Filmisches Theater, theatralischer Film? Betrachtungen zu Lars von Triers DOGVILLE
von Carsten Kurpanek
DOGVILLE ist ein formales Experiment, der großspurig selbst proklamiert, ein Film zu sein. Und zum Leidwesen vieler Kritiker Lars von Triers ist er das auch. Das Konzept, ein ganzes Dorf auf einer schwarzen Bühne zu kreieren, indem man die Gebäude mit Kreidelinien andeutet und nur sehr sparsam mit Requisiten füllt, klingt jedoch zu erst einmal mehr nach Theater als nach Kino. Doch von Triers neustes Werk lediglich als filmisches Theater oder als einen theatralischen Film abzutun, wäre viel zu kurz gegriffen. Vielmehr handelt sich um eine literatur-, theater- und filmhistorische Hybride. DOGVILLE deutet seine verschiedensten Ursprünge jedoch nur an und erwartet vom Zuschauer, dass dieser die konstitutive Leistung aus seiner Erfahrung als Rezipient heraus selbst erbringt. So 'liest' sich DOGVILLE wie das Hörbuch eines Romans, dem von einem zu gleich liebevollen und ironisierenden, auktorialen Erzähler (John Hurt) eine märchenhafte Stimmung verliehen wird. Seine Erzählung findet in den kargen Bühnenbildern und einer handvoll die Bühne mit Leben füllender Schauspieler seine Visualisierung. Ein Film wäre DOGVILLE bis hier noch nicht. Doch Lars von Trier ignoriert einfach die Tatsache, dass er es mit einer Theaterkulisse zu tun hat und inszeniert das Geschehen nicht starr von Außerhalb, aus der Perspektive von imaginären Theaterzuschauern heraus, sondern schließt die vierte Wand der Bühne und filmt von innen. Der Einsatz der Handkamera, wechselnde Einstellungsgrößen und -Perspektiven fragmentieren den Bühnenraum und konstituieren so einen filmischen Raum. Um die Illusion einer 'echten' Welt entstehen zu lassen, verlässt sich von Trier auch auf audio-visuelle 'Klischees' des Kinos. Wenn der Erzähler zum Beispiel von einer stürmischen, regnerischen Nacht erzählt, so ergänzen Regen- und Windgeräusche aus dem Off das bisher unvollständige Bild. In Momenten wie diesen mutiert DOGVILLE tatsächlich zu einem Film. Der Rezipient ergänzt aus der eigenen Seh-Erfahrung die fehlenden Elemente des Bildes, die vom Ton nur suggeriert werden, bis das Bild vor seinem geistigen Auge komplettiert ist. So erinnert DOGVILLE auch an das Ende von Michelangelo Antonionis Anti-Thriller BLOWUP (GB 1966), als er durch Tongeräusche und Kamerabewegung einem imaginären Tennisball zu einer fast greifbaren Existenz verhalf.
Auch wenn das formale Konzept mit seinem asketischen Bühnenbild auf den ersten Blick wie eine extreme Weiterentwicklung des Dogma 95-Manifests anmutet, so wird jedoch sehr schnell deutlich, dass DOGVILLE mit dem Regelwerk rein gar nichts gemein hat. So spielt der Film in einem fiktiven Dorf in den Rocky Mountains, und die Tatsache, dass der Film auf eine Bühne entstanden ist, unterläuft schon das Dogma 95-Postulat, an Originalschauplätzen drehen zu müssen. Auch der Handlungszeitraum, Amerika während der Prohibition, und zahlreiche Genrezitate des Gangsterfilms laufen dem Dogma-Regelwerk zuwider. Tatsächlich handelt es sich bei DOGVILLE um von Triers künstlerisch wie formal expressivstes Werk seit MEDEA (DK 1987), seiner Interpretation des gleichnamigen griechischen Mythos, das damals nach einer Drehbuchvorlage von Karl Theodor Dreyer entstand. Doch einigt beide Werke lediglich das Attribut des Artifiziellen. Stilistisch haben sie nichts gemein. MEDEA besticht durch weitschweifige Panoramaaufnahmen von oft menschenleerer und unberührter Natur, die die mystische Grundstimmung des Films unterstreicht. Rückprojektionen, Farbverfremdungseffekte und chemische Veränderung des Negativs verleihen MEDEA eine Stimmung des Unwirklichen. DOGVILLE hingegen ist so 'normal' wie möglich inszeniert. Von Trier verzichtet bewusst auf aufdringliche visuelle Effekte, und selbst seine sonst exzessive Verwendung von Jump-Cuts hält sich in Grenzen. Dadurch bleibt die 'unfilmische' Prämisse des Films der einzige verfremdende Faktor des Films. DOGVILLE ist somit weder unfilmisch noch Anti-Kino, sondern entspricht eben jener Essenz des Kinos: der Illusion. Und selbst der schon jetzt berühmte Opening Shot von DOGVILLE, gesehen aus der Vogelperspektive, ist nichts als eine Illusion. Tatsächlich wurde er aus 156 individuellen Einstellungen am Computer komponiert. Das Dach des Filmstudios war nicht hoch genug, um die Szene in einer einzelnen, weiten Totale zu fassen.
