plots, die mit zahlreichen Background Storys versehene fiktionale Welt, Begegnungen mit interessanten Charakteren und die freie Wahl des Spielers, ob er oder sie sich auf die gute oder böse Seite schlagen will, setzten innovative Akzente und markieren bis heute einen wesentlichen Unterschied zwischen den Bioware-Spielen und Hack-and-Slay-Rundläufen in der Tradition von Diablo und Titan Quest.

Obwohl mit der Wahl unterschiedlicher Charakterklassen und der Herausbildung von besonderen Talenten Rollenspielkonventionen deutlich das Spielgeschehen dominieren, integriert das Spiel auf geschickte Weise zugleich Adventure- und Action-Elemente. In den meisten Fällen beschränkten sich Spiele, die vom Hongkong-Kino beeinflusst wurden, auf die vielfach bewährte Turnier-Dramaturgie eines Beat’em-Up-Spiels wie „Mortal Kombat“ oder „Dead or Alive“. „Jade Empire“ bezieht hingegen nahezu alle Facetten des asiatischen Actionkinos ein und überträgt sie kongenial in eine fesselnde Geschichte, die zugleich spielerisch reizvolle Herausforderungen bietet. Das echtzeitbasierte Kampfsystem erinnert nicht von ungefähr an klassische Beat’em-Up-Spiele. Neben den durch Talentpunkte ausgebauten Fähigkeiten kommt es auf die präzise Kombination der einzelnen Kampfstile an. Der Wettkampf und Aufstieg in einer exklusiven Arena der Kaiserstadt bezieht sich sogar unmittelbar auf die Levelstruktur von „Street Fighter“, „Tekken“ und deren Epigonen. Um die feindlichen Lotus-Assassinen zu unterwandern, muss der Protagonist in einer Reihe von zunehmend schwierigeren Duellen deren Anwerber beeindrucken. Obwohl das Gameplay alle Register eines Beat’em-Up-Spiels zieht, muss man sich zwischen den Kämpfen entscheiden, ob man sich auf ein Angebot einlässt, das man nach Einschätzung des örtlichen Verbrecherclans gar nicht ablehnen kann. Spieler, die einen weniger actionorientierten Lösungsweg bevorzugen, können die Aufnahme in den Lotus-Orden auch alternativ durch rhetorische Taktiken und das Lösen von Rätselaufgaben erreichen.

Die exotische Spielwelt lässt sich wie in einem Adventure erkunden. Die Interaktion mit der Umgebung beschränkt sich nicht auf die geradlinigen Sammelaktionen und Monster-Parcours anderer Rollenspiele. Durch optionale Gespräche mit Charakteren erschließt sich die Mythologie des mittelalterlichen Martial Arts-Universums. In einem Garten der Philosophen erhält man Einblicke in die verschiedenen Glaubensrichtungen des Kaiserreichs, eine Subquest ermöglicht die Teilnahme an einer politisch brisanten Theateraufführung und die Stadt der Toten konfrontiert die Spieler wie die asiatische Variante eines Tim Burton-Films mit dem Alltag des Übernatürlichen. Immer wieder wird, nachdem durch ein heimtückisches Verbrechen das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod aus der Balance gebracht wurde, die Schwelle in die Parallelwelt der Geister überschritten. Zu den besonderen Finessen von „Jade Empire“ gehört aber auch, dass sich trotz dieses in phantastischen Erzählungen immer wieder gerne bemühten Themas die Entwicklung des Plots alles andere als berechenbar gestaltet.

Die Plot Twists der Bioware-Spiele gehören zu den dramaturgisch raffiniertesten Einfällen der neueren Videospielgeschichte und können sich mühelos mit ihren filmischen Gegenstücken messen. Spielerische und dramaturgische Standardsituationen wiegen den Spieler in Sicherheit und locken ihn oder sie bewusst auf falsche Fährten. Die in einer entlegenen Kung Fu-Schule angesiedelte Exposition erfüllt die zu erwartenden Standards, sowohl in spieltechnischer, als auch dramaturgischer Hinsicht. Ein nach Bedarf erweiterbarer Trainingskampf macht die Spieler mit der Steuerung vertraut, während die Konfrontation mit einem überambitionierten Mitschüler und die Ratschläge des weisen alten Meisters den pünktlich zum Ende des ersten Aktes einsetzenden Konflikt vorbereiten. Natürlich entführt der aggressive Widersacher die engste Vertraute seit Kindertagen als Ablenkungsmanöver und Vorspiel zur eigentlichen Katastrophe. Die Schule wird von Lotus-Assassinen unter dem Kommando eines maskierten Schurken, der an eine Wu Xia-Variante von Darth Vader erinnert, zerstört und der Lehrmeister, der sich kurz darauf als Bruder des Kaisers im Exil erweist, wird in die Kaiserstadt verschleppt. Bis dahin folgt „Jade Empire“ dem in Drehbuch-Ratgebern gerne bemühten Modell der archetypischen Heldenreise. Der Held oder die Heldin (das Geschlecht lässt sich zu Beginn des Spiels frei wählen) wagt den ersten Schritt über die Schwelle ins Abenteuer und begibt sich nach dem Verlust des Ziehvaters auf die Suche nach dessen Entführern. Doch die Verhältnisse gestalten sich längst nicht so eindeutig, wie sie zu Beginn erscheinen. Situationen, die auf den ersten Blick eindeutig erscheinen, erfahren unerwartete Auflösungen und die eigene Biographie gestaltet sich längst nicht so harmonisch, wie man anfangs vermuten würde.

Das zentrale Thema der Handlung spiegelt sich in der Architektur der einzelnen Levels wider und wird über die Gestaltung der Spielumgebung sorgfältig lanciert. Das ungebremste und unreflektierte Streben nach Macht durch technischen Fortschritt führt zum Rückfall in archaische Strukturen und repressive Unterdrückungsstrukturen. Bevor sich dieser Hintergrund nach den Ermittlungen in der Kaiserstadt im vierten Kapitel des Spiels umfassend erschließt, wird die Thematik bereits im Mikrokosmos der Stadt Tiens Anleger durchgespielt. Die auf der Reise der Helden als erste Station aufgesuchte Siedlung sollte als Vorzeigebeispiel für den technischen Fortschritt dienen. Durch die Öffnung eines Staudamms kommt jedoch wie in John Carpenters The Fog (1980) die verdrängte Vergangenheit des wohlhabenden Handleszentrums und ein lange verschwiegenes Unrecht zum Vorschein.
Neben den Schauplätzen tragen vor allem die Nebenfiguren, von denen eine als Begleiter frei gewählt werden kann, wesentlich zur atmosphärischen Dichte des Spiels bei. Sie unterstützen mit ihren Fähigkeiten den Protagonisten im Kampf, die originellste Variante davon bildet eine Hommage an den aus älteren Jackie Chan-Filmen bekannten „Drunken Master“-Stil. Über die Sidekick-Funktion hinaus entwickeln die Gefährten markante Persönlichkeitsprofile, die von der Comic Relief-Funktion des meistens angetrunkenen, selbsternannten „Schwarzen Wirbelwind“ bis hin zur weiblichen Zorro-Figur Silberfuchs reichen. Im Finale müssen wie in einer Parallel-Montage mehrfach auch die Begleiter des Helden, bzw. der Heldin, übernommen werden und ihre einzelnen Aufgaben innerhalb der epischen Entscheidungsschlacht erfüllen. Mit einigen der Charaktere lässt sich mit entsprechender Sensibilität sogar eine Romanze beginnen, die den Epilog zur Geschichte maßgeblich beeinflusst.

Zwar bietet „Jade Empire“ keine weitläufige, frei erkundbare Welt wie die „Gothic“ oder die „Elder Scrolls“-Serien, doch dafür erscheint das Verhältnis zwischen der Entwicklung der Handlung und dem Ambiente besonders stimmig arrangiert. Manchmal trägt der Assoziationsreichtum der spielerischen Fiktion wesentlich stärker zum positiven Gesamteindruck bei, als eine offen strukturierte Welt, in der sich das dramaturgische Potential im wahrsten Sinne des Wortes verläuft. Eine allzu lineare Abfolge der Ereignisse vermeiden die Bioware-Designer jedoch geschickt, indem sie während des Aufenthalts in der Kaiserstadt im umfangreichen Mittelteil des Spiels die Reihenfolge der einzelnen Aufgaben den Spielern überlassen. Andere Passagen wie die Reise durch das Totenreich oder der Showdown in der Festung des Kaisers steigern hingegen die dramaturgische Intensität des Geschehens durch die bewusste Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten. In dieser Hinsicht bildet „Jade Empire“ nicht nur ein Musterbeispiel für jene Spielstruktur, die der amerikanische Medienwissenschaftler Henry Jenkins als Kompromissvorschlag in der akademischen Debatte zwischen Narrativisten und Ludologen als „Narrative Architecture“ bezeichnete.

Der gezielte Verzicht auf Höhlentrolle, Hobgoblins, Hochelfen und andere überstrapazierte Fantasy-Stereotypen trägt neben dem überzeugenden Gameplay und der spannenden Handlung wesentlich dazu bei, dass „Jade Empire“ zu den innovativsten und gelungensten Rollenspielen der letzten Jahre zählt. Das 2007 von Bioware veröffentlichte Science-Fiction-Spiel „Mass Effect“ entwarf schließlich eine detailliert ausgearbeitete fiktionale Welt, deren Besonderheiten in Spin-Off-Romanen und zusätzlichen Download-Episoden ausgestaltet wurde. Nachdem Bioware mit Spielen wie „Baldur’s Gate 2“ (2000) und „Knights of the Old Republic“ (2003) einfallsreiche, neue Sektionen der lizenzierten Universen des „Dungeons and Dragons“-Spielsystems und der „Star Wars“-Saga geschaffen hat, markieren „Jade Empire“ und „Mass Effect“ die ersten Schritte zur Etablierung eigener Spielwelten mit einem ausgeprägten Potential für komplexe Games und Geschichten. Diese Tendenz wird sich hoffentlich in dem für Ende 2009 angekündigten Spiel „Dragon Age: Origins“ fortsetzen, mit dem die Gamedesigner von Bioware neun Jahre nach dem Erfolg von „Baldur’s Gate“ auf das Gebiet der High Fantasy zurückkehren.

Achtung, die Cyber-Orks kommen! - "Pandorum" von Christian Alvart

von Sarah Böhmer

„Pandorum“
USA 2009, R: Christian Alvart, B: Travis Milloy, K: Wedigo von Schultzendorff, M: Michl Britsch, P: Paul W.S. Anderson, Jeremy Bolt, Robert Kulzer, Martin Moszkowicz.
D: Dennis Quaid (Payton), Ben Foster (Bower), Cam Gigandet (Gallo), Antje Traue (Nadia), Chung Le (Manh), Eddie Rouse (Leland), Norman Reedus (Shepard).
Länge: 108 Minuten.
Verleih: Constantin Film
Kinostart: 01.10.2009


Was passiert nach dem Ende der Welt? Regisseur Christian Alvart gibt sich postmodern - oder hat er einfach nur Nietzsche gelesen? Denn die Antwort in seinem neuen Film "Pandorum" lautet: die ewige Wiederkunft des Gleichen. Und je länger der Film läuft, desto drückender macht sie sich bemerkbar...

Leider ist der Name der futuristischen Arche Noah "Elysium" nicht Programm, denn auch wenn das Raumschiff für den Aufbau einer menschlichen Kolonie ein Paradies zum Ziel hat, ist es selbst definitv keines. Davon können der Ingenieur Bower (Ben Foster) und sein Lieutenant Peyton (Dennis Quaid) ein Lied singen, als sie mit Gedächtnisverlust in völliger Dunkelheit aus dem Kälteschlaf erwachen. Neben nicht vollfunktionsfähigen technischen Geräten und blockierten Ausgängen stellen sich den beiden nämlich noch eine Reihe unangenehmer Fragen: Wer sind wir? Wo ist der Rest der Crew? Wo kommen die menschenfressenden Kreaturen her? Welches Jahr haben wir? - Und wieso hat uns eigenlich keiner geweckt? Während Peyton im blockierten Vorraum der Brücke am einzigen funktionierenden Computer (dem manuell bedienbaren Generator sei Dank!) die Stellung hält, kundschaftet Bower auf dem Raumschiff die Lage aus. Die ist nicht rosig: von einer handvoll verstörter Crew-Mitglieder, deren strapazierter Überlebensinstinkt ihre Teamfähigkeit gefährlich angeschlagen hat, erfährt er nicht nur, dass die Erde nicht mehr existiert, sondern auch, dass die menschenfressenden Kreaturen die mutierten Nachfahren der eigenen Crew-Angehörigen sind! Als einzige Rettung bleibt, dass Ingenieur Bower den Reaktor rechtzeitig erreicht, um ihn manuell wieder hochzufahren, bevor dieser sich für immer ausschaltet und das Raumschiff nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden kann. Doch diese Mission wird nicht nur von äußeren Feinden gefährdet. Denn Pandorum - paranoide Schizophrenie gekoppelt mit Größenwahn, ausgelöst von emotionalem Stress (!) - lauert in den Psychen der Überlebenden - und zudem stehen weltbewegende Enthüllungen unmittelbar bevor...

