Im Kino: "Inception" - Direkt aus der Traumfabrik

"Inception"
USA 2010, Buch, Regie: Christopher Nolan, Start: 29. Juli 2010


Dom Cobb muss es wissen, er geht schließlich in anderer Leute Träumen spazieren: "Während des Traumes halten wir ihn für real. Erst wenn wir aufwachen, merken wir, dass er recht seltsam war."

Auf merkwürdige Weise trifft diese Aussage auch auf den Traum-Film "Inception" zu - der sich ohnehin irgendwo ganz unten, subtil, mit der nicht einfachen Frage beschäftigt, wie Kino und Traum zusammenhängen. Bei "Inception" weiß man schon bei den ersten Bildern, dass man richtig liegt: dass dieser Film zum Faszinierendsten gehört, das in den letzten Jahren in die Kinos gekommen ist; und hinterher, nach dem Abspann, nach dem Erwachen, fallen einem dann doch all die Kleinigkeiten ein, die den Film - unbewusst - noch merkwürdiger machen.

Da fällt dann auf, dass Christopher Nolan, wenn er auch ein großer Regisseur, so eben doch kein sonderlich guter Drehbuchautor ist. Großartig zwar, wie er in den ersten 15 Minuten größte Verwirrung stiftet, mit der Verschachtelung verschiedener Träume ineinander, die von mehreren Filmfiguren geteilt werden, das ganze noch dargebracht in einer lockeren Rückblendestruktur und durchsetzt durch die Realitätsebene des Films. Aber überdehnt er nicht ein wenig, wenn Dom Cobb und sein Traumräuberteam in dieser Realität von einem ehemaligen Auftraggeber gejagt werden, weil sie einen Diebstahljob im Unterbewussten des Industriellen Saito vermasselt haben, wenn diese Verfolger heimlich auftreten wie alle Bösewichter im Film, wenn Saito unvermittelt Cobb anbietet, die Seiten zu wechseln und für ihn zu arbeiten? Das ist ein ziemlich langer, verschlungener, mäandernder Vorlauf, um zum eigentlichen Plot zu kommen: dass Cobb und seine Leute in die Träume des Konzernerbes Robert Fischer eindringen sollen, um dort nicht tief im Inneren verschlossene Geheimnisse herauszufischen, sondern um etwas einzupflanzen, die Idee nämlich, das Unternehmen des Vaters lieber zu zerschlagen als zu erhalten.

Saito begründet diesen Auftrag: Der Fischer-Konzern monopolisiere die weltweite Energiewirtschaft, eine Zerschlagung sei also eine gute Tat für die gesamte Menschheit. Was der ganze Film unkommentiert und unwidersprochen lässt, und was dadurch äußerst hanebüchen wirkt. Hatten wir doch Saito in der Exposition als harten Hund kennengelernt, mit allen Wassern gewaschen und beispielsweise diversen Formen von Industriespionage zum eigenen Nutzen nie abgeneigt: keinesfalls aber als Menschenfreund.

Auch andere Details des Films stellen sich im Nachhinein betrachtet als an den Haaren herbeigezogen heraus. Das Schlafmittel etwa, das Cobb und seine Leute benutzen, um das Opfer und sich selbst ins Reich der Träume zu schicken, ist erstens stark genug, dass das Opfer nicht aufwacht, selbst wenn ihm ein Traum im Traum im Traum vorgegaukelt wird; beschleunigt zweitens die Gehirnströme, so dass die Traumzeit sehr viel langsamer verläuft als die Realzeit; und drittens, passenderweise, betrifft die Betäubung nicht das Mittelohr: denn durch den äußerlich, in der Realwelt herbeigeführten Gleichgewichtsverlust wird der Schläfer aus dem Traum zurückgeholt. Sehr dienlich, das; und für einen Film, der in die Tiefen des Unterbewusstsein von diversen Figuren hineintaucht, viel zu funktional. Ebenso wie die allzu eindimensionale Charakterisierung der Hauptfigur Cobb, der monokausal definiert ist durch die Trauer um seine verstorbene Frau und den Wunsch, seine Kinder wiederzusehen.

