Vergeben ist menschlich – Bohdan Slámas „Der Dorflehrer“
von Markus Reuter
"Der Dorflehrer" ("Venkovský Učitel", Tschechien/Deutschland/Frankreich 2008)
Drehbuch und Regie: Bohdan Sláma. Kamera: Diviš Marek. Musik: Vladmír Godá. Produktion: Pavel Strnad, Petr Oukropec, Thanassis Karathanos, Karl Baumgartner.
Darsteller: Pavel Liška (Petr), Zuzana Bydžovská (Marie), Ladislav Šedivý (Laja), Marek Daniel (Der Freund), Tereza Voříšková (Beruška).
Verleih: Neue Visionen
Länge: 110 Minuten
Start: 27.08.2009
„Klingt aber ziemlich traurig“ ist Maries lakonischer Kommentar zu Petrs Musik. Mit diesen Worten endet eine der schönsten Sequenzen im Kino der letzten Zeit, die uns mit der Musik aus der Wohnung von Petrs Eltern in Prag zum kleinen Dorf auf dem Land mitnimmt. Eine geheimnisvolle Traurigkeit umgibt Petr schon seit Beginn des Films, wenn er genau diesen Schritt von der Stadt in die Natur vollzieht und die neue Stelle als Dorflehrer antritt.
Schweigen ist seine Antwort auf die Frage, warum es einen so intelligenten jungen Lehrer wie ihn in die Grundschule eines abgelegenen Dorfs führt. Die Aufarbeitung dieser Frage wird ihm und seinen Mitmenschen im Verlauf des Films einiges an Selbstüberwindung und Kraft abverlangen. Auf dem Land findet Petr nämlich nicht die Ruhe zur Analyse der eigenen Situation, weil es dort längst nicht so harmonisch zugeht, wie er sich das vielleicht erhofft hat. Das Leben spielt sich hier zwischen unmotivierten Schuldirektoren, trinkenden alten Männern und der Perspektivlosigkeit der Einwohner ab. In der aufkeimenden Vertrautheit zwischen ihm und der Bäuerin Marie kommt es schließlich auch zu Schwierigkeiten, als Marie über die Freundschaft hinaus mehr von ihm will.
Ebenso kompliziert entwickelt sich die Beziehung zwischen Maries Sohn Laja und seiner Freundin Beruska. Während er sich mit seiner Mutter zwar gut auf die Pflege des Bauernhofs versteht, kann er beim Verlangen Beruskas nach Bildung und Wissen nicht mithalten. Der hier zum Vorschein kommende Zwiespalt zwischen der Eingebundenheit in die Natur und der Fähigkeit zum vernünftigen Denken des Menschen, zwischen sinnlicher Begierde und geistiger Vernunft wird innerlich und äußerlich in allen Figuren des Films ausgetragen. Endgültig zum Ausbruch kommt der Konflikt, als Petr Besuch von einem Freund aus der Hauptstadt bekommt. In den folgenden Ereignissen wird Petr seinem körperlichen Verlangen nachgeben und Schuld auf sich laden.
Im Mittelpunkt des Films steht die Betrachtung der Liebe in vielerlei Facetten, wie der tschechische Regisseur Bohdan Sláma selbst sagt: „Liebe hat so viele verschiedene Formen wie es Menschen gibt. Und jede Beziehung zwischen zwei Individuen hat einen absoluten Wert in sich selbst.“ Um den Möglichkeiten des menschlichen Zusammenseins auf die Schliche zu kommen, entfaltet Sláma das Leben seiner Charaktere mit ruhiger Sorgfalt und großer Sensibilität. Dabei deckt er vor allem die Schwächen im Menschen auf. Die Eifersucht auf und die Enttäuschung durch den Mitmenschen, die Angst vor der Zurückweisung durch den Anderen erlaubt es uns häufig nicht, sich dem Gegenüber zu öffnen und der Liebe eine wirkliche Chance zu geben. Und doch treibt uns eine Sehnsucht im Innern stetig nach diesem Gefühl und wir verstehen die Worte von Petrs Mutter: „Einsamkeit ist schrecklich.“ Jeder braucht jemanden.