Wer sich schon immer gefragt hat, wie wohl ein Patchwork aus der "Alien"-Quadrilogie, „Event Horizon“, „Battlestar Galactica“, „Solaris“ und „Herr der Ringe“ aussieht (und dem eingefleischten Science-Fiction-Fan fallen sicher noch mehr hübsch eingebettete Bezüge auf), erhält mit "Pandorum" die Antwort. Der Unterhaltungwert ist zwar nicht unbedingt eine Multiplikation der eben genannten, muss sich aber auch nicht verstecken. Doch leider kann auch die streckenweise hohe Spannung und das blutrünstige Nahkampf-Ekel-Potenzial nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dem Film an Eigenständigkeit mangelt. Schon das kalte, düstere, teils metallische, teils schleimige Setting erinnert verdächtig an „Alien“ - woher kommt eigentlich die Annahme, dass in 200 Jahren so wenig Wert auf Innen-Architektur in Raumschiffen gelegt wird? Bei Star Trek geht es doch auch! - und warum sehen die menschenfressenden Mutanten aus wie Orks? Und neben der altbekannten Mission, den Fortbestand der Menschheit mit einer Kolonie auf einem erd-ähnlichen Planeten zu sichern, begegnet man auch der paranoiden Schizophrenie/Größenwahn, pardon: Pandorum, mit mäßiger Begeisterung. Noch dazu diese ewigen Wettläufe gegen die Zeit wegen diesen bösen Reaktoren... Und natürlich ist bei einer Raumschiff-Arche Noah auch nichts anderes zu erwarten, als dass die selbstzusammengefundene Rettungscrew alle ethnischen Gruppen beinhaltet und jedes Geschlecht abdeckt - es ist nur etwas fragwürdig, dass nur die "Arier" der Truppe überleben. Aber immerhin zaubert der liebe Deus ex Machina dem Zuschauer dafür am Schluss noch eine kleine Entschädigung.

Das einzig Originelle, das man dem Film zugute halten kann, ist sein revolutionärer Verzicht auf die bedrohliche außerirdische Lebensform an Bord. Mit fast schon humanökologischer Philosophie präsentiert er dem Mensch als größten Feind seine eigene Nachkommenschaft, deren schnelle Anpassung an die selbstverursacht ruinösen, naturfremden Lebensumstände sie zu blassen, kannibalistischen, animalischen Monstern gemacht hat. Doch leider verbrät Pandorum dieses originelle Potenzial völlig, indem er die Fakten nur in einer kurzen, rasend geschnittenen Erklärungssequenz zusammenfasst und den Zuschauer dabei auch noch mit Höhlen- bzw. Raumschiffmalerei, einem durchgeknallten Schamanen und einem wahnsinnigen Lieutenant ablenkt. Danach wird nicht mehr darauf eingegangen, und man begnügt sich lieber mit weiteren Kampf- und Verfolgungsszenen. Selbst die ewig interessante Frage, ob es Moral auch dort gibt, wo ihr Fehlen nicht gerichtet wird, geht im spektakulären Finale unter - egal wie eindringlich der fehlbesetzte Good Guy Dennis Quaid sie auch ins All schreien mag. In Sachen Originalität und Sozialkritik funktioniert der aktuelle Sci-Fi-Film "District 9" um Längen besser. Und wenn die Kamera im Abspann à la Alien noch einmal durch die Innenräume der Elysium schwebt, fragt man sich, ob dieser Film dem Science-Fiction-Kanon überhaupt etwas hinzugefügt hat. Beunruhigend, dann zu lesen, dass Regisseur Christian Alvart eine Triologie plant. Selbst das Nachspiel bedient Klischees: Was ist das nur mit diesem Sequel-Wahn?

Sondervorführungen von "Menachem und Fred"

Am 1. Oktober finden zwei Sondervorführungen des preisgekrönten Dokumentarfilms "Menachem und Fred" von Ofra Tevet und Ronit Kertsner statt.
Und zwar um 19 Uhr in Heidelberg im Gloria, Hauptstraße 146
und um 21 Uhr in Mannheim im Atlantis, K2, 32.

Die Vorführungen finden im Rahmen des SWR2 RadioClubs statt und werden vom SWR-Filmkritiker Herbert Spaich moderiert.
Als Gäste werden die Protagonisten Menachem Mayer und Fred Raymes sowie die Regisseurinnen anwesend sein.

"Menachem und Fred" erzählt die Geschichte der jüdischen Familie Mayer aus Hoffenheim, die in den 30er Jahren vertrieben wurden. Die beiden Brüder Menachem Mayer und Fred Raymes überlebten den Holocaust in einem französischen Waisenhaus, nach dem Krieg trennten sich ihre Wege. Beide entschieden sich für diametral entgegen gesetzte Wege des (Über-)Lebens – während Fred seine jüdisch-deutsche Herkunft verheimlichte und Amerikaner wurde, fand Menachem ein national-religiöses Leben als orthodoxer Jude in Israel. Viele Jahre leugnete der eine die Existenz des jeweils Anderen. Der Film zeichnet ihren Weg zueinander nach - und dokumentiert auch ihre Begegnung mit den Nachkommen des SA-Mannes, der sie damals aus ihrem Haus geworfen hat: Emil Hopp. Dessen Nachkommen sind die SAP-Gründerfamilie und inzwischen Förderer des örtlichen Fußballwunders TSG 1899 Hoffenheim.

"Menachem und Fred" startet am 1. Oktober in den Kinos. Alle Infos unter www.filmlichter.de.

Vergangenheitsbewältigung als Familientreffen

ES KOMMT DER TAG

von Bernd Zywietz

D 2009
R + B: Susanne Schneider, K: Jens Harrant, SCH: Jens Klüber, M: Andreas Schäfer, Biber Gullatz, P: Sabine Holtgreve, Stefan Schubert, Ralph Schwingel,
D: Katharina Schüttler (Alice), Iris Berben (Judith/Julie), Jacques Frantz (Jean-Marc), Sebastian Urzendowsky (Lucas), Sophie-Charlotte Kaissling-Dopff (Francine) u.a.

Länge: 108 Minuten
Kinostart: 01.10.2009
Verleih: Zorro Film
FSK: 12


Natürlich wurde wieder Bernd Eichingers und Uli Edels DER BAADER MEINHOF KOMPLEX erwähnt, wenn auch nicht beim Namen genannt – und erneut gab es Lachen und Gekicher, diesmal auf der Publikumspremierenfeier von Susanne Schneiders ES KOMMT DER TAG im Berliner Kino in der KulturBrauerei. Die E-Presse hatte schon am roten Teppich gedrängelt wegen der beiden Hauptdarstellerinnen: Iris Berben und Katharina Schüttler. Mit bzw. dank ihnen ließ sich gerne und gut über den „gewissen“ großen und „besagten“ erklärenden Film spötteln, wobei ES KOMMT DER TAG scheinbar unterschiedlicher nicht sein kann.

Von Anfang an war das Projekt, wie Producerin Sabine Holtgreve von Wüste Film Ost erklärte, als Kammerspiel angelegt, ebenso die Aufarbeitung des Terrorismus als Thema: Die junge Alice (Schüttler) fährt nach Frankreich, wo Julie Muller (Berben) als Mutter zweier Kinder mit ihrem Mann ein Weingut betreibt. Durch ihr Umweltengagement ist Julies Bild in die Zeitung geraten. Auf diese Weise hat Alice sie gefunden, die nun voller Zorn Julie nachspioniert, den eigenen Wagen gegen einen Baum fährt, um sich auf dem Hof ein Gästezimmer zu nehmen – kurz, etwas im Schilde führt.


Wüsste man nichts von dem Film, es wäre der Beginn eines Psychothrillers. Doch natürlich eilt der Inhalt notgedrungen voraus, was insofern schade ist, als ein dahingehend unbefangener Zugang zu ES KOMMT DER TAG verstellt wird. Durch Presse und PR wissen wir, es geht um den linken bundesdeutschen Terrorismus, genauer gesagt, um eine Terroristin und ihre Vergangenheit, die sie einholt. Julie heißt eigentlich Judith, ist in den 1970ern aus politischem Bewusstsein in den Untergrund gegangen, hat bei einem Banküberfall einen Mann erschossen – vor allem aber ihre kleine Tochter verlassen. Diese Tochter, Alice, konfrontiert nun ihre Mutter, mit deren Vergangen und ihrer eigenen unfertigen Identität, dem Schmerz des Aufgegeben-Werdens. Es ist ein gerechter Zorn, und zum Umstand, dass die Verwundung wegen eines historisch überholten „politischen Widerstandes“ geschah, der für die Jüngeren aus der Rück-Sicht nicht oder nur bedingt verständlich ist, kommt hinzu, dass Judith als Julie mit ihrem französischen Mann Jean-Marc (formidabel: Jacques Frantz) auf ihrem elsässischen Hof doch wieder ein damals so verpöntes Familienleben aufgebaut hat, in dem Alice nichts zu suchen hat. All das verleiht der jungen Frau sowohl eine besondere Opferrolle wie auch eine – dramaturgisch vorzügliche – Pein als Motivation. Die Mutter soll sich offen zu ihrer Tat bekennen und sich der Polizei stellen, das fordert Alice unerbittlich.


Schneiders Thomas-Strittmatter-Preis prämiertes Drehbuch ist wie ihre Regie sehr exakt und spielt die Facetten des Beziehungskomplexes der beiden Frauen erstaunlich vielfältig durch, ohne dass dabei die Figuren in Einzelteile zerfallen. Nicht „die da ist meine Mutter“, stößt Alice gegenüber Judiths Sohn Luca (ebenfalls ungeheuer präsent: Sebastian Urzendowsky) hervor, sondern „die hat mich geboren“ – etwas gänzlich anderes; eine in dem erregten Moment fast schon zu gewitzte kodierte Anklage Judiths, die ja gerade nicht „Mutter“ für Alice war bzw. sein wollte.

Notgedrungen bietet dieses geniale Monstrum an Konfliktsituation zu viel Stoff, um alle Aspekte gänzlich durchzuspielen, doch werden auch jene in der „zweiten Reihe“ wie Alices Beziehungen zu ihren Halbgeschwistern und Jean-Marcs Verhältnis zu seiner ihm plötzlich fremden Frau in wenigen kraftvollen Momenten so auf den Punkt gebracht, dass man aufs Durchdeklinieren gar nicht bestehen mag. ES KOMMT DER TAG ist in allererster Linie ein Schauspielerinnenfilm. Die theatererfahrene Schneider gönnte ihren zwei Stars den Luxus, eine Woche lang gemeinsam die Charaktere zu entwickeln. Das hat sich gelohnt. Was Berben und Schüttler hier an Intensität und Nuanciertheit aufbieten, ist atemberaubend. Alles dient den beiden und spiegelt ohne große Anstrengung ihren leidvollen Zweierzwist – wie die Musik, die grimmig verletzten „Alice“-E-Gitarrenklängen den „Judith“-Klaviertönen erst gegenüber-, dann zur Seite stellt bzw. sie sich ineinander verschlingen lässt. Die modische, manchmal doch arg bewegte Handkamera weidet sich an diesen Schauspielerinnen, an Schüttlers verzweifelt grimmiger Lust, wenn sie auf einem Rastplatz mit ihrem Freund nochmal Sex auf dem Rücksitz hat, ehe sie ihm davonfährt. Oder an Berbens mühevolle Beherrschtheit zu Tisch, wenn sie nicht weiß, was nun mit, angesichts oder wegen diesem Menschending, für das es keine rechte Verwandtschaftsdefinition (mehr) gibt, tun soll.

Ein kleiner Wehmutstropfen ist allerdings das bisweilen überdeutliche Sprechen Schüttlers, die, vom Theater offenbar „verdorben“ die Wortendungen wie auf der Bühne betont und so ihrer Figur das eine ums andere Mal die emotionalen Spontanität nimmt, vor allem aber das Publikum um das leichte, so hinreißende, natürliche Vernuscheln ihrer früheren Filme bringt. Doch selbst das lässt sich als durch ihre Figur motiviert begreifen: Eine junge Frau, die ohne Herkunft nicht weiß, wer genau sie ist; ein Zorn, der wie eine Maske getragen die wunde Seele ebenso schützt wie nach außen hin repräsentiert.

Wie steht es nun aber, von der „privaten“ Brillanz von ES KOMMT DER TAG abgesehen, mit der „Politik“ – genauer: dem Thema Schuld und Terrorismus? Komischerweise ähnelt ES KOMMT DER TAG dabei doch ein winziges Bisschen dem verpönten BAADER MEINHOF KOMPLEX, insofern die Begleitinformationen, die den Film in den Terrorismuskontext setzen, dem Film nicht guttun. Und auch wie beim großen Aufreger des letzten Jahres schwächelt ES KOMMT DER TAG – wenn auch auf ganz anderem Niveau, mit völlig anderen Ansprüchen, Gründen und Wirkungen – hinsichtlich der Diskussion um die Beweggründe, dem „Wie es dazu kommen konnte“.

Auf Gudrun Ensslins Briefe (in denen sie, die ihren Sohn verlassen hat, sich doch stets interessiert gezeigt hat) wird immer wieder verwiesen, von Schneider, Schüttler, Holtgreve.