Nolan schert sich scheint's nicht darum, dass das allzu offensichtlich zurechtgeschnitzt ist, um Lücken in Motivation oder Grundgefüge der Handlung zu schließen. Zwischendurch, wenn der Film sich schon länger mit Erklärungen aufgehalten hat, geht plötzlich und recht unmotiviert eine Verfolgungsjagd durch Mombasa los, Cobb wird von den geheimnisvollen Auftraggebern, die er enttäuscht hat, durch enge, labyrinthische Gassen gejagt - das soll offenbar einerseits die Leute daran erinnern, das dies ein Actionfilm ist, andererseits geht es natürlich darum, eine gewisse Ambivalenz der Realität aufzubauen: ist das, was Cobb für Wirklichkeit hält, vielleicht auch nur ein Traum? Aber: diesen Weg führt der Film in seinen weiteren zwei Dritteln nicht fort, bis auf einen kleinen aufscheinenden Gedanken in seiner Auflösung. (Und wir erinnern uns, dass Nolan auch in "Dark Knight" nicht sehr stringent war in der Ausbalancierung der Handlung: da gehts einmal grundlos nach Hongkong, und nach des Jokers Ende müssen noch weitere plötzlich auftauchende Gegner erledigt werden, die eigentlich in einen eigenen Film, nicht aber in die letzte halbe Stunde einer Zelebrierung des Nihilismus hätten gesteckt werden müssen.)

Aber hey: ist das wichtig? Das eigentlich grandiose von "Inception" ist, das er trotz dieser Makel grandios ist. Denn immer wird das Merkwürdige, das Detail, das sich falsch und aufgesetzt anfühlt, dadurch rechtfertigt, was daraus folgt. Die eindimensionale Besessenheit von der Familie? Sieht Cobb am Ende selbst ein und zieht seine Konsequenzen. Das Schlafmittel, das so perfekt in den vom Drehbuch vorgedachten Handlungsfortgang passt? Ist das Sprungbrett für das großartige Finale des Films: Eine Dreiviertelstunde lang fällt in einem Traum ein Lieferwagen eine Brücke hinunter ins Wasser; darin liegen Schlafende, in deren Traum Hotelkorridore - schwerelos! - durchkämpft werden; in einem Traum in diesem Traum geht es um die Eroberung einer schwer bewachten Festung im verschneiten Gebirge; und hinter einem Traum in diesem Traum kommen wir dem Wahnsinn schon ziemlich nahe. Das alles voller Tricks, voller kleiner Täuschungen, voller Finten - wie es eben ist in einem Heist-Movie, nur dass es hier nicht um Las-Vegas-Millionen geht, sondern um eine Idee im Unterbewussten des Opfers; voller wirkungsvoller kleiner Spannungselemente, die perfekten Thrill erzeugen; und voller großartiger Special Effects, viele davon nicht am Computer generiert, so dass auch in der vom Film vollzogenen Auflösung von Realität in Traum alles sehr wirklich aussieht.

Wenn einem ein Traum im Nachhinein seltsam vorkommt: Heißt das, dass wir ihn ungern geträumt hätten? Dass wir ihn nicht gerne nochmals träumen würden?


Harald Mühlbeyer


"Inception". USA 2010.
Regie, Buch: Christopher Nolan. Kamera: Wally Pfister. Musik: Hans Zimmer. Produktion: Emma Thomas, Christopher Nolan.
Mit: Leonardo DiCaprio (Dom Cobb), Ken Watanabe (Saito), Joseph Gordon-Levitt (Arthur), Ellen Page (Ariadne), Marion Cotillard (Mal), Cillian Murphy (Robert Fischer), Tom Berenger (Browning), Michael Caine (Miles).
Länge: 148 Minuten.
Verleih: Warner Bros.
Kinostart: 29. Juli 2010.

Mannheimer Grindhouse-Nacht mit Bava und Fulci

Am Samstag, 24.7., zeigt das Mannheimer Cinema Quadrat ein Best of der Grindhouse-Reihe:

"Danger: Diabolic"
ITA/USA 1968. R: Mario Bava.

Wir befinden uns im Comicfilmbereich der 1960er: „Diabolik“ ist schlichtweg das Reizwort für die Polizei. Da Inspektor Ginko diesen gewieften Dieb nicht erwischen kann, rückt er einem Drogenboss auf die Pelle. Er soll Diabolik fangen, damit die Polizei ihre Razzien in seinen Absatz-Etablissements wieder etwas lockerer handhabt. Regisseur Brava nutzt Zooms und Kamerabewegungen, die dem Film in Verbindung mit der natürlichen Bewegung der Objekte ein für damalige Zeiten atemberaubendes Tempo verleihen. DANGER: DIABOLIK atmet ganz tief den Hauch der späten 1960er, was Farben, Formen und Lebensgefühl angeht. Ein Muss für Comic-Liebhaber, allein schon die Filmmusik von Ennio Morricone, der hier wohl einen der deftigsten Easy Listening-Pop-Soundtracks aller Zeiten hinlegt.

und

"Woodoo – Schreckensinsel der Zombies"
ITA 1979. R: Lucio Fulci.

