Killer 7 – Der gespielte Walkthrough

von Holger Liepelt

Killer 7

Systeme: Playstation 2, GameCube
Entwickler: Grasshopper Company
Produzenten: Hiroyuki Kobayashi, Shinji Mikami
Vertrieb: Capcom
Keine Jugendfreigabe
Bereits erschienen.

Nicht nur mit der leidigen Gewaltdiskussion ist der geringschätzige Blick, den die Öffentlichkeit in der Regel auf Videospiele wirft, zu begründen. Auch steht die Videospielindustrie unter dem Generalverdacht der Innovationsarmut: immer wieder werden dieselben Spiele lediglich technisch verbessert veröffentlicht. Der Verdacht ist nicht unbegründet, denn nachdem sich die dreidimensionale Grafik auf breiter Ebene durchgesetzt hat, sind nur wenige Spiele mit komplett neuen Spielideen erschienen. Die Technik hat sich dagegen enorm weiterentwickelt.
Setzt man die Maßstäbe des Kinos an, ist der Vorwurf der Technikhörigkeit etwas voreilig. Bei einem aktuellen Kinofilm hat man die Erwartung, dass dieser eine kinogerechte Ästhetik hat. Ausnahmen gelten nur für ausgewiesen unabhängige Produktionen oder für Filme, die ihre Ästhetik selbst zum Thema haben. Derartige Filme werden aber für einen speziell interessierten Zuschauerkreis produziert, sie sollen keine breiten Massen erreichen.
Analog erwartet man bei einem Videospiel eine zumindest akzeptable technische Präsentation. Durch die schnelle Entwicklung ist die Computerhardware im Bereich der Videospiele inzwischen hochspezialisiert. Daher muss ein im Verhältnis zum Film sehr viel größerer Aufwand betrieben werden, um einen Mindeststandard zu erreichen. So kommt es, dass technische Details bei einem Videospiel einen größeren Anteil am Entwicklungsaufwand einnehmen, als es bei einem Film der Fall wäre. Auf der anderen Seite steht aber auch der konservative Videospieler, der andere Ansprüche der Designer als eine moderne Optik in der Regel mit Nichtbeachtung straft. Das Produktionsklima in der Videospielindustrie ist somit noch weniger experimentierfreudig als bei den großen Hollywood-Studios.

In dieser Situation ist es umso begrüßenswerter, wenn ein Spiel veröffentlicht wird, dass explizit anders sein will und auf einen Nischenmarkt zielt. „Killer 7“ von Capcom unterscheidet sich nicht nur optisch von verwandten Spielen. Es ist der mutige Versuch, die Strukturen von Videospielen auch im Spieldesign zu reflektieren.
Die „Killer 7“ sind eine Gruppe von Auftragsmördern. Das Besondere an den Mitgliedern ist, dass sie lediglich die verschiedenen Ausprägungen einer einzelnen gespaltenen Persönlichkeit sind. Während des Spiels kann frei zwischen den Persönlichkeiten gewechselt werden, um die Rätsel des Spiels mit Hilfe der verschiedenen Fähigkeiten der Charaktere zu lösen.
Jeder Spielabschnitt entspricht einem Mordautrag, der jeweilige Level den Örtlichkeiten, in denen sich das Zielobjekt aufhalten soll. Der Weg dorthin wird erst nach Lösen diverser Rätsel frei. Eine Menge Gegner wollen den Spieler genau daran hindern, sodass diese dann mit Waffengewalt aus dem Weg geräumt werden müssen. Im Kern handelt es sich bei dem Spiel also um ein konventionelles Action-Adventure, ähnlich den Spielreihen „Legend of Zelda“, „Metroid“, „Resident Evil“ oder „Splinter Cell“.