Dass es pervers sei, Kinder der dritten Welt retten zu wollen und dafür die eigenen zu missachten. Ob man einem Menschen nach so langer Zeit nicht vergeben solle, könne, müsse, weil der jemanden aus „guten“ Gründen auf dem Gewissen hat.
Große Fragen, starker Tobak.

Bei der Stoffentwicklung, so Producerin Holtgreve, habe man die Mutter anfangs mit mehr Verständnis behandelt, erst danach sie quasi etwas härter gezeichnet. Und doch ist davon wenig zu spüren, auch zum etwas offenen Schluss nicht. Sicher, was Judith getan hat, daran lässt man sie leiden und der Film entschuldigt sie nicht: dass sie Alice weggeben und einen Mann bei einem Banküberfall erschossen hat. Doch aus welchen (Hinter-)Gründen? „Du verstehst das nicht!“, erklärt Judith ihrer Tochter, spricht von ganz anderen, revolutionären Zeiten, und in diesem Moment schwächelt Berbens Spiel, wirken die allgemeinen Rechtfertigungen aufgesagt, nicht jedoch aus der Figur heraus. Genauer und besser dann zu Tisch: Mutter Judith wirft ihrem Sohn, der sich auf die Seite der Halbschwester stellt, vor, er habe in seiner Bequemlichkeit keine Ahnung von und Interesse an Engagement. Hier wird der Generationenkonflikt spürbar, den Schneider als Ausgangspunkt für ihre Filmidee nennt.

In einer Szene konfrontiert Alice ihre Mutter mit dem Tod des Mannes, den diese auf dem Gewissen hat. Endlich erinnert sie (und der Film) an dessen Hinterbliebene – um dann doch sofort wieder auf Alices eigenes Schicksal zu kommen. Selbst Alice schert sich nicht wirklich darum, um was es damals gegangen ist. Und auch wenn schließlich Judith davon erzählt, wie sie ihr unschuldiges Opfer erschossen hat, ein Missgeschick sozusagen, bleibt der Film ein kleinwenig achselzuckend. Wie heikel und unauflösbar wäre es gewesen, wenn Judith einen kaltblütigen, politischen Mord begangen hätte, wegen den sie rechtfertigen muss – und vielleicht gar nicht wirklich bereut? Etwas, das weit weniger entschuldbar gewesen wäre? Der so doch recht versöhnliche Schluss wäre undenkbar und die darauf folgenden Gefechte mit den Förderanstalten anzuschauen ein Genuss gewesen.


Nun ist es nicht fair, einem Filmprojekt vorzuhalten, es habe keinen Selbstmord vor der Geburt begehen wollen, zumal es das Terrorismusthema letztlich doch nur ein Randaspekt ist. Allerdings: Weniger noch als in Christian Petzolds DIE INNERE SICHERHEIT (D 2000) spielt die linke Gewalt und ihre Vergangenheit in ES KOMMT DER TAG eine Rolle – und zugleich doch mehr; der Film wird deutlicher. Ob Judith in der RAF oder „Bewegung 2. Juli“ ist zwar egal, doch es gibt Fahndungsplakate, auf denen Judith als verdächtige Terroristin gesucht wird. Alice fotokopiert sie, hängt sie im Weinberg auf. Man fragt sich unwillkürlich, auch eingedenk Petzolds Film, ob es auch gewöhnliche Fahndungsplakate hätten sein können?

Können sie natürlich nicht. Der Film braucht für sein Dilemma einen ehemals guten (oder gutmeinenden), aus überzeugtem, verzerrt altruistischem Grund, aus dem schlimmes entwachsen ist – ein gesellschaftliches Spiegelbild von dem, was Alice wiederfahren ist.

Petzold hat keine Fahndungsplakate. Nur kleine Andeutungen und Anspielungen verweisen in DIE INNERE SICHERHEIT auf die linksterroristische Vergangenheit der Eltern, und geht zugleich viel weiter, weil er das Leben in einer permanenten, gleichwohl stummen Flucht präsentieren kann. ES KOMMT DER TAG zeigt eine statische Situation, und alles Diskutieren und alle Gründe können nicht anders, als Dialoge und, nun ja, Behauptungen bleiben.

So gesehen ist die terroristische Geschichte strukturell ebenso unabdingbar für die Erzählung, wie sie gleichzeitig handlungsthematisch keine wirkliche Rolle spielt – schon gar nicht als gesamtgesellschaftliches, politisches und historisches Phänomen. Mit ihr setzt sich ES KOMMT DER TAG nicht wirklich auseinander, auch wenn die entsprechende Ideologie und ihr Kampf auf das Argument des Weltverbesserns und das der „anderen Zeit“ reduziert, als Fragmente eingestreut sind und Judith ambivalenter werden lassen.

Man könnte ES KOMMT DER TAG denn auch den entpolitisierten Rückzug ins Private vorwerfen (wie bei Schlöndorffs DIE STILLE NACH DEM SCHUSS geschehen) oder dass er doch nichts über die Motive und ihre Kontexte aussagt (was man dem BAADER MEINHOF KOMPLEX vorhält). Beides wäre wohl ungerecht, tatsächlich will ES KOMMT DER TAG beides selbst gar nicht. Im schlimmsten Fall würde Schneiders Film genau aus eben jenen „Mängeln“ seine Kraft beziehen.


Wollte man eine tiefere ideologische Diskussion im Film in einem solchen Rahmen, man hätte Alice nicht Judiths Tochter, sondern die des erschossenen Mannes sein lassen. Es wäre ein anderer Film geworden – und es ist keine neue Idee. Zwei Filme habe sie, jedenfalls in etwas, in letzter Zeit aufgenommen: Connie Walters SCHATTENWELT (D 2008) über eine RAF-Opfertochter (Franziska Petri), die es auf den Terroristen (Ulrich Noethen), Mörder ihres Vaters, abgesehen hat, sowie Oliver Hirschbiegels FIVE MINUTES OF HEAVEN (GB 2009) zum Nordirlandkonflikt, in dem sich ein katholischer Mann (James Nesbitt) endlich dem Protestanten (Liam Neeson) stellt, der seinen Bruder tötete – eine Tat, die beider Leben ruiniert hat.

Von Osmose sprach Susanne Schneider bei der Publikumspremiere hinsichtlich dieser neuen Form der Auseinandersetzung, davon, dass es wohl eine Generation braucht, um die Geschichte – jedenfalls hinsichtlich Schuld und Trauer – fiktiv zu verarbeiten. Da mag etwas dran sein, zumindest wenn es um eine bestimmte Art der Verarbeitung geht: eine selbstreflexive, die Trauer und Trauma angesichts politischer Gewalt selbst zum Gegenstand erhebt. Und natürlich braucht es die Zeit, müssen die mittelbaren Opfer heranwachsen, wie auch die Täter auf ihrer Schuld erstmal sitzenbleiben, muss das Kontext-Sujet abkühlen und Politik sich in Geschichte umzuwandeln beginnen. Womöglich gar in Vulgärgeschichte.

So gesehen mag es kein Zufall sein, dass BAADER-MEINHOFF-Reenactment mit seinem fast manischen Authentizitätsgestus und Wieder-Holen wie auch Filme wie ES KOMMT DER TAG, die vom qualvollen Steckenbleiben in der Zeit oder dem untoten Zustand des Vergangen erzählen, zur etwa gleichen Zeit erscheinen. Vielleicht sind sie letztlich doch zwei Seiten einer Münze sind, mit der ihre (Äqui-) Distanz zum Deutschen Herbst und seiner unverdauten Albtraumzeit bezahlt werden muss – eine, die nur zusammen mit Entpolitisierung und / oder der Umformung ins Tragödische zu haben ist.

Grindhouse-Wurzeln von Tarantino

Nach der Sommerpause des Cinema Quadrat in Mannheim geht es nun weiter mit den monatlichen Grindhouse-Double-Features.
Am Samstag, den 26. September, steht die Filmnacht unter dem Motto Tarantino Special:

Es laufen:
Ein Haufen verwegener Hunde (Inglorious Basterds)
ITA 1978. R: Enzo G. Castellari.

Frankreich im Jahr 1944, die Alliierten sind auf dem Vormarsch. Nicht alle Soldaten sind ehrenvoll, einige sind Halunken, Diebe oder sogar Mörder. Ein Trupp der amerikanischen Militärpolizei soll einige dieser „Bastarde“ in ein Lager bringen. Unterwegs dann ein überraschender Angriff der deutschen Feinde, bei dem eine kleine Gruppe der Insassen entkommen kann. Die fünf Deserteure wollen sich gen Schweiz durchschlagen, die Reise birgt allerdings Konfliktpotential. Kurze Entspannung bringt eine Gruppe junger barbusiger Mädchen, die zu allem Übel dann aber leider doch Zähne in Form von Maschinengewehren zeigt... Wenn es nach Kultregisseur Quentin Tarantino geht, dann ist EIN HAUFEN VERWEGENER HUNDE einer der besten, weil unterhaltsamsten Kriegsfilme überhaupt!

Und:

Todeskommando Panthersprung (Five for Hell)
ITA 1968. R: Gianfranco Parolini.

Sommer 1944: ein Lager der US-Armee in Italien. Man sucht freiwillige Soldaten für ein mörderisches Kommando-Unternehmen. Deckname: Panthersprung. Ziel: Im stark befestigten und von Elitetruppen bewachten deutschen Hauptquartier einen kriegsentscheidenden Geheimplan zu erobern! Fünf Männer melden sich – das Kommando wird für sie eine Fahrt zur Hölle… TODESKOMMANDO PANTHERSPRUNG dürfte sicherlich zu den schrillsten Werken von Klaus Kinski gehören – gepflegte Parodie inklusive!


Und leider, leider wird Redakteur Mühlbeyer auch an diesem Samstag fehlen - wie schon in all den letzten Monaten, in denen Urlaub und Filmfestival München dazwischen kam... Uah: und nächsten Monat kann ich AUCH NICHT! Weil da die Hofer Filmtage stattfinden! Ich hab schon Entzugserscheinungen...

Digitale Welten in Mannheim

Vom 23. bis 25. Oktober findet das 24. Mannheimer Filmsymposium im Cinema Quadrat statt. Thema in diesem Jahr ist das digital generierte oder bearbeitete Filmbild, das im Kontrast zum fotographierten/analogen Bild steht.
Der Visualisierung phantastischer Figuren und der Welten von Fantasy, Science Fiction und Comics sind kaum noch Grenzen gesetzt. Sind diese Überwältigungsstrategien der Blockbuster nur eine Neuauflage des alten "Kinos der Attraktionen", welche nur eine "Ästhetik des Spektakels" bieten, oder erschafft die digitale Technik tatsächlich ungeahnte Bildwelten und einen neuartigen Filmkosmos?
Um Fragen der Techniken von Motion Capture und CGI, der Kreativität der Special Effects-Leute, der Ästhetik und einer eventuell sogar neuen Filmsprache geht es in Diskussionsrunden, Vorträgen, Vergleichen von analoger und digitaler Tricktechnik und in Vorführungen von vier Langfilmen und zwei Kurzfilmprogrammen.

Alle Infos unter www.cinema-quadrat.de!

Zwei Filmpremieren in Frankfurt

Am 27. September um 17 Uhr wird Regisseur Adrián Biniez persönlich im Orfeo's Erben (Hamburger Allee 45) seine Liebeskomödie "GIGANTE" vorstellen. Im Anschluss an die Filmvorführung findet ein Publikumsgespräch statt.

"Gigante", eine Koproduktion aus Uruguay und Argentinien, startet zum Bundesstart am 1. Oktober 2009 in den Kinos; auch im regulären Programm des Ofeos Erben und des Mal Sehn Kinos. Auf der Berlinale gewann "Gigante" den Silbernen Bären, den Alfred-Bauer-Preis und wurde als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet.

"Gigante" erzählt die Geschichte des schüchternen Supermarkt-Wachmanns Jara, der sich in die neue Putzfrau Julia verliebt, sich aber nicht traut, sie anzusprechen. Statt dessen heftet er sich an ihre Fersen. Und das ist sehr schön mit trockenem Witz erzählt: wie der bullige Wachmann plötzlich zärtliche Gefühle empfindet für eine recht schusslige Frau; und wie er dann ganz langsam draufkommt, dass das Liebe ist...
Im Anschluss an die Premiere ist das Publikum zu Wein und kleinen Snacks aus Uruguay eingeladen.
Mehr zum Film unter www.gigante-derfilm.de.


Am 17. Oktober dann feiert um 21:15 Uhr ebenfalls im Orfeo's Erben "WEITERTANZEN" seine Frankfurt-Premiere in Anwesenheit der Regisseurin Friederike Jehn und Hauptdarstellerin Marie-Christine Friedrich.

In dem Film heiratet Maren ihren Freund Arno in einem rauschenden Fest. Die Gästeschar ist groß, nur muss Maren schnell feststellen, dass es außer ihrer leicht kapriziösen Mutter wenige ihrer Freunde auf das Fest geschafft haben. So tauchen im Verlauf der Feier nach und nach immer mehr Schatten aus einer längst überwunden geglaubten Vergangenheit auf und ziehen Maren in ihren Bann. Langsam schleichen sich Bedenken ein, ob wirklich alles so freundlich und harmonisch ist, wie es scheint.