Eine führerlos vor der Küste von New York treibende Segelyacht wird von der ansässigen Küstenwache geentert. Dabei wird ein Mitglied der Einsatzkräfte von einem verwesten Körper angegriffen, der angeschossen und schließlich über Bord geworfen wird. Der Journalist Peter West bekommt Wind von diesen Ereignissen und begibt sich mit der Tochter des Yachtbesitzers, Anne Bowles, auf die Karibik Insel Matul, nachdem ein Brief von Annes Vater die beiden auf diese Spur führt. Nach der Ankunft auf der Insel werden sie Zeuge unglaublicher Vorkommnisse, es scheint als würden die Toten aus ihren Gräbern steigen…


Wieder kann - diesmal wegen Familienurlaub - Redakteur Mühlbeyer nicht dabei sein, und er ist sehr traurig darüber. Vor allem, weil im August das Cinema Quadrat in die verdiente Sommerpause geht und die Grindhouse-Reihe deshalb erst im September fortgesetzt wird. So lange, so lange...

Im Kino: „Eine Karte der Klänge von Tokio“ – Thriller als Kunstkitschkino

„Eine Karte der Klänge von Tokio“, Buch, Regie: Isabel Coixet. Kinostart: 5. August 2010.


Eigentlich, im Kern, ist dieser Film ein Thriller. Er ist nur nicht so erzählt.

Lange bewahrt er das Geheimnis, worum es überhaupt geht, schwelgt dafür in ausgesucht schönen Bildern von Tokio, in all den Geräuschen der Stadt, und zeigt bizarre japanische Bräuche – Sushiessen vom Körper nackter Frauen zum Beispiel, oder – ganz wichtig im Film – das schlüfende Verspeisen von Ramen – Japanklischees, die gebrochen sind durch das Wissen der Japaner um die europäischen Erwartungen an ihr Verhalten. Und zugleich beschreibt er die Arbeitswelt auf einem Fischmarkt. Und zugleich begibt er sich mit der Filmfigur des Voice-Over-Erzählers auf eine poetisch-elegische Reise durch Tokio, das voll Wunder ist – all das ineinandermontiert, um quasi fundamental klarzumachen: das ist zwar ein Spielfilm, auch wenn die Handlung noch nicht klar ist – aber vor allem ist es eine essayistische Meditation über die sinnliche Wahrnehmung einer lebendigen Stadt. Das ist es auch, was der Titel postuliert: „Eine Karte der Klänge von Tokio“.

Dann, allmählich, schält sich heraus, warum Ryu, die von der anonymen Erzählerfigur besonders intensiv beobachtet, mit Mikrophonen belauscht, gedanklich durchleuchtet wird, mit der er eine wortlose Freundschaft geschlossen hat, deren Geheimnis er respektiert – warum diese Ryu also fremde Gräber auf dem Friedhof säubert und pflegt. Denn der Industrielle Nagara heuert sie an. Nagaras Tochter hatte sich umgebracht, der Vater gibt dem Schwiegersohn David die Schuld, Trauer wird zu Wut, und Ryu, die nachts auf dem Markt Fische zerstückelt, ist Auftragskillerin. David, der spanische Weinhändler in Tokio, soll ihr nächstes Opfer sein, er, der Nagaras Tochter ins Unglück gestoßen hat. Diesem David, ebenfalls in Trauer wegen des Selbstmordes seiner Frau, kommt Ryu allerdings näher, es entsteht so etwas wie Liebe – eine ganz unwahrscheinliche Wendung, die jeden anderen Film zerbrochen hätte.

Doch hier zeigt sich die Meisterschaft von Isabelle Coixet, die auf untergründig emotionale Weise erzählen kann, die die Strömungen der Gefühle sehr genau in Filmbilder umwandeln kann, so dass diese Volte plausibel wird. Der Wein, den David Ryu anbietet; seine Traurigkeit, die mit Ryus subtilem Lebensüberdruss korrespondiert; die Einsamkeit, das Bedürfnis nach einem anderen, einem – sagen wir: Gefährten; alles wirkt zusammen, und es ist nur schlüssig, dass die beiden alsbald in einem Liebeshotel verschwinden, das à la Paris ausgestattet ist. Ihr Zimmer ist der Place des Vosges, gestaltet als Métro-Waggon, wo sie sich hungrig aufeinanderstürzen. Die Sinnlichkeit, die den Film bisher auszeichnete, wird zu heißer Erotik, und ab hier wird der Film wirklich spannend, hier hat er sein Wesen gefunden: die Killerin, die sich in ihr Opfer verliebt, und die Auftraggeber, die folglich hinter beiden her sind.