Aber bereits die ersten Schritte in „Killer 7“ sind ungewöhnlich: Anstatt die Figur mittels Richtungsbefehlen frei zu bewegen, läuft sie auf Knopfdruck vorgefertigte, feste Bahnen ab. Der Spieler kann lediglich die Laufrichtung auf der Bahn bestimmen. Trifft man auf eine Abzweigung, wählt man per Ministick den gewünschten Weg. Diese Form der Steuerung erlaubt den Designern eine filmische Gestaltung des Spiels durch ungewöhnliche Blickwinkel bei der Bewegung der Figur durch die Räume. Ähnliches hatte man bereits bei „Resident Evil“ („Killer 7“ wurde vom gleichen Designer produziert) versucht. Man wählte feste Einstellungswinkel auf die Szenerie, und ähnlich einer filmischen Montage wurden die Einstellungen umgeschaltet, wenn der Spieler die Figur weiterbewegte. Die Spielbarkeit litt darunter erheblich, da das Zielen auf Gegner erschwert wurde oder Gegenstände oder Gegner im Bildvordergrund die Figur verdeckten. In „Killer 7“ kann man sich durch die vorgegebenen Bahnen nicht mehr „verlaufen“ – und zum Zielen wird in die Egoperspektive umgeschaltet.
Um in einem Spiel voranzuschreiten, muss der Spieler ständig Entscheidungen treffen. Das beginnt bereits mit der Fortbewegung: Wohin als erstes gehen? Entscheidend ist aber die Interaktion mit der Spielwelt. Jedes Spiel hat einen oder mehrere Lösungswege, eine bestimmte Abfolge von Interaktionen mit bestimmten Objekten. Die Punkte, an denen man als Spieler Entscheidungen treffen muss, was zu tun ist, um das Spiel voranzutreiben, nennt man auch „Hot Spots“. Der Begriff stammt aus der Zeit der Grafik- oder Point-and-Click-Adventures: Wenn man in diesen Spielen mit dem Mauszeiger über ein bestimmtes Objekt fuhr, erschien der Name des Gegenstandes oder ähnliches. So wurde die Interaktionsmöglichkeit signalisiert. Der Spieler muss dann an der Stelle die richtige Interaktion herausfinden, um im Spiel weiterzukommen.

Reduziert man den von den Designern vorgesehenen Lösungsweg eines Adventures auf die korrekten Entscheidungen, erhält man eine Abfolge von bestimmten Interaktionen an „Hot Spots“, etwa „Nimm Feuerzeug“, „Benutze Feuerzeug mit Kamin“, „Benutze Mieses Zeugnis mit Brennender Kamin“. Anhand dieses reduzierten Lösungswegs – auch „Walkthrough“ genannt – lässt sich erkennen, dass Adventure letztlich einem sehr mechanischen Spielprinzip folgen: In einer festgelegten Reihenfolge müssen bestimmte Gegenstände an bestimmten Orten (nach einem Schlüssel-Schloss-Prinzip) eingesetzt werden. Welche das sind und wie die Objekte aussehen, ist völlig willkürlich und unterliegt nur dem Gestaltungswillen der Designer. Ebenso wird offensichtlich, dass nicht nur allein die absolvierte Schlüssel-Schloss-Kette den Unterhaltungswert des Adventures ausmacht, sondern auch dessen Ausformung, die inhaltliche Komponente. Je nach Unterhaltsamkeit des Inhalts beschäftigt man sich mehr oder weniger gern mit den Rätseln des Adventures.

In „Killer 7“ werden nun nicht nur die Richtungsentscheidungen an Kreuzungen per Auswahl aus einem Pool von Möglichkeiten realisiert, auch die Interaktion mit Gegenständen, Objekten oder Personen der Spielwelt von „Killer 7“ erfolgt nach dem gleichen Prinzip. Befindet sich ein Gegenstand, ein wichtiger Ort oder ein Gesprächspartner auf der Bahn der Spielfigur, erscheinen ebenfalls Auswahlmöglichkeiten. Der Spieler kann an einer solchen Kreuzung entweder weitergehen oder den Gegenstand aufnehmen, indem man diesen anwählt. Die „Hot Spots“ werden kenntlich als eine zwingend zu tätigende Entscheidung des Spielers, ohne die er das Spiel nicht weiterspielen kann.