Weitertanzen ist nach mehreren preisgekrönten Kurzfilmen der erste abendfüllende Spielfilm der Regisseurin und Autorin Friederike Jehn. Bereits bei seiner Premiere auf den 42. Hofer Filmtagen im Herbst 2008 gewann Weitertanzen den renommierten Eastman Förderpreis, im Frühjahr 2009 dann den Achtung Berlin Award und erst kürzlich den Deutschen Filmkunstpreis auf dem 5. Festival des deutschen Films in Ludwigshafen.
Die begeisterte Resonanz des Publikums und die großartigen Preise für Weitertanzen haben die Macher dazu ermutigt, den Film im Eigenverleih mit Unterstützung der MFG Filmförderung Baden-Württemberg und mit dem Einsatz der Preisgelder bundesweit in die Kinos zu bringen.

Frankfurt Kinostart: Ab 15. Oktober im Orfeo’s Erben im Verleih der Gambit Film.

Mehr zum Film under www.weitertanzen.de.

"»Weitertanzen« entführt den Zuschauer mit seiner unkonventionellen Bildsprache an einen hermetischen Ort, der so realistisch wie surreal ist. Dass diese beiden Ebenen spielend bedient werden, ohne dass der Film unentschieden wirkt, zeigt das Talent der Regisseurin." Aus der Laudatio des Achtung Berlin Award 2009

Der Teufel ist ein Eichhörnchen - "Antichrist" von Lars von Trier

von Harald Mühlbeyer

"Antichrist"
Dänemark, Deutschland, Frankreich, Schweden, Italien, Polen 2009. Buch und Regie: Lars von Trier. Kamera: Anthony Dod Mantle. Produktion: Meta Louise Foldager.
Darsteller: Charlotte Gainsbourg (Sie), Willem Dafoe (Er).
Länge: 104 Minuten
Verleih: MFA
Kinostart: 10.09.2009

Jetzt also doch noch etwas zu Lars von Triers "Antichrist"; wenn auch mit einiger Verspätung nach dem Kinostart.

"Antichrist" ist sicherlich nicht der beste Film von von Trier. Nein. Aber es ist ein eindrücklicher Film, das hat er mit den anderen von Triers gemeinsam, und das ist mehr, als viele sonstige Filme zu bieten haben.

Und es ist im Grunde ein Wunder. Denn die diesjährigen Filmfestspiele von Cannes, wo "Antichrist" seine Uraufführung erlebte, haben eine Menge eindrücklicher, nachdrücklicher, unvergesslicher Filme beinhaltet, die alle jetzt so langsam in die deutschen Kinos kommen: Tarantinos Meisterwerk "Inglourious Basterds", demnächst Michael Hanekes "Das weiße Band", der verdientermaßen gewonnen hat, im Januar dann Gilliams "Imaginarium of Dr. Parnassus"; und Ang Lees "Taking Woodstock", der auch gerade in den Kinos läuft, ist ja auch sehr, sehr gut. Da geht sogar ein Film wie "Zerrissene Umarmungen" unter, der sicherlich nicht der beste von Almodovar ist, zu überambitioniert, zu gewollt verdreht; in Berlin aber wäre man froh, wenn man wenigstens sowas mal sehen würde...

"Antichrist" ist als Film vielleicht nicht ganz gelungen, als Aufreger aber allemal gut genug. Und diese Aufgabe hat er ja auch erfüllt, und von Trier hat das ja auch bezweckt. Sonst würde er nicht gleich am Anfang in seine wunderbar choreographierten Slowmotion der Schrecklichkeit einen kurzen Hardcore-Porno-Clip einmontieren. Von Trier weiß schon, wie er die Leute aus den Sesseln heben kann, die sonst wenig aus den Sesseln hebt. Und die dann gleich Frauenfeindlichkeit rufen.

Ich war nicht dabei; aber das muss in Cannes sowas wie ein Lauffeuer gewesen sein, dass man sich gegenseitig in diesen Vorwurf reingeschaukelt hat: uha, von Trier, der hat doch immer die Frauen leiden lassen. Und jetzt ist die Frau sogar nicht nur die Böse, sonder das Böse an sich!

Aber nein. Das ist ja das Gewitzte bei Lars von Trier: dass er sich eben nie auf einen Standpunkt festlegen lässt. Der Film ist genauso frauenfeindlich wie irgendwas anderes. Man kann "Antichrist" auf soviele Weisen interpretieren, wie man will; und man kann reinlesen, was man will; und der Film lässt das zu; und ist dabei doch überhaupt nicht beliebig; weil es ihm genau darum geht: um die Herausforderung einer Reaktion.
Da kann man psychologisch rangehen: man kann über die Trauerarbeit reden, die Sie und Er ableisten müssen nach dem Fenstersturz-Tod ihres Kindes. Man kann diskutieren, was richtige und was falsche Trauer ist (wie Er und Sie es im Film tun), und man kann auch Willem Dafoes Charakter einen arroganten, selbstgerechten Kotzbrocken nennen, und Charlotte Gainsbourgs Figur eine neurotische Psychopathin. Oder: man kann ihn als Verzweifelten sehen, der den schrecklichen Tod des Sohnes mit eigener emotionaler Distanz überwinden und dabei wenigstens seiner Frau helfen will, und sie als eine Verzweifelte, die einen ganz anderen Weg geht, die eine größtmögliche emotionale Nähe zum toten Kind erhalten will und dabei von ihrem Mann wegdriftet. Oder hatte vielleicht, auch das deutet der Film an, sie schon immer einen Klammer-Tick, hat sie an ihrer tiefsitzenden, krankhaften Angst vorm Alleinsein schon immer gelitten und deshalb dem Sohn die Schuhe falschrum angezogen, damit er nicht zu weit weglaufen kann? Und fickt sie deshalb so manisch ihren Mann?

Man kann das alles auch religiös sehen, deshalb heißt ja die Waldhütte "Eden", in die Er Sie hinverschafft, um ihre Ängste zu überwinden: durch die Konfrontation mit dem, wovor sie am meisten Panik hat. Und deshalb geht der Horror auch direkt in die Urgründe religiösen Furors: hin zum Bösen in allem. Psychotherapie steht dabei gegen religiöse Spiritualität, die trockene Rationalität der Aufklärung wird mit der Sexualneurose vielleicht des Christentums, vielleicht des Katholizismus, vielleicht auch nur des fanatischen Volksglaubens kontrastierend verbunden. Und das geht bis hinein in die Bilder und perversen Phantasien des Horror-Slasher-Films...

Was aber haben die drei Bettler da zu suchen: das Reh, der Fuchs, der Rabe, die nicht nur überaus symbolisch auftauchen, die auch als überaus symbolisch im Film selbst benannt werden? Und das Schlussbild, die Vielen, Vielen, die den Bergwald hinaufstreben? Die Eicheln, der böse Wald, der tote Baumstumpf, der verlassene Fuchsbau, die Brücke über den Bach...

Lars von Trier weiß sicher ganz genau, was das alles soll; vielleicht aber auch nicht, weil er sich diesen Film ja, wie er sagt, nur von der depressiven eigenen Seele heruntergeschrieben hat. Eins aber ist klar: ob nun aus dem Bewusstsein oder aus dem Unterbewusstsein geschaffen: in seiner klaren Vagheit, in seiner vieldeutigen Grundphilosophie ist er durchaus stringent.

Das hätte man sich auch vom gesamten Film an sich erhofft; dann wäre er ein geniales Meisterwerk geworden.
Nun freilich ist er irgendwo mitten drin etwas unzusammenhängend. Denn Lars von Trier kanns nicht lassen und muss eine seiner großen Geschichtsverdrehungen, Rationalitäts-Spinarounds, Provokationshypothesen loswerden. Wie er in "Breaking the Waves" eine Frau aus irrationalem Glauben heraus hat leiden lassen und ihr am Ende recht gegeben hat; oder die Sklaven von "Manderlay" ihre Unfreiheit hat selbst wählen lassen zugunsten von Sicherheit, so schraubt er auch in "Antichrist" ein Was-wäre-wenn hinein: dass der Gynozid an den als Hexen verschrienen Frauen eben doch gerechtfertigt war, weil man damals noch wusste, wo das Böse liegt...

Das haben in Cannes viele wörtlich genommen, deshalb der böse Vorwurf der Frauenfeindlichkeit. Aber natürlich ist es nicht wörlich gemeint; eher als provokantes Gedankenspiel, als Aufforderung, neue, andere Sichtweisen zuzulassen. Denen, die über von Triers Frauenbild schimpfen, könnte man also im Gegenzug mentale Intoleranz vorwerfen.
In Woody Allens "Der Schläfer" spielt Allen einen Vegetarier, der 200 Jahre eingefroren war und nun gewärtigen muss, dass die Wissenschaft neue Erkenntnisse gewonnen hat: dass nämlich vor allem fettes Fleisch und viel Tabakgenuss gesund sind. Bei Allen ist das ein Scherz; von Trier erzählt etwas ähnliches, aber eben nicht als Gag: und das stürzt dann viele in Verwirrung, weil sie nicht wissen, wie sie umgehen sollen mit dem, was im Film da so alles vorkommt. Und dann stürzen sie sich aufs Offensichtliche und versteifen sich auf angeblichen Frauenhass und beweisen damit, dass sie sowas wie uneigentliches Sprechen oder Ironie oder, sagen wir, böse verdrehten Humor nicht kapieren.

Dem Film kann man etwas anderes vorwerfen. Dass er nämlich diesen Aspekt der Richtigkeit von Hexenverbrennungen zuwenig verbindet mit dem Geschehen zwischen Mann und Frau; und auch nicht so richtig in Einklang bringt mit Charlotte Gainsbourgs eingängiger Erkenntnis, dass die Natur die Kirche Satans sei. Das wurde zwar alles schön und richtig in einen Topf geworfen, aber nicht so richtig umgerührt; oder sagen wir: miteinander vergoren. Oder wenigstens durch gemeinsames Anbrennenlassen miteinander zu einem Ganzheitlichen verbunden.
Aber egal: faszinierend ist der Film dennoch. Wäre er perfekt, wäre er vielleicht wirklich gar nicht mehr zu ertragen.

Screenshot deckt auf! - Al-Qaida in Twin Peaks



Bekkay Harrach alias "Abu Talha, der Deutsche" hat schon zweimal Deutschland im Namen al-Qaidas Videobotschaften geschickt. In der dritten, über die SPIEGEL Online gestern berichtete, droht er mit Anschlägen für den Fall, dass die deutschen Truppen nicht bis 14 Tage nach der Bundestagswahl abgezogen werden.



Aber da wir Filmfreunde wissen, dass die Botschaft nicht nur in den Worten steckt, ist uns klar, dass alles noch viel schlimmer ist. Der schwarze Anzug, den Harrach trägt, und vor allem der rote Vorhang hinter ihm - das alles kommt uns nicht umsonst bekannt vor: Natürlich, das Drohvideo wurde in der „Red Lounge“ gedreht, die uns dank David Lynchs und Mark Frosts bahnbrechender Twin Peaks –Fernsehserie (und natürlich Lynchs Kinofilm dazu, FIRE WALK WITH ME, von 1992) bekannt ist.


Wir erinnern uns: Special Agent Dale Cooper – meist korrekt im schwarzen FBI-Zwirn – kommt in das idyllische US-Waldstädtchen Twin Peaks im nordwestlichen Staate Washington. Dort soll er den Mord an der Highschool-Schönheit Laura Palmer aufklären. In dem skurrilen Reigen muss er auch mal auf quasi-jenseitige Hilfe zurückgreifen (denn schließlich ist auch der Mörder sowas wie ein Geist). Und eben jene enigmatischen Gestalten, der Riese, der rückwärts-vorwärts tanzende und redende Zwerg, Killer-Bob – sie alle entstammen einer fremden, mysteriösen Dimension, der „Red Lounge“ mit ihren – der Name sagt’s – roten Vorhängen.

Nun könnte man die verblüffende Ähnlichkeit des al-Qaeda-Videos darauf zurückführen, dass Bin Laden ein so großer Twin-Peaks-Fan ist (die Serie war schließlich ein internationales Phänomen) und Abu, den Deutschen beorderte, in den FBI-Dress zu steigen. Immerhin musste er sich das Haar so schön zurechtschmieren wie dereinst Cooper-Kyle McLaghlan.

Doch das ist natürlich hanebüchener Unfug. Viel wahrscheinlicher und unheimlicher ist, dass es die „Red Lounge“ wirklich gibt und sie nicht einfach nur eine der wilden Erfindungen David Lynchs ist wie der Elefantenmensch oder der Mulholland Drive.

Da können die Amerikaner noch so sehr im pakistanischen Stammesgebiet ermitteln oder in den Höhlen von Tora Bora stöbern – der Terrorpate und seine Crew haben daheim bei ihnen im Wald (oder da ist zumindest der Übergang in die nichtweltliche Red Lounge) Unterschlupf gefunden. Bei viel undurchschaubareren Gastgebern als den Taliban!