Dass der Film dennoch scheitert, liegt daran, dass er von der poetisch-essayistischten Ebene nicht lassen kann, die der Handlung im Weg steht, so dass der Film seltsam zweigeteilt wirkt, als traue die eine Seite der anderen nicht. Kombiniert funktioniert es schlicht nicht, und wenn auch einzelne Szenen vollends überzeugen, wenn auch einzelne Bilder von bezaubernder Schönheit sind, wenn auch die eigentliche Handlung den Film alleine tragen könnte: das, was der Titel anspricht, die Karte der Klänge durch Tokio, das filmische Erforschen von Bildern und Tönen und einer kleinen, fatalen, zufälligen Geschichte um Ryu, diese Ebene, die durch die Erzählerfigur verkörpert wird: das alles ist letztlich völlig überflüssig. Und bewirkt, dass der Film im Ganzen nur noch zu kitschigem Gefühls- und Pseudokunstschmonzes wird.


Harald Mühlbeyer



„Eine Karte der Klänge von Tokio“ / „Map of the Sounds of Tokyo“ / „Mapa de los sonidos de Tokio“
Spanien 2009. Buch, Regie: Isabel Coixet. Kamera: Jean-Claude Larrieu. Produktion: Jaume Roures.
Darsteller: Rinko Kikuchi (Ryu), Sergi López (David), Min Tanaka (Erzähler), Takeo Nakahara (Mr. Nagara), hideo Sakaki (Ishida).
Verleih: Alamode Film.
Länge: 109 Minuten.
Kinostart: 5. August 2010.

Im Kino: „Knight and Day“ – Fast Forward

“Knight and Day”. Regie: James Mangold. Kinostart: 22. Juli 2010.


June weiß gar nicht, wie ihr geschieht: Plötzlich sind alle um sie herum im Flugzeug tot, es landet in einem Maisfeld, sie wird von dem Mann, mit dem sie eben noch heftig geflirtet hat, betäubt und wacht in ihrem Bett auf, auf dem Herd ist schon Pfannkuchen für sie zubereitet.

Oder: Sie steckt unvermittelt in einer wilden Schießerei in einem Lagerhaus, wieder wird sie betäubt, in verschwommenen Bildern nimmt sie wahr, wie der Mann, der sie beschützt, gefoltert wird, wie er sie dabei zuversichtlich beruhigt, nach Schwarzblende hat er die Peiniger überwältigt, nach Schwarzblende sind sie in einem Flugzeug mit umgeschnallten Fallschirmen, nach Schwarzblende in einem Tropenparadies, sie liegt auf einem Liegestuhl im Bikini – wie ist sie in den reingekommen?

Zwischen Filmschnitten kann alles passieren, das zeigt James Mangold in seiner rasanten Actionthrillerkomödie mit dem etwas beliebigen Titel „Knight and Day“. Wobei dieser nichtssagende Titel vielleicht schon Programm ist: unter „North by Northwest“ bzw. „Der unsichtbare Dritte“ oder, mehr noch, „Die 39 Stufen“ kann man sich ja auch alles und nichts vorstellen. Mangold drehte sein Hitchcock-Abenteuer – Flugzeug und Maisfeld oder das Auskleiden einer Ohnmächtigen sind nur zwei oberflächliche Verweise. Tatsächlich ist der ganze Film nach Hitchcocks Fast-Forward-Thrillern konzipiert, jemand Unbedarftes gerät plötzlich in ein unglaubliches Abenteuer und muss sich beweisen.

Cameron Diaz als June ist dabei mit Tom Cruise als Roy Miller unterwegs, und er bringt die andere Seite des Films ins Spiel: Die modern inszenierte Knalleraction à la „Mission Impossible“, er gibt den 007-haften Superagenten mit der Lizenz zum Überleben. Mangold lässt ihn nicht nur perfekt seinen Fight-and-Flight-Plot ausführen, sondern stattet dieses Paar mit unwiderstehlichem Witz aus: Diaz als Zuschauer-Substitut im Film trifft auf einen perfekten Helden, der mitten im schlimmsten Schlamassel, mitten im Getümmel von tödlicher Schießerei, mitten im ausweglosen Zwiespalt für jeden freundlich-verbindliche Worte findet, der mit seinem netten Smalltalk Vertrauenswürdigkeit und Sicherheit ausstrahlt. Ein harter Kontrast zwischen der Situation und dem Umgang von Miller mit dieser Situation, die hochkomisch wirkt und zugleich auf reizvolle Art verwirrend, die Miller als kaltblütigen Killerhelden zeigt und zugleich als Charmebolzen: ein Charme, dem insbesondere June sehr schnell verfällt. Wodurch sie immer tiefer hineingerät; und womit sie zugleich einem offensichtlich in ihr versteckten Bedürfnis nach Aufregung und Action nachkommt; unbewusst natürlich, aber auch für diese Abgründe des Unbewussten, die in packend-komischen Thrillern aufscheinen, kann Mangold auf Hitchcock als Vorbild verweisen.