DOGVILLE ist der erste Film einer weiteren Trilogie Lars von Triers mit dem Titel USA – LAND OF OPPORTUNITIES, deren Handlung jeweils in Amerika angesiedelt ist, einem Land, in dem der Regisseur selbst noch nie gewesen ist. Gerade diese Tatsache schien zu provozieren, so dass DOGVILLE vielfach als anti-amerikanisch gelesen wurde. Natürlich bietet auch die Geschichte selbst reichlich Angriffsfläche für diese Kritik. Jedoch handelt es sich bei DOGVILLE letztlich um eine Allegorie, die anhand einer amerikanischen Kleinstadt von der Korrumpierbarkeit und Hypokrisie der Menschen im allgemeinen und nicht der der Amerikaner im speziellen erzählt. Interessanter als der absurde Vorwurf des Anti-Amerikanismus ist jedenfalls die Feststellung, dass DOGVILLE thematisch an von Triers letzte Trilogie anzuknüpfen scheint.
Als Kind liebte Lars von Trier besonders das Märchen "Goldherz" des dänischen Autors Hans Christian Andersen. Die Geschichte eines armen Mädchens, das in den Wald geht und alles was es besitzt verschenkt, um anderen zu helfen, bildete jeweils die narrative Grundidee hinter den Filmen der A HEART OF GOLD-Trilogie: Sowohl BREAKING THE WAVES (DK 1996), IDIOTERNE (DK 1998) als auch DANCER IN THE DARK (DK 2000) handelten von naiv-unschuldigen Frauen, die aus unerschütterlichem Glauben, das Richtige zu tun, alles in Kauf nahmen, um das ultimative Opfer zu erbringen.
Auch die weibliche Protagonistin in DOGVILLE, Grace (Nicole Kidman), die auf der Flucht vor Gangstern in dem abgelegenen Bergdorf Dogville zuflucht findet, opfert sich unermüdlich selbst auf, um die Sympathie der skeptischen Bewohner, die ihr Schicksal in Händen halten, zu gewinnen. Mit einer fast stoischen Ruhe erduldet Grace alle Demütigungen, die mit der Zeit immer menschenverachtendere Formen annehmen. In vieler Hinsicht ist Grace rationaler und beherrschter als die weiblichen Hauptcharaktere in von Triers Filmen der A HEART OF GOLD-Trilogie. Grace fehlt die Naivität einer Selma (Björk) aus DANCER IN THE DARK oder Bess (Emily Watson) aus BREAKING THE WAVES. Dies dürfte auch der Grund sein, warum von Trier erstmals eine weibliche Hauptrolle mit einer erfahrenen Schauspielerin besetzt hat. Nicole Kidman füllt die Rolle der Grace mit Leben, die naive und verletzliche Ausstrahlung der schauspielerisch noch unerfahrenen Protagonistinnen der Vorgängerfilme besitzt sie nicht. Daher erreicht DOGVILLE auch nicht deren emotionale Direktheit, in denen von Trier es verstand, pure Emotion entstehen zu lassen, der der Zuschauer schutzlos ausgeliefert war. DOGVILLE ist dagegen zynisch distanziert und ironisch gebrochen. Der die Handlung begleitende und kommentierende Erzähler bildet eine Instanz zwischen Geschehen und dem Zuschauer, die eine völlige Identifikation mit den Figuren verhindert. Der Erzähler ähnelt dabei im Tonfall und Funktion stark der Figur des Stage Managers in Thornton Wilders „Our Town“ (1939), das oft als Referenz in Bezug zu DOGVILLE genannt wird.
Von Trier behauptet zwar, er habe das Stück erst während der Dreharbeiten gelesen, doch sind die wenn auch nur durch Zufall entstanden Ähnlichkeiten der beiden Werke nicht von der Hand zu weisen. Der fast identische, nur angedeutete Bühnenaufbau, der begleitende Erzähler und das Kleinstadtleben als thematisches Grundmotiv sind sowohl in DOGVILLE als auch in „Our Town“ präsent. Die eigentliche Geschichte von DOGVILLE hat mit Wilders Klassiker jedoch nichts gemein. Die Inspiration für die dem Film zugrunde liegende Rachegeschichte stammt aus dem Lied der Piraten-Jenny von Bertolt Brecht und Kurt Weill aus der „Dreigroschenoper“. Darüber hinaus weckt Graces finaler Racheakt an den Bewohnern von Dogville Assoziationen an eine frühere weibliche Protagonistin eines von Trier-Films: MEDEA. Wohingegen Medeas Rache sich einzig und allein gegen ihren Ex-Mann wendete und einer Selbstbestrafung glich, indem sie, um ihn zu treffen, ihre eigenen Kinder ermordete, so vollzieht Grace in DOGVILLE eine Rache an der Menschheit an sich. Sie verwandelt sich in eine Art Racheengel, der die Sünder vom Angesicht der Erde tilgt. Im übertragnen Sinne scheint sie sich für all das sinnlose Leid zu rächen, das den weiblichen Protagonisten aus der A HEART OF GOLD-Trilogie widerfuhr. Deren ultimative Opfer waren sinnlos im Anbetracht der Schlechtigkeit der Menschen. So kommt Grace am Ende zu dem Schluss, dass Vergebung nichts als arrogant wäre. Totale Annihilation wird deshalb zur einzigen Form der Wiedergutmachung.
Bisher hatten von Triers jeweiligen Filme einer Trilogie stilistisch kaum Gemeinsamkeiten. Es wird interessant werden zu sehen, ob er das hier vorgeführte formale Konzept bei den folgenden Teilen der USA-Trilogie, MANDERLEY (DK 2004) und WASINGTON (sic; voraussichtlich 2006) beibehält, und ob er uns aus der misanthropischen Hölle von DOGVILLE erretten wird.