Machen der „Man from Another Place“ und seine Freunde jetzt etwa auch auf Jihad? Plötzlich und im Rückblick wird so manches klar: die bärtigen (!) verwilderten „Holzfäller“, für einen kurzen Moment in FIRE WALK WITH ME zu sehen (einer davon wird von Jürgen Prochnow gespielt, weiß der Teufel, warum) – waren diese „Holzfäller“ wirklich nur „Holzfäller“?



Der Mörder und Schänder der schönen Laura Palmer war auch nicht ihr SPOILER! SPOILER!! Papa, sondern dieser von „Killer Bob“ in Besitz genommen, fremdgesteuert. Bob ist schließlich auch, in der letzten, düsteren Episode, in Dale Cooper gefahren, so dass es der böse Doppelgänger „hinaus“ schaffte. Wo der echte Dale Cooper geblieben ist bzw. ob er von Bin Laden nun übers FBI und seine Methoden ausgehorcht wird, soll für den Moment nicht kümmern – schließlich haben wir nun ein dickes Problem in Sachen „Schläfer“! Schnellstmöglich müssen die BKA-Raster umgeschrieben werden, und auch bei den ESTA-USA-Einreiseformalität ist hurtig die Frage, ob man einer terroristischen Vereinigung angehört zu ersetzen: „Waren oder sind Sie aktuell von einem zotteligen, finster dreinblickenden Dämon in Jeansjacke und -hose besessen?“ Und gemeint ist hier nicht der saudische Milliardär, der trägt lieber Flecktarn und so.



Taucht der sanfte Riese nicht nur Nächtens einfach so aus dem Nix auf, um umständliche Tipps zur Mörderhatz zu bringen, sondern per Sprengstoffgürtel Unheil?

Das geht natürlich zu weit, viel zu weit, das sind alles heillose Spekulationen und Panikmache. Zu unterschiedlich dürften z.B. die Glaubenssysteme von Gast und Gastgeber sein: Fundamentalislam hier, gelebte Konkrete Agnostik dort.

Gewiss ist nur: Stillvoller gehaust hat das al-Qaida-Oberkommando wohl nie, mit von draußen reingereichtem Blaubeerkuchen. Und verdammt gutem Kaffee.


Demnächst: Die Wechsel(balg)beziehung der nordirischen republikanischen Paramilitärs mit dem The Stepford Wives- und Rosemary's Baby-Autor IRA Levin.

Filmisches Theater, theatralischer Film? Betrachtungen zu Lars von Triers DOGVILLE

von Carsten Kurpanek

DOGVILLE ist ein formales Experiment, der großspurig selbst proklamiert, ein Film zu sein. Und zum Leidwesen vieler Kritiker Lars von Triers ist er das auch. Das Konzept, ein ganzes Dorf auf einer schwarzen Bühne zu kreieren, indem man die Gebäude mit Kreidelinien andeutet und nur sehr sparsam mit Requisiten füllt, klingt jedoch zu erst einmal mehr nach Theater als nach Kino. Doch von Triers neustes Werk lediglich als filmisches Theater oder als einen theatralischen Film abzutun, wäre viel zu kurz gegriffen. Vielmehr handelt sich um eine literatur-, theater- und filmhistorische Hybride. DOGVILLE deutet seine verschiedensten Ursprünge jedoch nur an und erwartet vom Zuschauer, dass dieser die konstitutive Leistung aus seiner Erfahrung als Rezipient heraus selbst erbringt. So 'liest' sich DOGVILLE wie das Hörbuch eines Romans, dem von einem zu gleich liebevollen und ironisierenden, auktorialen Erzähler (John Hurt) eine märchenhafte Stimmung verliehen wird. Seine Erzählung findet in den kargen Bühnenbildern und einer handvoll die Bühne mit Leben füllender Schauspieler seine Visualisierung. Ein Film wäre DOGVILLE bis hier noch nicht. Doch Lars von Trier ignoriert einfach die Tatsache, dass er es mit einer Theaterkulisse zu tun hat und inszeniert das Geschehen nicht starr von Außerhalb, aus der Perspektive von imaginären Theaterzuschauern heraus, sondern schließt die vierte Wand der Bühne und filmt von innen. Der Einsatz der Handkamera, wechselnde Einstellungsgrößen und -Perspektiven fragmentieren den Bühnenraum und konstituieren so einen filmischen Raum. Um die Illusion einer 'echten' Welt entstehen zu lassen, verlässt sich von Trier auch auf audio-visuelle 'Klischees' des Kinos. Wenn der Erzähler zum Beispiel von einer stürmischen, regnerischen Nacht erzählt, so ergänzen Regen- und Windgeräusche aus dem Off das bisher unvollständige Bild. In Momenten wie diesen mutiert DOGVILLE tatsächlich zu einem Film. Der Rezipient ergänzt aus der eigenen Seh-Erfahrung die fehlenden Elemente des Bildes, die vom Ton nur suggeriert werden, bis das Bild vor seinem geistigen Auge komplettiert ist. So erinnert DOGVILLE auch an das Ende von Michelangelo Antonionis Anti-Thriller BLOWUP (GB 1966), als er durch Tongeräusche und Kamerabewegung einem imaginären Tennisball zu einer fast greifbaren Existenz verhalf.

Auch wenn das formale Konzept mit seinem asketischen Bühnenbild auf den ersten Blick wie eine extreme Weiterentwicklung des Dogma 95-Manifests anmutet, so wird jedoch sehr schnell deutlich, dass DOGVILLE mit dem Regelwerk rein gar nichts gemein hat. So spielt der Film in einem fiktiven Dorf in den Rocky Mountains, und die Tatsache, dass der Film auf eine Bühne entstanden ist, unterläuft schon das Dogma 95-Postulat, an Originalschauplätzen drehen zu müssen. Auch der Handlungszeitraum, Amerika während der Prohibition, und zahlreiche Genrezitate des Gangsterfilms laufen dem Dogma-Regelwerk zuwider. Tatsächlich handelt es sich bei DOGVILLE um von Triers künstlerisch wie formal expressivstes Werk seit MEDEA (DK 1987), seiner Interpretation des gleichnamigen griechischen Mythos, das damals nach einer Drehbuchvorlage von Karl Theodor Dreyer entstand. Doch einigt beide Werke lediglich das Attribut des Artifiziellen. Stilistisch haben sie nichts gemein. MEDEA besticht durch weitschweifige Panoramaaufnahmen von oft menschenleerer und unberührter Natur, die die mystische Grundstimmung des Films unterstreicht. Rückprojektionen, Farbverfremdungseffekte und chemische Veränderung des Negativs verleihen MEDEA eine Stimmung des Unwirklichen. DOGVILLE hingegen ist so 'normal' wie möglich inszeniert. Von Trier verzichtet bewusst auf aufdringliche visuelle Effekte, und selbst seine sonst exzessive Verwendung von Jump-Cuts hält sich in Grenzen. Dadurch bleibt die 'unfilmische' Prämisse des Films der einzige verfremdende Faktor des Films. DOGVILLE ist somit weder unfilmisch noch Anti-Kino, sondern entspricht eben jener Essenz des Kinos: der Illusion. Und selbst der schon jetzt berühmte Opening Shot von DOGVILLE, gesehen aus der Vogelperspektive, ist nichts als eine Illusion. Tatsächlich wurde er aus 156 individuellen Einstellungen am Computer komponiert. Das Dach des Filmstudios war nicht hoch genug, um die Szene in einer einzelnen, weiten Totale zu fassen.

DOGVILLE ist der erste Film einer weiteren Trilogie Lars von Triers mit dem Titel USA – LAND OF OPPORTUNITIES, deren Handlung jeweils in Amerika angesiedelt ist, einem Land, in dem der Regisseur selbst noch nie gewesen ist. Gerade diese Tatsache schien zu provozieren, so dass DOGVILLE vielfach als anti-amerikanisch gelesen wurde. Natürlich bietet auch die Geschichte selbst reichlich Angriffsfläche für diese Kritik. Jedoch handelt es sich bei DOGVILLE letztlich um eine Allegorie, die anhand einer amerikanischen Kleinstadt von der Korrumpierbarkeit und Hypokrisie der Menschen im allgemeinen und nicht der der Amerikaner im speziellen erzählt. Interessanter als der absurde Vorwurf des Anti-Amerikanismus ist jedenfalls die Feststellung, dass DOGVILLE thematisch an von Triers letzte Trilogie anzuknüpfen scheint.

Als Kind liebte Lars von Trier besonders das Märchen "Goldherz" des dänischen Autors Hans Christian Andersen. Die Geschichte eines armen Mädchens, das in den Wald geht und alles was es besitzt verschenkt, um anderen zu helfen, bildete jeweils die narrative Grundidee hinter den Filmen der A HEART OF GOLD-Trilogie: Sowohl BREAKING THE WAVES (DK 1996), IDIOTERNE (DK 1998) als auch DANCER IN THE DARK (DK 2000) handelten von naiv-unschuldigen Frauen, die aus unerschütterlichem Glauben, das Richtige zu tun, alles in Kauf nahmen, um das ultimative Opfer zu erbringen.

Auch die weibliche Protagonistin in DOGVILLE, Grace (Nicole Kidman), die auf der Flucht vor Gangstern in dem abgelegenen Bergdorf Dogville zuflucht findet, opfert sich unermüdlich selbst auf, um die Sympathie der skeptischen Bewohner, die ihr Schicksal in Händen halten, zu gewinnen. Mit einer fast stoischen Ruhe erduldet Grace alle Demütigungen, die mit der Zeit immer menschenverachtendere Formen annehmen. In vieler Hinsicht ist Grace rationaler und beherrschter als die weiblichen Hauptcharaktere in von Triers Filmen der A HEART OF GOLD-Trilogie. Grace fehlt die Naivität einer Selma (Björk) aus DANCER IN THE DARK oder Bess (Emily Watson) aus BREAKING THE WAVES. Dies dürfte auch der Grund sein, warum von Trier erstmals eine weibliche Hauptrolle mit einer erfahrenen Schauspielerin besetzt hat. Nicole Kidman füllt die Rolle der Grace mit Leben, die naive und verletzliche Ausstrahlung der schauspielerisch noch unerfahrenen Protagonistinnen der Vorgängerfilme besitzt sie nicht. Daher erreicht DOGVILLE auch nicht deren emotionale Direktheit, in denen von Trier es verstand, pure Emotion entstehen zu lassen, der der Zuschauer schutzlos ausgeliefert war. DOGVILLE ist dagegen zynisch distanziert und ironisch gebrochen. Der die Handlung begleitende und kommentierende Erzähler bildet eine Instanz zwischen Geschehen und dem Zuschauer, die eine völlige Identifikation mit den Figuren verhindert. Der Erzähler ähnelt dabei im Tonfall und Funktion stark der Figur des Stage Managers in Thornton Wilders „Our Town“ (1939), das oft als Referenz in Bezug zu DOGVILLE genannt wird.

Von Trier behauptet zwar, er habe das Stück erst während der Dreharbeiten gelesen, doch sind die wenn auch nur durch Zufall entstanden Ähnlichkeiten der beiden Werke nicht von der Hand zu weisen. Der fast identische, nur angedeutete Bühnenaufbau, der begleitende Erzähler und das Kleinstadtleben als thematisches Grundmotiv sind sowohl in DOGVILLE als auch in „Our Town“ präsent. Die eigentliche Geschichte von DOGVILLE hat mit Wilders Klassiker jedoch nichts gemein. Die Inspiration für die dem Film zugrunde liegende Rachegeschichte stammt aus dem Lied der Piraten-Jenny von Bertolt Brecht und Kurt Weill aus der „Dreigroschenoper“. Darüber hinaus weckt Graces finaler Racheakt an den Bewohnern von Dogville Assoziationen an eine frühere weibliche Protagonistin eines von Trier-Films: MEDEA. Wohingegen Medeas Rache sich einzig und allein gegen ihren Ex-Mann wendete und einer Selbstbestrafung glich, indem sie, um ihn zu treffen, ihre eigenen Kinder ermordete, so vollzieht Grace in DOGVILLE eine Rache an der Menschheit an sich. Sie verwandelt sich in eine Art Racheengel, der die Sünder vom Angesicht der Erde tilgt. Im übertragnen Sinne scheint sie sich für all das sinnlose Leid zu rächen, das den weiblichen Protagonisten aus der A HEART OF GOLD-Trilogie widerfuhr. Deren ultimative Opfer waren sinnlos im Anbetracht der Schlechtigkeit der Menschen. So kommt Grace am Ende zu dem Schluss, dass Vergebung nichts als arrogant wäre. Totale Annihilation wird deshalb zur einzigen Form der Wiedergutmachung.

Bisher hatten von Triers jeweiligen Filme einer Trilogie stilistisch kaum Gemeinsamkeiten. Es wird interessant werden zu sehen, ob er das hier vorgeführte formale Konzept bei den folgenden Teilen der USA-Trilogie, MANDERLEY (DK 2004) und WASINGTON (sic; voraussichtlich 2006) beibehält, und ob er uns aus der misanthropischen Hölle von DOGVILLE erretten wird.