Hitchcocks Kunst besteht hauptsächlich darin, stets die richtige Menge an Informationen über Figuren und Handlungsfortgang zur Verfügung zu stellen – so entwickelt sich wie von selbst die Suspense seiner Filme, ebenso wie der ironische Witz, der aus der Diskrepanz zwischen Handeln und Sagen, zwischen Sein und Schein entsteht. Mangold verwendet – ohne sich kopierend an Hitchcock abzuarbeiten – dieselbe Strategie wohldosierter, nicht zu knapper Information meisterhaft: Nach der Etablierung der Grundregeln des Film-Spiels lässt er zwischen diesen Grenzen alles geschehen, was möglich ist – und das wohlgeordnet, nach im Nachhinein klaren Prinzipien, ohne zu überhasten, ohne langweilig zu werden, ohne die Übersicht zu verlieren, ohne die Zuschauer zu über- oder zu unterfordern. Wozu auch gehört, dass Szenen, die nichts Neues bringen außer Action, die man schon weidlich gut kennt, sich in den Schwarzblenden der Bewusstlosigkeit auflösen: Mangold hat auch den Mut, das nicht zu zeigen, was nicht weiterbringen würde.

Wir vollziehen damit in jeder Szene die Entwicklung von June mit, ihre Verwirrung, ihr Gefangensein in Ohnmachten, in Zweifel, in der Unsicherheit, was sie denn glauben soll: dass Roy der einzig Gute in einem von bösen Verschwörern aufgezogenen Netz, oder dass er in der Tat ein paranoider Gewalttäter ist, dem alles zuzutrauen, keinesfalls aber zu vertrauen sei, wie es die Seite seiner Gegner ihr einflüstert. Über diverse Stationen in den USA, über eine mörderische Zugfahrt durch die Alpen, über Verrat und Flucht über den Dächern von Salzburg zur Verfolgung inklusive wilder Stierherde durch die Altstadt von Sevilla geht diese Reise, und am Ende hat sie einiges neu gelernt. Nicht nur die Voraussetzungen: dass man nicht zu Fremden ins Auto steigt, oder dass deren wiederholtes Aussprechen von Begriffen wie „safe“ und „secure“ bedeutet, dass sie einen töten wollen. Sondern auch das Schießen und Kämpfen für ein Ziel – sei es der MacGuffin, eine sich nie erschöpfende hochenergetische Batterie, oder der Mann, den man liebt: den perfekten Roy Miller, bei dem der Schein zur Wirklichkeit wird.


Harald Mühlbeyer


“Knight and Day”.
USA 2010. Regie: James Mangold. Drehbuch: Patrick O’Neal. Kamera: Phedon Papamichael. Musik: John Powell. Produktion: Cathy Conrad, Steve Pink.
Darsteller: Tom Cruise (Roy Miller), Cameron Diaz (June Havens), Peter Sarsgaard, (Fitzgerald), Ciola Davis (CIA-Direktorin George), Paul Dano (Simon Fleck), Jordi Mollà (Antonio Quintana).
Verleih: Twentieth Century Fox.
Länge: 110 Minuten.
Kinostart: 22. Juli 2010.

Buchkritik: „Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren“, hrgs. von Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandtstetter, Annemarie Matzke.

Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandtstetter, Annemarie Matzke (Hrsg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis. tanscript-Verlag, Bielefeld 2010. 238 Seiten, 26, 80 Euro.