Zur Umsetzung dieser Erkenntnis gehört aber eben auch ein gewisses Maß an Stärke, um die eigenen Fehler zu überwinden. Die Größe des Menschen liegt, so der Film, in seiner Fähigkeit zu vergeben; zu vergeben, obwohl man in der Vergangenheit vielleicht bereits Enttäuschungen erfahren musste. Die Überwindung des in der Natur des Menschen liegenden Triebes durch den Geist entspricht damit einer Auszeichnung der Platonischen Liebe, bei der die sinnlichen Begierden des Körpers zugunsten der Idee eines höchsten Guten zurücktreten sollen. Oder in den Worten des Regisseurs: „Die Fähigkeit zu vergeben stellt das Vertrauen in den Sinn des Lebens wieder her.“
Das Schöne regte Platon zum Philosophieren an, und es ist die Schönheit der langen Einstellungen im Film, die uns zum Nachdenken über das Beziehungsgeflecht der Figuren inspiriert. Für den Filmtheoretiker André Bazin überlässt die Mise-en-scène in der Plansequenz dem Zuschauer eine gewisse Mitwirkung an der Regie. Der Zuschauer folge dann nämlich nicht vom Regisseur im Bild aufgestellten „Wegweisern“, vielmehr hinge es von seiner Aufmerksamkeit und seinem Wollen ab, ob das Bild überhaupt einen Sinn bekommt. Sláma möchte uns dementsprechend nicht seine Sicht über die Welt aufzwingen, sondern lädt uns vielmehr zur gemeinsamen Reflektion ein.
Der ruhigen Entwicklung der Charaktere entspricht die Bewegung der Kamera, die sich nahezu während des gesamten Films langsam und behutsam vertikal, horizontal und um die eigene Achse bewegt. In ihren langen Fahrten und Schwenks wird die sich nach oben und unten schraubende Kamera zum ästhetischen Kennzeichen des Films und bringt die Konfrontation zwischen „niederem“ Trieb und „höherem“ Geist im Menschen zum bildlichen Ausdruck. Hinter der Kamera stand wie schon bei „Wilde Bienen“ („Divoké Včely“, Tschechien 2001) und „Die Jahreszeit des Glücks“ („Štĕsti“, Deutschland/Tschechien 2005) Diviš Marek. Marek lässt in seiner höchst beweglichen Kameraarbeit überdies den Schauspielern genügend Raum für die Gestaltung ihrer Figuren. Pavel Liška etabliert sich mit seiner vor Empfindsamkeit fast zu Grunde gehenden Rolle des Petr endgültig als einer der talentiertesten Schauspieler in Europa, und Zuzana Bydžovská wünscht man sich nach der Rolle der vom Leben gezeichneten Marie in weiteren Filmen zu sehen. Mit welcher Selbstverständlichkeit sie die bäuerlichen Aufgaben darstellt, wie sie sich zum Beispiel in den Traktor schwingt oder die Kühe zur Tränke führt, das erinnert an die neorealistischen Akteure, die sich für Roberto Rossellini in der letzten Episode von „Paisà“ („Paisà“, Italien 1946) lebensnah in ihre Boote gleiten lassen sollten.
Einen Film über die Liebe und den Sommer hat Bohdan Sláma gedreht. Und doch verhält es sich genau anders herum wie beim polnischen „Kleine Tricks“. Dort wollte der Regisseur Andrej Jakimowski einen Schritt aus der ernsten Tradition des polnischen Kinos herausmachen und scheiterte an seinem Ansatz. Sláma hingegen tritt mit einem großen und (stil-)sicheren Schritt aus der komödiantischen Tradition der tschechischen Kinematografie heraus, in der er mit seinem Erstling „Wilde Bienen“ noch stand. Mit dem reiferen, visuell und inhaltlich sehr beeindruckenden „Die Jahreszeit des Glücks“ machte er schon einen Schritt darüber hinaus, mit „Der Dorflehrer“ legt Sláma nun sein bisheriges Meisterstück ab. Der Film weist ihn endgültig als poetischen Realisten des Kinos aus und macht ihn zu einem der momentan aufregendsten Regisseure des osteuropäischen Kinos, wenn nicht sogar darüber hinaus. Bei der Suche nach menschlichen Wahrheiten erreicht „Der Dorflehrer“ nahezu beiläufig eine tiefe Traurigkeit und Schönheit, die der schnörkellose Titel erst einmal nicht vermuten lässt. Im Verlauf der Geschichte über die Notwendigkeit von Vergebung kommt es immer wieder zu Annäherungen und Abweisungen zwischen den Figuren. Krisen müssen überwunden, Gespräche geführt und Schwächen eingestanden werden, bevor die Hoffnung auf Besserung sich den Weg bahnen kann.