Santosh Sivans THEEVIRAVAATHI / THE TERRORIST (IND 1999)

von Bernd Zywietz

Quelle: Terrorismus & Film



THEEVIRAVAATHI / THE TERRORIST (IND 1999)

Regie: Santosh Sivan
Buch: Santosh Sivan, Ravi Deshpande, Vijay Deveshwar
(Dialoge: C.K. Raajaa Chandra Sekar)
Kamera: Santosh Sivan
Musik: Rajamani, Sonu Sisupal
Schnitt: A. Sreekar Prasad

Darsteller:
Ayesha Dharker ("Malli"), K. Krishna ("Lover"), Sonu Sisupal ("Leader"), Vishwas ("Lotus"), Anuradha ("Sumitra"), Bhavani ("Old Lady"), Parmeshwaran ("Vasu")

IMDB-Eintrag HIER

Santosh Sivan aus dem südwestlichen indischen Bundesstaat Kerala ist vor allem für seine wunderbare Kameraarbeit bekannt. Große Qualität und eine eigene Handschrift zeichnete durch ihn z.B. Mani Ratnams ROJA (IND 1992) oder - etwas weniger - FIZA (IND 2000) aus.

Bei THEEVIRAVAATHI führte er auch Regie, war für das Buch mit zuständig - und es verwundert angesichts seiner künstlerischen Disziplin wenig, dass der Film weniger auf Handlung setzt als auf eine Stimmung, eine Atmosphäre der Bilder und ihrer Momente. Kein Bollywood - kein Tanz und Gesang, kein Genre-Mix. Sondern ein ruhiger, fast hypnotischer und intensiver Film.

Man folgt der jungen, hübschen Malli (Ayesha Dharker), die im Busch als Teenagerin eine verbissene "Freiheitskämpferin" ist, die auch kein Problem hat, einen Verräter hinzurichten. Es ist ein bitterer, unbarmherziger Überlebenskampf in diesem Smaragdwald, und indem Sivan ihn über Licht und Tau, Blattwerk und Dunst sinnlich übervoll und zauber-schön inszeniert, wird der politische Guerilla-Krieg darin nur noch unheimlicher – und schlicht unwirklich.

Der Film schwelgt in seinen Stimmungsbildern und folgt dabei Malli, die mit klobigen Schnellfeuerwaffen Angriffe führt, dann aber wieder als träumerisches, verlorenes Mädchen erscheint. Immer wieder geht es zurück zu einer Rückblende: Malli findet einen verletzten jungen Mann während eines oder nach einem Scharmützel mit den Regierungstruppen. So wie der „Krieg“ immer und nie stattfindet, kennen sich beide nicht und sind doch durch ihre „Sache“ verbunden. Während Malli mit gehetztem Blick aus dem Unterholz die Entdeckung fürchtet, ist der Verwundete von ihrem Haar fasziniert (wie auch Sivan und seine Kamera, die in derlei fast magisch-autistischen Miniaturen schwelgt).



Viele bewerben sich – den Blick in die Kamera – mit ihren Opfern, ihrer Bereitschaft, ihren Heldentaten. Doch es ist, natürlich, Malli, die auserkoren wird: Zu einer Selbstmordmission. Nicht erst hier ist der Film so ruhig wie unerbittlich: Es sind die Junge, ist die Jugend, die in die mit voller Hingabe in die Schlacht geschickt werden. Kinder, die indoktriniert werden, aber auch schon von den Umständen geformt, genauer: verbogen wurden: Malli betet mit Ingrimm die Parolen herunter, mit dem großen Anführer darf sie, die Auserwählte noch einmal zu Abend essen, eine große Ehre, und auch hier: Revolutionsphrasen mit ihrem Opferkult. Doch Malli hatte auch einen „Vorteil“: ihr Bruder ist als Märtyrer im Kampf gestorben.

So bleibt denn auch der Film hier ambivalent, damit distanziert und auf einer ganz eigenen, eigenwilligen Position, die sich den realistischen Kämpfen nur über Umwege, impressionistisch, damit recht neutral nähert. Man muss an Neil Jordans Thematisierung der (Nord-)irischen Gewalt denken, die auch immerzu umgeformt, in etwas anderes eingebettet sind – wenn auch Sivan freilich von nichts anderem als einer überzeugten Selbstmordattentäterin erzählt, die bei allem um sie herum und in ihr drin, fragil ist und sich um sie sorgen lässt.

Vielleicht ist der Zwiespalt des Films gar keiner und man muss sich schlicht nur selbst entscheiden, ob die Gewalt, dieser dauernde Unfrieden und das Gefressenwerden der Jugend, der Zukunft und des Daseins von großen abstrakten Gefechten, zwar alltäglichen und erfahren und doch zugleich: abstrakten Werten und Selbstbestimmung – ob dies irgendwie, irgendwo gerechtfertigt ist, unmenschlich ist oder schlicht einfach passiert und „da“ ist. Für letzteres scheint sich THEEVIRAVAATHI weitgehend zu entscheiden. Malli lebt darin, kennt es nicht anders, und hat bei aller Entschiedenheit das Staunen, Schmerz und Verlust nicht verloren.

Doch der Film geht noch weiter: Nach ihrer Reise als „Zivilistin“ getarnt und von einem kleinen halbnackten „Reiseführer“ geleitet, der sich im Wald und Fluss perfekt auskennt, dem man das Elternhaus zerstört und den Vater verbrannt hat und der ebenso beschädigt ist wie scheinbar alles (bis auf diese wunderschöne Natur ringsum), kommt Malli übers Wasser nach Indien. Auf einem Hof wird sie von ihren Verbindungsleuten bei einem arglosen Bauern einquartiert. Einige Tage muss Malli dort warten – erst dann kommt der hohe Staatsbesuch, dem sie die Blumengirlande umhängen soll, um sich dann mit ihm sogleich in die Luft zu jagen. Ein Bewegungsablauf, den das Mädchen, wie befohlen, einstudiert. Muss sie auch. Denn bei der ersten Probe, unter den wachsamen Augen ihres Kommandeurs vor Ort, brachte sie es noch nicht so recht über sich, den Knopf zu drücken.



Der Film erzeugt in diesem Teil auch einiges an „Thriller“-Spannung: Hat der joviale, plappernde Hausherr etwas von ihrem wahren Hiersein mitbekommen. Im Nebenzimmer liegt, wie Malli gruselig bemerken muss, seine katatonische Frau auf dem Lager. Mit offenen Augen starrt sie sie durch die Löcher der Wand an. Ist Malli ertappt?

Dann aber die große Moral: Malli stellt fest, dass sie Schwanger ist – vom damals im Unterholz geborgenen, verwundeten Kameraden. Genauer gesagt: Malli muss sich vom fröhlichen Bauern aufklären lassen, dass sie schwanger ist (obwohl relativ wenig geschieht, gestaltet Sivan seine Hauptfigur sehr genau aus).

Natürlich kommt es zum inneren Konflikt – Malli ist jetzt nicht nur für ihren Auftrag zuständig; schützende, positive Mutterkraft vs. die Destruktion der Väter. Doch der Film steckt diese Volte nicht nur gut weg. Er macht auch das Beste daraus, lässt Ayesha Dharker alle Facetten einer nicht auf einmal zerrissenen, sondern langsam hin- und herschwankenden Malli – zwischen Gleichgültigkeit gegenüber dem ungeborenen Lebens angesichts ihrer Mission bis hin zu ganz momentaner Freunde und dem faszinierten Staunen – durchspielen. All das ohne große Gesten zu bemühen oder Malli als Figur mehr zu öffnen, als bis er es bis dahin getan hat. Vielmehr spürt man, wie man als Zuschauer selbst schleichend der Trost- und Zukunftslosigkeit anheim gefallen ist. Plötzlich kann man sich für Malli tatsächlich ein Leben, ein Glück vorstellen. Fast wie ein Geistesblitz wirkt die Möglichkeit einer Alternative zu Guerillakrieg und Terrorismus und ihren alles umklammerten Denk- und Wertekosmos.

*** Achtung, Spoiler !! **********

Dass der Film eine Art „Fehler“ macht, sei ihm in diesem Sinne nicht nur verziehen, sondern zugestanden. Denn Malli legt sich natürlich den Sprengstoffgürtel an und lässt sich auf den Besuch des Politikers fahren, stellt sich mit ihrer Blumengirlande in die Reihe zu den anderen und nimmt den Knopf für den Auslöser in die Hand. Spannung wird so generieret, der innere Konflikt auf die Spitze getrieben. Sie kniet nieder, zu den Füßen des gesichtslosen Staatsmannes, wie sich das gehört, schmitzt, ihre Lippen zittern, ihre Augen präsentieren Seelenqual vom Feinsten, sie zittert.

Und lässt des den Knopf fallen. Man ist gewillt zu schimpfen, sich zu wünschen, Sivan hätte den Filme einige Momente früher enden lassen und dem Zuschauer mit diesem offenen Schluss aufgewühlt die Entscheidung überantwortet, wie es weitergeht. Kurz: Dass er nicht so deutlich Stellung für die Besinnung und, nun ja, die persönliche, individuelle Vernunft, das private Leben bezogen. Vielleicht ist das hilflos nobel. Vielleicht ist es aber genauso einfach. Sei’s drum, angesichts dessen, was er mit THEEVIRAVAATHI aber bis dahin geleistet hat, ist das mehr als zu verkraften.

HINTERGRÜNDE:

Vielleicht macht es THEEVIRAVAATHI für Westler unbeabsichtigt so reizvoll; vielleicht war es aber eine generelle Strategie, die auch in der Heimat wirkte: Jedenfalls ist es ein besondere Entscheidung Sivans, nicht konkret in Sachen Terrorismus, Guerillakampf und historischer Situation zu werden. Die wunderbar schreckliche magische Naturwelt wird so noch eindringlicher, Malli noch mehr zu einem irregeleiteten Rotkäppchen – und schon in ROJA stand das atemberaubende Kaschmir über aller politischer Gewalt und ihrer Verhärtung.

Gleichwohl lässt sich der Untergrund- und Terrorkampf in THEEVIRAVAATHI genau verorten: Es ist der Kampf der Tamilen, der hier zur Vorlage dient. Die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) haben den modernen Selbstmordterrorismus quasi erfunden (diese „Black Tigers“ werden an einem eigenen Feiertag geehrt). Es war ein Girlandenmädchen, dass den ehemaligen indischen Premierminister Rajiv Gandhi 1991 im Bundesstaat Tamil Nadu während einer Wahlkampfveranstaltung, sich und über zehn weitere Menschen tötete. Grund war das indische Militärengagement in Sri Lanka.

Auch der Ehrenabend mit dem verehrten Terroristen- bzw. Untergrundführer ist nach dem realen Brauch modelliert, bei dem LTTE-Chef Velupillai Prabhakaran zum „letzten Abendmahl“ lädt und Fotos von denen geschossen werden, die sich aufmachen, sich für ihr Volk zu opfern.

Dass dies alles Sivan wusste und akkurat aufgriff, zugleich bewusst seinen Film in eine ganz andere, menschliche Perspektive verlegte, d.h. sich von geschichtlichen und politischen Realia absetzte, belegt freilich der Umstand, dass der Terrorkommandant wie der Politiker in der Inszenierung so gesichts- wie namenlos bleiben. Für Malli unwirklich Berührungen mit der großen Historie und ihren Kriegen.


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Agnès Varda in Berlin

von Bernd Zywietz


Ein wenig wie ein Franziskanermönch erschien die Filmemacherin zum Auftakt der ihr gewidmeten Retrospektive am 3. September im Berliner „Arsenal“. Braun war das Kleid und wie eine Tonsur wirkte die weiße „Kappe“ der roten Topffrisur – dabei zeigte sie Agnès Varda, Jahrgang 1928, als eine überaus lebenspralle und diesseitige Person, die vor sanfter Energie und künstlerischer Beharrlichkeit sprühte. Auf fast vierzig Spiel-, Dokumentar- und Essayfilme in über fünfzig Jahren kann sie neben ihrer Fotoarbeit (und aktuell: Raumkunst) zurückblicken – darunter CLÉO DE 5 À 7 (1962) oder LES CENT ET UNE NUITS DE SIMON CINÉMA (1995).