Eigentlich hat dieser Essayband übers Improvisieren gar nichts mit Film zu tun. Dabei gäbe es auch über dieses Feld etwas zu schreiben: Wie Buster Keaton zum Beispiel mit seinen Autoren seine Gags konzipierte, nannte er gerne Improvisation – wobei allerdings eher ein Brainstorming gemeint sein dürfte als tatsächliches Stegreifspiel direkt am Drehort, das wäre bei den vielen technischen Tüfteleien und schwierigen Stunts allzu fahrlässig gewesen. Oder wie ein Regisseur den Probleme begegnet, die ein Dreh immer mit sich bringt, und wie er schnell und geschickt aus dem Nichts weitreichende Entscheidungen zu treffen hat: wenn am Ende einer langem Produktionszeit die Schauspieler für Ton-Synchronaufnahmen nicht mehr zur Verfügung stehen, muss ein Orson Welles eben gleich elf Charaktere sprechen; und wenn einem Pferde fehlen, werden sie durch Kokosnüsse ersetzt. Und die Filme von Helge Schneider wirken ohnehin dilettantisch hingerotzt, am Set improvisiert – und entfalten genau deshalb ihre grotesk-komische Wirkung.

Im von Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstätter und Annemarie Matzke herausgegebenen Band Improvisieren werden dafür allerhand andere Bereiche der Kunst in Hinsicht auf die Improvisation behandelt – etwa was Theaterschauspiel oder Tanzperformances angeht – was sozusagen auf der Hand liegt. Da kommen die Autoren dann anhand verschiedener Kunstrichtungen aus der Beschreibung von Improvisationspraxis zur Theorie, vergleichen verschiedene Konzepte, oder unternehmen Versuche, das Stegreifspiel auf verschiedene Weise zu definieren. Das geschieht beispielsweise in Bezug auf Grenzziehungen der Konvention, die in der Improvisation lustvoll überschritten werden, durch die Frage also, inwiefern Regeln wichtig sind, um sie zu brechen, und inwieweit die Improvisation dann wiederum den ihr eigenen Regeln gehorcht, die dann vielleicht in der Reaktion des Mitspielers wiederum gebrochen werden – das wird dann, völlig zurecht und mit immer neuen Aspekten, in anderen Essays mit verschiedenen Darstellungskünsten durchdekliniert.

Aber auch abgelegenere Gebiete werden erkundet, und da wird es dann wirklich interessant, denn da bietet der Band Neues, Unvermutetes, Überraschendes. Etwa eine philosophische Betrachtung von Georg W. Bertram über Improvisation und Normativität, in der es um die Bewertung von Improvisationen geht, um die Urteilskraft, die man dem Neuen, Unerwarteten, nie Gesehenen gegenüber aufbringen kann – das Improvisieren setzt sich ja per se über das Hergebrachte, damit über die herkömmlichen Bezugspunkte von Bewertungsmaßstäben hinweg. Wittgenstein und Hegel, Emmanuel Lévinas und das hypothetische Beispiel einer Jazzkombo spielen bei diesen Überlegungen eine Rolle.

Markus Krajewski nimmt sich „Dinner For One“ vor – das Stück, das zuverlässig alljährlich keinerlei Überraschung mehr bietet. Es geht dabei gar nicht um die Aufführung des kleinen Sketches – obwohl natürlich sozusagen stück- und aufführungsgeschichtlich gefragt werden könnte, wie sich die Gags, das Timing, die Darstellung verändert, vielleicht verbessert haben, bis „Dinner For One“ dann durch die Aufzeichnung in TV-Urgestein gemeiselt wurde. Nein: Krajewski nimmt sich das Konzept des Butlers vor, bietet eine kurze Historie des Berufes – auch in Abgleich mit dem Berufsbild des Kammerdieners –, um dadurch in den Improvisationen innerhalb seiner routinierten Handlungen kleine Fluchten aus dem Alltag zu entdecken.

Kai van Eikels geht hinein in die Wirtschaft, in die Theorie der Produktivitätssteigerung im Postfordismus – im modernen Arbeitsleben also, wo sich, zumindest in der Theorie, für den Beschäftigten die Arbeit verbinden soll mit der Lust am Spiel, mit der Improvisation also, die produktiven Wert erzeugen soll: Durch eigenverantwortliches Trial and Error, durch kollektive Zusammenarbeit an Problemstellungen, zu denen möglichst viele möglichst kreative Lösungen erdenken sollen, um dann gemeinsam aus dem großen Pool der Ideen Details neu zu kombinieren, um etwas Neues, Größeres, Besseres zu erschaffen.

Theaterhistorisches, Literaturwissenschaftliches, Aufführungspraktisches, Philosophisches, Literarisches, Tanztheoretisches, Wirtschaftswissenschaftliches: Mit größter thematischer Bandbreite widmet sich das Buch seinem Thema. Und es ist zwar mit vielen akademischen Fremdvokabeln gespickt, es enthält auch keinen Anwendungsteil für die improvisatorische Betätigung (wie es der Untertitel „Kunst – Medien – Praxis“ suggerieren könnte), für die theoretische Beschäftigung aber ist der Band durchweg wertvoll – gerade weil er unvorhergesehene Einblicke ins weite Spektrum der Erzeugung von und der Arbeit mit Unvorhergesehenem bietet.