Das oben beschriebene Beispiel eines Rätsels gilt nicht nur für den Ablauf von Adventures, auch die Gegenstände sind typisch: Ein Feuerzeug heißt Feuerzeug und sieht auch so aus. Eindeutig benannt und optisch entsprechend gestaltet geben die Objekte ikonografisch Hinweise auf ihre mögliche Benutzung und die Lösung eines Rätsels
In „Killer 7“ sind die Gegenstände keine Ikonografien mehr. Die zu findenden Objekte, um Schaltungen zu aktivieren, Türen zu öffnen oder ähnliches, haben eine undefinierbare Gestalt und sind alle schlicht „Odd Engraving“ benannt. Anstelle naheliegender ikonografischer Abbildungen (vielleicht ein Stück Kupferdraht, mit dem die Schaltung kurzgeschlossen wird) sind es Symbole. Erreicht man den Ort, an dem sie eingesetzt werden müssen, fügen sie sich automatisch ein. Das Herumrätseln über den richtigen Einsatz eines Objektes und die Suche nach dem richtigen Ort sind ein wesentlicher Bestandteil klassischer Adventures – in „Killer 7“ sind die Wege bekannt, man kann durch die Festlegung auf eine Bahn keine Irrwege gehen oder Objekte übersehen. Die Entschlüsselung des der Gestaltung des Objektes innewohnenden Hinweises auf seine Benutzung ist unnötig geworden, daher spielt dessen optische und inhaltliche Gestaltung auch keine Rolle mehr: Der Gegenstand ist nurmehr Symbol dafür, dass es ein Rätsel gibt, ein Hindernis, dass überwunden werden muss für den Fortgang des Spiels. Damit gelingt „Killer 7“ das Kunststück, über die Art und Weise der Bedienung des Spiels und eines cleveren Designs der Objekte fundamentale Prinzipien des Videospiels bewusst zu machen: Die schlichte Mechanik der Adventure spiegelt sich bei „Killer 7“ in der Abfolge der Entscheidungen, die der Spieler auf seiner festgelegten Bahn durch das Spiel trifft. „Killer 7“ ist ein gespielter „Walkthrough“.

Der Unterhaltungswert der Rätsel wird damit auf eine andere Ebene verschoben. Nicht die Knobelei, sondern das Erkennen der zugrundeliegenden Mechanismen machen das Reizvolle an den Rätseln von „Killer 7“ aus. Das selbstreflexive Design ist Neuland im Bereich der Videospiele. Selbstzitat und -ironie ist als Element der Erzählung in Adventures und anderen Spielgenres durchaus beliebt. Die Adventure der Firma „LucasArts“ sind da Vorreiter gewesen. In den Spielen finden sich am laufenden Band Anspielungen auf „Star Wars“, „Indiana Jones“ oder andere Adventure-Reihen der Firma und popkulturelle Zitate – nicht unähnlich der Verweisstruktur der „Simpsons“. Eine Offenlegung der Spielmechanik fand dort aber nicht statt.
Aber auch auf der Ebene der Erzählung versucht „Killer 7“, sich von etablierten Konventionen zu lösen. Die erzählte Geschichte eines Videospiels ist – je nach Genre – unterschiedlich stark notwendig und daher auch unterschiedlich ausführlich erzählt. Gleich ist allen, dass die Geschichte, oder zumindest die der Hauptcharaktere, immer geschlossen und nachvollziehbar bleibt. Dies dient der Attraktivität des Spiels insgesamt, da das Versenken in eine Spielwelt erschwert wird, wenn der Spieler die Welt nicht begreift. Mit anderen Worten: die Geschichten von Videospielen haben klare Anfänge, Verläufe und Enden; sollten einige Charaktere mysteriös oder Nebenhandlungen diffus bleiben, hat das auf die hauptsächliche Geschichte wenig Einfluss. Diese Klarheit gibt dem Spieler Sicherheit über die Gründe seines Handelns und motiviert dadurch zum Spiel.