Da war es schon verständlich, dass Birgit Kohler in ihrer Begrüßungsrede aus der „Mutter der Nouvelle Vague“ deren „Großmutter“ machte, eine freilich – so Kohler –, die der „Rive gauche“-Gruppe um Chris Marker und Alain Resnais näherstand. Varda zeigte sich geschmeichelt von den Worten und stand nach der Vorführung ihres aktuellen Films, dem Selbstporträt DIE STRÄNDE VON AGNÈS (LES PLAGES D`AGNÈS, 2008) für ein Gespräch und Publikumsfragen zur Verfügung. Dabei machte sie deutlich, wie sie die Agnès im Film als Rolle spielt – die wohl nötige Distanzierung für einen auch immer ironischen und inszenierten Blick auf ihr eigenes Leben und Schaffen, zu dem die Strände verschiedene „Türen“ für jeden Zuschauer biete. So gab sich im Publikum eine Dame als ehemalige Nachbarin zu erkennen, die 1968 als 10-Jährige in Beverly Hills neben Varda und ihrem Mann, dem Regisseur Jaques Demy, gewohnt hatte. Dass Demy 1990 an AIDS starb, wird in DIE STRÄNDE DER AGNÈS offen ausgesprochen, eine immer noch heikle Krankheit, so Varda, die seit dem Start des Films mehrfach darauf angesprochen wurde. Demy selbst hatte zu seiner Erkrankung damals lieber geschwiegen, auch und gerade zu der Zeit, als seine Frau ihm zu Ehren die Erinnerungschronik JACQUOT DE NANTES (1991) drehte. Ein weiterer wunder Punkt, zu dem Varda nur zurückhalten Auskunft gab, war ihr nie aufgeführter und offiziell nicht existenter Film NAUSICAA, von dem in DIE STRÄNDE VON AGNÈS ein Ausschnitt mit dem jungen Gérard Depardieu als Beatnik zu sehen ist. 1970 vom Fernsehen bewilligt, sei der Film u.a. durch Zeugenaussagen von Folteropfern zu kritisch gegenüber dem griechischen Obristen-Regimes gewesen, so dass das französische Wirtschaftsministerium zum Wohle der Handelsbeziehungen aktiv wurde. Plötzlich sei sie nicht mehr an das Material herangekommen; durch einen Freund habe sie jedoch eine Arbeitskopie erhalten. Aber, so die große Dame des Kinos ironisch-melancholisch, sie habe schließlich auch schon bei einem Besuch in Rothenburg vor dreißig Jahren einen Schal verloren, an dem sie immer noch hänge – man liebe es eben nicht, Dinge zu verlieren. Vor allem auch keine Menschen.

Mehr Infos zur Retrospektive im Arsenal HIER.

Zwei Welten wohnen, ach, in diesem Film - "Descent" mit Rosario Dawson

von Ciprian David

„DESCENT“
USA 2007.
Regie und Buch: Talia Lugaci. Produzenten: Morris S. Levy, Rosario Dawson, Talia Lugaci.
Darsteller: Rosario Dawson, Chad Faust, Marcus Patrick.
Verleih: Splendid
Laufzeit: 100 min
DVD Veröffentlichung: 7.8.2009

Schon mit ihrem ersten Film visiert die Regisseurin Talia Lugacy kein breites Publikum an. Das Leben der Ausnahmestudentin Maya (Rosario Dawson) zwischen zwei Semestern darstellend, lässt sich der Film schnell als eine gesellschaftskritische Konstruktion um das Thema Machtverhältnisse lesen. Essayistisch und abrupt wird der Zuschauer durch die episodisch geschnittenen Szenen aus Mayas Welt geführt.

Maya hat sich als Studentin einen Platz in einer elitären Welt erkämpft. Radikal distanziert von der mittelmäßigen Masse an Studenten schmiedet sie ihre helle Zukunft durch Exzellenz und soziales Engagement. Der Umbruch kommt nach ihrer Bekanntschaft mit Jared (Chad Faust), einem dem Schein nach faden Mitstudenten, der für sie schwärmt. Die Chance, die er aus Mitleid von Maya bekommt, verwendet er zu seinem Vorteil, indem er sie sexuell missbraucht und somit sie ihre Identität und Weltsicht zerstört. Von nun an taucht Maya in eine Unterwelt der Musik, Drogen, Sexualität und Machtstrukturen ein, wodurch sie neu erschaffen wird. Die neue Maya kehrt nach der Sommerpause als Assistentin ins Unileben zurück und arrangiert, eine ebenbürtige Rache im Sinn, ein neues Treffen mit Jared.

Der Film zeichnet das Bild einer gespaltenen Gesellschaft, deren zwei Seiten von je einem Prinzip regiert werden und Auswirkungen aufeinander haben. Auf der einen Seite befindet sich die Welt des Wissens und Denkens, der Karriereerfolge und des Glanzes durch sozialen Status, eine Welt, in der die Macht sich durch Erkenntnis manifestiert. Auf der anderen Seite lässt sich eine von rauer körperlicher Macht regierte Unterwelt entdecken, wo einem Souveränität über andere und Beziehungen zu dieser Souveränität einen Platz in der trophischen Pyramide sichern, eine Welt der rauen Sinne und physischen Gewalt. Diese zweite Welt ist eine der Leidenden und Einsamen, ständig nach Kontinuität und Nähe suchenden Seelen, die ihre Verbindung zu ihren Nächsten über Drogen, Sex, und Musik finden. Vor allem Musik spielt dabei eine sehr große Rolle, denn sie wird zu einem Medium der Transzendenz zum musikalischen Zustand des Ichs, zu einer Öffnung zu den anderen, wie ihn Cioran definiert hat. Der DJ, Adrian (Marcus Patrick), gleichzeitig ein Monument körperlicher Macht, wird zum Erlöser, der die Plattform anbietet für die sich durch ihren Schweiß einigenden, aneinanderreibenden Körper.

So taucht Maya nach ihrer Vergewaltigung in die zweite Welt ein und erobert sich auch hier an der Seite von Adrian eine anerkannte Position. Mit Standfestigkeit in beiden Welten kehrt sie am Ende zurück, als ein Modell der durch diese Transzendenz vereinenden Souveränität der beiden Welten, um ihre Rache zu genießen.

Eine am Anfang des Films noch zu vermutende Auseinandersetzung mit der Position der Frau in der Gesellschaft lässt sich am Ende als eine Aussage über das Individuum als Bestandteil eines sozialen Systems lesen. Die Vergewaltigung Mayas durch Jared hat weit mehr als nur eine sexuelle Dimension, und ihre physische Passivität währenddessen ist der stilistische Ausdruck der Tatsache, daß ihre Abwehrwaffe das Denken ist, das ihre Identität während des Unilebens geformt hat. Und genau diese Identität greift Jared während des Akts verbal an, ihr dadurch die Fragilität eines Individuums zeigend. Ihr Eintauchen in die oben beschriebe Unterwelt wird somit zur direkten Konsequenz davon, ihr ganzer Weg in dieser Unterwelt als Frau, als Begleiterin eines starken Mannes, wird zum Weg der Transzendenz zum Machtmenschen. So schafft sie durch ihren Racheakt ihrem Vergewaltiger genau das zu rauben, was ihn am Anfang des Films überlegen machte, seine Macht als Mann, und gleichzeitig instrumentalisiert sie die Macht, die sie in beiden Dimensionen der Gesellschaft errungen hat.

Das Problem, das der Film mit der letzten Einstellung aufbringt, ist das der Funktionalität des Racheaktes. Die Absurdität der Idee einer potentiellen Selbstheilung durch Rache wird stilistisch meisterhaft umgesetzt durch Mayas ausdruckvoller Blick, als Antwort auf die banale Frage des Mannes, den sie als Racheinstrument gegen Jared einsetzt, nach einem Glas Wasser.
Formell betrachtet besitzt der Film einen essayistischen Charakter, woraus auch seine Stärke entstammt, indem es Brüche in der Handlung und Inszenierung berechtigt. Er bedient sich Szenen lediglich, um Ideen auszudrücken, die Übergänge zwischen den Ideen sind durch Auf-und Abblenden stark konturiert. Unterstützt wird dies durch eine sehr naturalistische Belichtung, mit Ausnahme der transzendentalen Momente in der Unterwelt, die das Problem der Inszenierung solcher Ereignisse zeitgemäß durch eine in Videoclip-Ästhetik stilisierte Mischung von Licht, Dekor und Musik löst. Leider wirken die Dialoge, insbesondere der Smalltalk gegensätzlich zum Rest des Films sehr dumpf und lenkt dadurch den Zuschauer ab.

Die DVD enttäuscht zunächst durch die Gestaltung des Hauptmenüs, wo außer einem schrillen, ungemäß purem Weiß, das den Bildschirm dominiert, der Titel des Films einen Tippfehler aufweist. Jedoch bieten die Extras durch gute Interviews und entfallenen Szenen einen wichtigen Zusatz an Informationen zum Hauptfilm.



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Grenzenlos Kultur

Das internationale Theaterfestival "Grenzenlos Kultur" findet vom
10.-26. September im Mainzer KUZ statt.

Und ja: da gibt es auch ein Filmprogramm:
- Fischli & Weiss: Der recht Weg (Schweizer Kurz-Kunst-Spielfilm)
- Kurzfilmnacht am 16.9.: Sieben Filme aus sechs Ländern in drei Stunden. Kurzweilige, gedankenanregende, berührende Geschichten von fremden und letztlich doch gar nicht so fremden Menschen mit einer Behinderung. Geschichten über das Sprechen, Stottern, Singen, Schweigen und Zuhören, von ungewöhnlichen Reisen,
übersinnlichen Kräften und romantischen Begegnungen.
- Brigitte Maria Mayer: Anatomie Titus Fall Of Rome. Eine filmische Installation.
- Tim Etchells: Mark Does Lear (Tate Modern, London - Vergessen Sie Shakespeare!)
- Volker Gerling: Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt. Daumenkinematografie

Dazu gibt es viele viele weitere Veranstaltungen - alle Infos und die genauen Termine unter www.grenzenlos-kultur.de!

Killer 7 – Der gespielte Walkthrough

von Holger Liepelt

Killer 7

Systeme: Playstation 2, GameCube
Entwickler: Grasshopper Company
Produzenten: Hiroyuki Kobayashi, Shinji Mikami
Vertrieb: Capcom
Keine Jugendfreigabe
Bereits erschienen.

Nicht nur mit der leidigen Gewaltdiskussion ist der geringschätzige Blick, den die Öffentlichkeit in der Regel auf Videospiele wirft, zu begründen. Auch steht die Videospielindustrie unter dem Generalverdacht der Innovationsarmut: immer wieder werden dieselben Spiele lediglich technisch verbessert veröffentlicht. Der Verdacht ist nicht unbegründet, denn nachdem sich die dreidimensionale Grafik auf breiter Ebene durchgesetzt hat, sind nur wenige Spiele mit komplett neuen Spielideen erschienen. Die Technik hat sich dagegen enorm weiterentwickelt.
Setzt man die Maßstäbe des Kinos an, ist der Vorwurf der Technikhörigkeit etwas voreilig. Bei einem aktuellen Kinofilm hat man die Erwartung, dass dieser eine kinogerechte Ästhetik hat. Ausnahmen gelten nur für ausgewiesen unabhängige Produktionen oder für Filme, die ihre Ästhetik selbst zum Thema haben. Derartige Filme werden aber für einen speziell interessierten Zuschauerkreis produziert, sie sollen keine breiten Massen erreichen.
Analog erwartet man bei einem Videospiel eine zumindest akzeptable technische Präsentation. Durch die schnelle Entwicklung ist die Computerhardware im Bereich der Videospiele inzwischen hochspezialisiert. Daher muss ein im Verhältnis zum Film sehr viel größerer Aufwand betrieben werden, um einen Mindeststandard zu erreichen. So kommt es, dass technische Details bei einem Videospiel einen größeren Anteil am Entwicklungsaufwand einnehmen, als es bei einem Film der Fall wäre. Auf der anderen Seite steht aber auch der konservative Videospieler, der andere Ansprüche der Designer als eine moderne Optik in der Regel mit Nichtbeachtung straft. Das Produktionsklima in der Videospielindustrie ist somit noch weniger experimentierfreudig als bei den großen Hollywood-Studios.

In dieser Situation ist es umso begrüßenswerter, wenn ein Spiel veröffentlicht wird, dass explizit anders sein will und auf einen Nischenmarkt zielt. „Killer 7“ von Capcom unterscheidet sich nicht nur optisch von verwandten Spielen. Es ist der mutige Versuch, die Strukturen von Videospielen auch im Spieldesign zu reflektieren.
Die „Killer 7“ sind eine Gruppe von Auftragsmördern. Das Besondere an den Mitgliedern ist, dass sie lediglich die verschiedenen Ausprägungen einer einzelnen gespaltenen Persönlichkeit sind. Während des Spiels kann frei zwischen den Persönlichkeiten gewechselt werden, um die Rätsel des Spiels mit Hilfe der verschiedenen Fähigkeiten der Charaktere zu lösen.
Jeder Spielabschnitt entspricht einem Mordautrag, der jeweilige Level den Örtlichkeiten, in denen sich das Zielobjekt aufhalten soll. Der Weg dorthin wird erst nach Lösen diverser Rätsel frei. Eine Menge Gegner wollen den Spieler genau daran hindern, sodass diese dann mit Waffengewalt aus dem Weg geräumt werden müssen. Im Kern handelt es sich bei dem Spiel also um ein konventionelles Action-Adventure, ähnlich den Spielreihen „Legend of Zelda“, „Metroid“, „Resident Evil“ oder „Splinter Cell“.