Harald Mühlbeyer

Filmverstehen

Mal was spannendes Wissenschaftliches zwischendurch:

Eine Untersuchung hat gezeigt, dass Filme-Schauen durchaus angspruchsvoll ist. Nein nein, nicht nur Kunstkacke, sondern auch Schundkram! Denn die internationale Studie erforschte das kognitive Verstehen, z.B. der Montage oder Subjektive.

Dass man nun auch empirisch belegen kann, wie weniger ein naturgebenes und -analoges Erfassenssehen, sondern vielmehr neben der künstlerischen Bedeutung bzw. Interpretation eine konventionsbegründete, zu erlernende Kommunkations- oder Erzählsprache des Kinos eine Rolle spielt, ist mindestens ebenso schön zu wissen, wie dass es in der Südtürkei Menschen gibt, die noch nie einen Film oder sowar gesehen haben.

Entsprechend andersherum und auf einer ganz anderen Ebene validiert sich die Studie selbst. Denn würde mir einer dieser südtürkischen audiovisuellen Analphabeten, von denen ich bislang auch noch keinen einzigen gesehen habe, mir was erzählen, würde ich ihn garantiert auch nicht verstehen. Wobei das erstmal empirisch zu prüfen wäre.



Hier die Meldung:


"Filmpremiere für die Augen

Neue Erkenntnisse über das Filmverstehen durch Studie mit völlig film-unvertrauten Erwachsenen

Eine deutsch-türkische Forschungsstudie zeigt, welche filmischen Stilmittel und Szenenabfolgen von erwachsenen Film-Neulingen verstanden werden – oder auch nicht.
Tübingen/ Istanbul 15.07.2010. Seit der ersten Projektion der Brüder Lumière vor über 100 Jahren hat sich das Genre ‚Film’ durch Kino, Fernsehen und Internet zu einem allgegenwärtigen Medium entwickelt und die moderne Gesellschaft nachhaltig geprägt. Während die psychologischen Wirkungen von Filmen in der Öffentlichkeit breit diskutiert werden, sind die psychologischen und kognitiven Voraussetzungen, um Handlungen und Geschichten der Filme verstehen zu können, hingegen bislang nur unzureichend geklärt. Doch ist das Medium Film durch seine Anschaulichkeit tatsächlich “selbst-verständlich”?

Die Beobachtung von erwachsenen Zuschauern aus abgelegenen Bergdörfern im Süden der Türkei – alle Personen hatten nie zuvor einen Film oder eine Videosequenz gesehen –, lieferte Forschern nun eine Antwort. In einer aktuellen Studie unter Beteiligung des Tübinger Leibniz-Instituts für Wissensmedien (Psychological Science, 21 (7), S. 1-7) bekamen die Teilnehmenden eine Reihe kurzer Filmclips zu sehen. Die Clips enthielten filmtypische Darstellungsmittel wie den Wechsel der Kameraperspektive während eines Gesprächs, eine Ereigniszusammenfassung mit einem Zeitsprung oder auch die Betrachtung eines Geschehens aus dem subjektiven Blickwinkel des Protagonisten.
Entgegen Berichten aus den Anfängen der öffentlichen Filmvorführung – die ersten Kinobesucher seien aus ihrem Sessel aufgesprungen, weil sie fürchteten, aus der Leinwand würde eine Eisenbahn auf sie zufahren –, fanden die Forscher um den Tübinger Medien- und Kognitionspsychologen Prof. Dr. Stephan Schwan keine Hinweise darauf, dass die Filme von den Zuschauern für „echt” gehalten und mit der Realität verwechselt wurden.