„Killer7“ verweigert diese Sicherheit, die andere Spiele den Spielern durch eine genaue Erzählung vermitteln. Ein großer Teil der Verunsicherung liegt in der Verschmelzung von narrativen und bedienungstechnischen Elementen. Grundsätzlich wird in Videospielen versucht, die notwendigen Bedienungselemente in die Spielwelt einzubinden, um deren atmosphärische Geschlossenheit nicht zu beschädigen. Im Ergebnis bedeutet dies beispielsweise, dass man zu magischen Steinen gehen muss, um dort seine Seele zu binden – dort gibt es die Möglichkeit, das Spiel zu speichern. In den Örtlichkeiten der Missionen von „Killer 7“ kann man immer mehrere Rückzugsräume betreten (benannt „Harman´s Room“, nach dem Kopf der Killer), die außerhalb der eigentlich Level existieren. Neben Harman, der im Rollstuhl sitzt, befindet sich dort auch seine Pflegerin. Trägt sie ihre Hausmädchenuniform, kann man das Spiel speichern, hat sie ihre Alltagskleidung an, geht dies nicht. Die Pflegerin spielt auch innerhalb der Erzählung eine nicht unerhebliche Rolle. Wie man in Zwischensequenzen erfährt, hat sie ebenso schizophrene Züge wie die Killer. In ihrer Uniform ist sie zurückhaltend und fürsorglich, in Zivil schlägt und beleidigt sie den im Rollstuhl sitzenden Harman. Hier wurden Bedien- und Narrativelemente gleichgesetzt. Wenn in anderen Videospielen Charaktere oder Objekte Funktionsträger der Bedienung waren, spielten sie in der Regel keine größere Rolle für die Erzählung und umgekehrt. Diese Trennung sorgt dafür, dass das Spiel ohne Atmosphäreeinbußen klare Bedienelemente hat. Bei „Killer 7“ spielen viele funktionstragende Charaktere auch eine Rolle innerhalb der Narration. Ein Tippgeber, der bei der Lösung einiger Rätsel hilft, ist beispielsweise ein früheres Opfer der Killer und trägt zur Gesamterzählung bei – als Geistererscheinung, wie nahezu alle Charaktere, mit denen die Killer sprechen können.
Die Doppelbesetzung der Charaktere mit einer Bedienfunktion und narrativem Gehalt führt gerade zu Spielbeginn zu einiger Verwirrung, sorgt aber für eine besondere Geschlossenheit der Atmosphäre. Gleichzeitig ist die erzählte Geschichte selbst hochkompliziert. Sie steckt voller Anspielungen auf die japanische Geschichte, weltpolitischen Ereignissen, der Popkultur und Japans Verhältnis zum Westen. Die Erzählung abseits dieser Verweise ist äußerst verschlungen, lässt viele Fragen unbeantwortet oder widerspricht sich selbst und fordert viel Aufmerksamkeit und Konzentration seitens des Spielers.

Capcom lässt damit einen der wichtigsten Grundsätze erfolgreichen Spieldesigns außer Acht: Zugänglichkeit. Mit Zugänglichkeit ist die Standardisierung bestimmter technisch notwendiger Elemente eines Videospiels gemeint. Sie erlaubt dem gelegentlichen Spieler, sich in einer neuen Spielumgebung ohne größere Einarbeitung sofort zurechtzufinden. Dies bedeutet weder, dass zugängliche Spiele nicht anspruchsvoll oder komplex sein können, noch dass Spieler zu bequem sind, um Anleitungen zu lesen. Zugänglichkeit drückt lediglich aus, dass die Bedienung dem Spielfluss nicht im Weg steht. Sie ist ähnlich der unsichtbaren Montage des klassischen Hollywoodfilms: Je größer die Kunstfertigkeit, umso weniger bemerkt man sie. Genau wie beim Film erzeugt höchste Perfektion auf Dauer aber auch Monotonie. „Killer 7“ opfert die Zugänglichkeit einem selbstreflexiven Spieldesign, das innerhalb eines Videospiels dessen grundsätzliche Strukturen nicht nur reflektiert, sondern sie gleichzeitig spielerisch erfahrbar macht und dies mit einer anspruchsvollen Narrationsstrategie verbindet. Daher ist die Einarbeitungszeit in das Spiel auch recht lang, bis der Spieler die Eckpfeiler der Erzählung und der Bedienung kennt, vergeht einige Zeit. Hier liegt aber auch die große Chance und das große Verdienst von „Killer 7“: Videospiele sprechen zunächst einmal nur Videospieler an. Die immer wiederkehrenden Szenarien (Weltkrieg, Fantasy, Science-Fiction), die „Beschäftigung im Leerlauf“ und die simpel erzählten Geschichten lassen Videospiele oft trivial erscheinen. „Killer 7“ hingegen bietet nicht nur eine fordernde Geschichte zum Nachspielen, das Design der Rätsel und der Steuerung verleihen dem Spiel eine Tiefe, die über das schlicht handwerklich gelungene Spieldesign bisheriger Videospielklassiker hinausgeht. „Killer 7“ spielt man mit dem Kopf, nicht mit dem Bauch. Das Design und die anspruchsvolle Erzähltechnik dürfte auch diejenigen zumindest aufhorchen lassen, denen Videospiele im Allgemeinen zu vulgär und ordinär sind.

Reflexion und die Beschäftigung mit den Funktionsprinzipien eines Mediums innerhalb des Mediums selbst sind wichtige Schritte auf dem Weg von der reinen Konsumware zur Kunst. Der Film hat diesen Schritt vor langer Zeit gemacht, dem Videospiel steht er noch bevor. Aufgrund der eingangs beschriebenen Umstände der Videospielproduktion ist zu bezweifeln, dass er je gemacht werden kann. „Killer 7“ weist immerhin in die richtige Richtung.


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