Aber bereits die ersten Schritte in „Killer 7“ sind ungewöhnlich: Anstatt die Figur mittels Richtungsbefehlen frei zu bewegen, läuft sie auf Knopfdruck vorgefertigte, feste Bahnen ab. Der Spieler kann lediglich die Laufrichtung auf der Bahn bestimmen. Trifft man auf eine Abzweigung, wählt man per Ministick den gewünschten Weg. Diese Form der Steuerung erlaubt den Designern eine filmische Gestaltung des Spiels durch ungewöhnliche Blickwinkel bei der Bewegung der Figur durch die Räume. Ähnliches hatte man bereits bei „Resident Evil“ („Killer 7“ wurde vom gleichen Designer produziert) versucht. Man wählte feste Einstellungswinkel auf die Szenerie, und ähnlich einer filmischen Montage wurden die Einstellungen umgeschaltet, wenn der Spieler die Figur weiterbewegte. Die Spielbarkeit litt darunter erheblich, da das Zielen auf Gegner erschwert wurde oder Gegenstände oder Gegner im Bildvordergrund die Figur verdeckten. In „Killer 7“ kann man sich durch die vorgegebenen Bahnen nicht mehr „verlaufen“ – und zum Zielen wird in die Egoperspektive umgeschaltet.
Um in einem Spiel voranzuschreiten, muss der Spieler ständig Entscheidungen treffen. Das beginnt bereits mit der Fortbewegung: Wohin als erstes gehen? Entscheidend ist aber die Interaktion mit der Spielwelt. Jedes Spiel hat einen oder mehrere Lösungswege, eine bestimmte Abfolge von Interaktionen mit bestimmten Objekten. Die Punkte, an denen man als Spieler Entscheidungen treffen muss, was zu tun ist, um das Spiel voranzutreiben, nennt man auch „Hot Spots“. Der Begriff stammt aus der Zeit der Grafik- oder Point-and-Click-Adventures: Wenn man in diesen Spielen mit dem Mauszeiger über ein bestimmtes Objekt fuhr, erschien der Name des Gegenstandes oder ähnliches. So wurde die Interaktionsmöglichkeit signalisiert. Der Spieler muss dann an der Stelle die richtige Interaktion herausfinden, um im Spiel weiterzukommen.

Reduziert man den von den Designern vorgesehenen Lösungsweg eines Adventures auf die korrekten Entscheidungen, erhält man eine Abfolge von bestimmten Interaktionen an „Hot Spots“, etwa „Nimm Feuerzeug“, „Benutze Feuerzeug mit Kamin“, „Benutze Mieses Zeugnis mit Brennender Kamin“. Anhand dieses reduzierten Lösungswegs – auch „Walkthrough“ genannt – lässt sich erkennen, dass Adventure letztlich einem sehr mechanischen Spielprinzip folgen: In einer festgelegten Reihenfolge müssen bestimmte Gegenstände an bestimmten Orten (nach einem Schlüssel-Schloss-Prinzip) eingesetzt werden. Welche das sind und wie die Objekte aussehen, ist völlig willkürlich und unterliegt nur dem Gestaltungswillen der Designer. Ebenso wird offensichtlich, dass nicht nur allein die absolvierte Schlüssel-Schloss-Kette den Unterhaltungswert des Adventures ausmacht, sondern auch dessen Ausformung, die inhaltliche Komponente. Je nach Unterhaltsamkeit des Inhalts beschäftigt man sich mehr oder weniger gern mit den Rätseln des Adventures.

In „Killer 7“ werden nun nicht nur die Richtungsentscheidungen an Kreuzungen per Auswahl aus einem Pool von Möglichkeiten realisiert, auch die Interaktion mit Gegenständen, Objekten oder Personen der Spielwelt von „Killer 7“ erfolgt nach dem gleichen Prinzip. Befindet sich ein Gegenstand, ein wichtiger Ort oder ein Gesprächspartner auf der Bahn der Spielfigur, erscheinen ebenfalls Auswahlmöglichkeiten. Der Spieler kann an einer solchen Kreuzung entweder weitergehen oder den Gegenstand aufnehmen, indem man diesen anwählt. Die „Hot Spots“ werden kenntlich als eine zwingend zu tätigende Entscheidung des Spielers, ohne die er das Spiel nicht weiterspielen kann.

Das oben beschriebene Beispiel eines Rätsels gilt nicht nur für den Ablauf von Adventures, auch die Gegenstände sind typisch: Ein Feuerzeug heißt Feuerzeug und sieht auch so aus. Eindeutig benannt und optisch entsprechend gestaltet geben die Objekte ikonografisch Hinweise auf ihre mögliche Benutzung und die Lösung eines Rätsels
In „Killer 7“ sind die Gegenstände keine Ikonografien mehr. Die zu findenden Objekte, um Schaltungen zu aktivieren, Türen zu öffnen oder ähnliches, haben eine undefinierbare Gestalt und sind alle schlicht „Odd Engraving“ benannt. Anstelle naheliegender ikonografischer Abbildungen (vielleicht ein Stück Kupferdraht, mit dem die Schaltung kurzgeschlossen wird) sind es Symbole. Erreicht man den Ort, an dem sie eingesetzt werden müssen, fügen sie sich automatisch ein. Das Herumrätseln über den richtigen Einsatz eines Objektes und die Suche nach dem richtigen Ort sind ein wesentlicher Bestandteil klassischer Adventures – in „Killer 7“ sind die Wege bekannt, man kann durch die Festlegung auf eine Bahn keine Irrwege gehen oder Objekte übersehen. Die Entschlüsselung des der Gestaltung des Objektes innewohnenden Hinweises auf seine Benutzung ist unnötig geworden, daher spielt dessen optische und inhaltliche Gestaltung auch keine Rolle mehr: Der Gegenstand ist nurmehr Symbol dafür, dass es ein Rätsel gibt, ein Hindernis, dass überwunden werden muss für den Fortgang des Spiels. Damit gelingt „Killer 7“ das Kunststück, über die Art und Weise der Bedienung des Spiels und eines cleveren Designs der Objekte fundamentale Prinzipien des Videospiels bewusst zu machen: Die schlichte Mechanik der Adventure spiegelt sich bei „Killer 7“ in der Abfolge der Entscheidungen, die der Spieler auf seiner festgelegten Bahn durch das Spiel trifft. „Killer 7“ ist ein gespielter „Walkthrough“.

Der Unterhaltungswert der Rätsel wird damit auf eine andere Ebene verschoben. Nicht die Knobelei, sondern das Erkennen der zugrundeliegenden Mechanismen machen das Reizvolle an den Rätseln von „Killer 7“ aus. Das selbstreflexive Design ist Neuland im Bereich der Videospiele. Selbstzitat und -ironie ist als Element der Erzählung in Adventures und anderen Spielgenres durchaus beliebt. Die Adventure der Firma „LucasArts“ sind da Vorreiter gewesen. In den Spielen finden sich am laufenden Band Anspielungen auf „Star Wars“, „Indiana Jones“ oder andere Adventure-Reihen der Firma und popkulturelle Zitate – nicht unähnlich der Verweisstruktur der „Simpsons“. Eine Offenlegung der Spielmechanik fand dort aber nicht statt.
Aber auch auf der Ebene der Erzählung versucht „Killer 7“, sich von etablierten Konventionen zu lösen. Die erzählte Geschichte eines Videospiels ist – je nach Genre – unterschiedlich stark notwendig und daher auch unterschiedlich ausführlich erzählt. Gleich ist allen, dass die Geschichte, oder zumindest die der Hauptcharaktere, immer geschlossen und nachvollziehbar bleibt. Dies dient der Attraktivität des Spiels insgesamt, da das Versenken in eine Spielwelt erschwert wird, wenn der Spieler die Welt nicht begreift. Mit anderen Worten: die Geschichten von Videospielen haben klare Anfänge, Verläufe und Enden; sollten einige Charaktere mysteriös oder Nebenhandlungen diffus bleiben, hat das auf die hauptsächliche Geschichte wenig Einfluss. Diese Klarheit gibt dem Spieler Sicherheit über die Gründe seines Handelns und motiviert dadurch zum Spiel.

„Killer7“ verweigert diese Sicherheit, die andere Spiele den Spielern durch eine genaue Erzählung vermitteln. Ein großer Teil der Verunsicherung liegt in der Verschmelzung von narrativen und bedienungstechnischen Elementen. Grundsätzlich wird in Videospielen versucht, die notwendigen Bedienungselemente in die Spielwelt einzubinden, um deren atmosphärische Geschlossenheit nicht zu beschädigen. Im Ergebnis bedeutet dies beispielsweise, dass man zu magischen Steinen gehen muss, um dort seine Seele zu binden – dort gibt es die Möglichkeit, das Spiel zu speichern. In den Örtlichkeiten der Missionen von „Killer 7“ kann man immer mehrere Rückzugsräume betreten (benannt „Harman´s Room“, nach dem Kopf der Killer), die außerhalb der eigentlich Level existieren. Neben Harman, der im Rollstuhl sitzt, befindet sich dort auch seine Pflegerin. Trägt sie ihre Hausmädchenuniform, kann man das Spiel speichern, hat sie ihre Alltagskleidung an, geht dies nicht. Die Pflegerin spielt auch innerhalb der Erzählung eine nicht unerhebliche Rolle. Wie man in Zwischensequenzen erfährt, hat sie ebenso schizophrene Züge wie die Killer. In ihrer Uniform ist sie zurückhaltend und fürsorglich, in Zivil schlägt und beleidigt sie den im Rollstuhl sitzenden Harman. Hier wurden Bedien- und Narrativelemente gleichgesetzt. Wenn in anderen Videospielen Charaktere oder Objekte Funktionsträger der Bedienung waren, spielten sie in der Regel keine größere Rolle für die Erzählung und umgekehrt. Diese Trennung sorgt dafür, dass das Spiel ohne Atmosphäreeinbußen klare Bedienelemente hat. Bei „Killer 7“ spielen viele funktionstragende Charaktere auch eine Rolle innerhalb der Narration. Ein Tippgeber, der bei der Lösung einiger Rätsel hilft, ist beispielsweise ein früheres Opfer der Killer und trägt zur Gesamterzählung bei – als Geistererscheinung, wie nahezu alle Charaktere, mit denen die Killer sprechen können.
Die Doppelbesetzung der Charaktere mit einer Bedienfunktion und narrativem Gehalt führt gerade zu Spielbeginn zu einiger Verwirrung, sorgt aber für eine besondere Geschlossenheit der Atmosphäre. Gleichzeitig ist die erzählte Geschichte selbst hochkompliziert. Sie steckt voller Anspielungen auf die japanische Geschichte, weltpolitischen Ereignissen, der Popkultur und Japans Verhältnis zum Westen. Die Erzählung abseits dieser Verweise ist äußerst verschlungen, lässt viele Fragen unbeantwortet oder widerspricht sich selbst und fordert viel Aufmerksamkeit und Konzentration seitens des Spielers.

Capcom lässt damit einen der wichtigsten Grundsätze erfolgreichen Spieldesigns außer Acht: Zugänglichkeit. Mit Zugänglichkeit ist die Standardisierung bestimmter technisch notwendiger Elemente eines Videospiels gemeint. Sie erlaubt dem gelegentlichen Spieler, sich in einer neuen Spielumgebung ohne größere Einarbeitung sofort zurechtzufinden. Dies bedeutet weder, dass zugängliche Spiele nicht anspruchsvoll oder komplex sein können, noch dass Spieler zu bequem sind, um Anleitungen zu lesen. Zugänglichkeit drückt lediglich aus, dass die Bedienung dem Spielfluss nicht im Weg steht. Sie ist ähnlich der unsichtbaren Montage des klassischen Hollywoodfilms: Je größer die Kunstfertigkeit, umso weniger bemerkt man sie. Genau wie beim Film erzeugt höchste Perfektion auf Dauer aber auch Monotonie. „Killer 7“ opfert die Zugänglichkeit einem selbstreflexiven Spieldesign, das innerhalb eines Videospiels dessen grundsätzliche Strukturen nicht nur reflektiert, sondern sie gleichzeitig spielerisch erfahrbar macht und dies mit einer anspruchsvollen Narrationsstrategie verbindet. Daher ist die Einarbeitungszeit in das Spiel auch recht lang, bis der Spieler die Eckpfeiler der Erzählung und der Bedienung kennt, vergeht einige Zeit. Hier liegt aber auch die große Chance und das große Verdienst von „Killer 7“: Videospiele sprechen zunächst einmal nur Videospieler an. Die immer wiederkehrenden Szenarien (Weltkrieg, Fantasy, Science-Fiction), die „Beschäftigung im Leerlauf“ und die simpel erzählten Geschichten lassen Videospiele oft trivial erscheinen. „Killer 7“ hingegen bietet nicht nur eine fordernde Geschichte zum Nachspielen, das Design der Rätsel und der Steuerung verleihen dem Spiel eine Tiefe, die über das schlicht handwerklich gelungene Spieldesign bisheriger Videospielklassiker hinausgeht. „Killer 7“ spielt man mit dem Kopf, nicht mit dem Bauch. Das Design und die anspruchsvolle Erzähltechnik dürfte auch diejenigen zumindest aufhorchen lassen, denen Videospiele im Allgemeinen zu vulgär und ordinär sind.

Reflexion und die Beschäftigung mit den Funktionsprinzipien eines Mediums innerhalb des Mediums selbst sind wichtige Schritte auf dem Weg von der reinen Konsumware zur Kunst. Der Film hat diesen Schritt vor langer Zeit gemacht, dem Videospiel steht er noch bevor. Aufgrund der eingangs beschriebenen Umstände der Videospielproduktion ist zu bezweifeln, dass er je gemacht werden kann. „Killer 7“ weist immerhin in die richtige Richtung.


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