„Die Ergebnisse der Studie belegen vielmehr, dass für die Verständlichkeit der Filme weniger die Ähnlichkeit mit Bedingungen der natürlichen Wahrnehmung, als vielmehr das Vorhandensein einer vertrauten Handlung entscheidend ist“, so Schwan. Ohne einen Handlungsfaden (in den Beispielfilmen war dies z.B. die Zubereitung von Tee und Mahlzeiten oder der Bau eines Holzzauns) – hatten die Film-Neulinge große Schwierigkeiten, filmtypische Darstellungsmittel angemessen zu interpretieren. Eine Vergleichsgruppe Film-erfahrener Zuschauer zeigte hingegen keine Verständnisprobleme.
Nach Ansicht der Forscher entkräftet die Studie somit die populäre Annahme, dass Filmschauen der natürlichen Wahrnehmung so ähnlich sei, dass es ohne Vorkenntnisse stattfinden könne. Für Schwan, der die Studie mit seiner türkischen Kollegin, der Filmwissenschaftlerin Dr. Sermin Ildirar, von der Universität Istanbul im Rahmen einer zweijährigen Forschungskooperation gemeinsam durchgeführt hat, sind die Ergebnisse vielmehr ein Beleg dafür, dass bereits das Verstehen einfachster Filme auf höheren kognitiven Prozessen beruht. Diese wiederum wurzeln in vielfältigen kulturellen Voraussetzungen. So müssen dem Zuschauer typische Geschichten, Situationen und Handlungsabläufe einer Kultur ebenso vertraut sein wie filmische Darstellungskonventionen. „Die Situation in Ostanatolien war aus Forschungssicht ein seltener Glücksfall“, wertet Schwan. „Sie hat uns erstmalig empirischen Aufschluss darüber gegeben, dass man auch ‚Filme und Fern-sehen’ lernen muss.“

Kontakt & weitere Information:

Prof. Dr. Stephan Schwan
Institut für Wissensmedien, Konrad-Adenauer-Str. 40, 72072 Tübingen
Tel.: 07071/ 979-228, Fax: 07071/ 979-115, E-Mail: s.schwan(at)iwm-kmrc.de

Tanja Vogel, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,
Institut für Wissensmedien, Konrad-Adenauer-Str. 40, 72072 Tübingen
Tel.: 07071/ 979-261, Fax: 07071/ 979-100, E-Mail: t.vogel(at)iwm-kmrc.de

Dr. Sermin Ildirar
Istanbul University, Communication Faculty Beyazıd /Istanbul, 34452 Istanbul/Turkey
Tel.: +90 212 440 00 00/12710, Fax: +90 212 440 03 16, E-mail: sildirar(at(at)istanbul.edu.tr


Das Institut für Wissensmedien (IWM) in Tübingen erforscht das Lehren und Lernen mit digitalen Technologien. Rund 45 Wissenschaftler/-innen aus Kognitions-, Verhaltens- und Sozialwissen-schaften arbeiten interdisziplinär an Forschungsfragen zum individuellen und kooperativen Wissenserwerb in medialen Umgebungen. Seit 2009 unterhält das IWM gemeinsam mit der Universität Tübingen Deutschlands ersten WissenschaftsCampus zum Thema „Bildung in Informationsumwelten“. Für nähere Informationen besuchen Sie uns im Internet unter www.iwm-kmrc.de.

Das IWM ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, zu der 86 Forschungsinstitute von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Sozial- und Raumwissenschaften bis hin zu den Geisteswissenschaften gehören. Leibniz-Institute bearbeiten Fragestellungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung strategisch und themenorientiert. Näheres unter www.leibniz-gemeinschaft.de."

(Quelle: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit - Institut für Wissensmedien - Knowledge Media Research Center (IWM-KMRC))

FILMZ des Monats im Residenz-Kino, Mainz

Noch fünf Monate bis zum zehnten FILMZ - Festival des deutschen Kinos in Mainz: bis dahin laufen in der neuen Filmreihe FILMZ des Monats im Mainzer Residenz-Kino monatlich deutsche Filmklassiker aus fünf Jahrzehnten, von den 1950ern bis heute. Jede Vorstellung wird von einer filmwissenschaftlichen Einführung begleitet.

Den Anfang macht am Mittwoch, 21. Juli um 20 Uhr der berüchtigte "Die Sünderin" von Willi Forst mit der nackten Frau Knef.

Die weiteren Termine:

Mittwoch, 18. August: ROTE SONNE (R: Rudolf Thome, 1969)
Mittwoch, 15. September: DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (R: Heiner Carow, 1972/73)
Mittwoch, 13. Oktober: FITZCARRALDO (R: Werner Herzog, 1981/82)
Mittwoch, 03. November: ABSOLUTE GIGANTEN (R: Sebastian Schipper, 1998/99)
Mittwoch, 17. November: GEGEN DIE WAND (R: Fatih Akin, 2003/04)

Jetzt im Kino: "Moon" - Science Fiction, wie sie sein sollte

Auf dem exground-Festival 2009 hat Dennis Vetter den Science-Fiction-Film "Moon" von Duncan Jones gesehen, und war voll des Lobes:

"MOON will zurück zu den plausiblen, psychologisch bzw. existenzialistisch geprägten Bereichen des Science Fiction Kinos, die vor allem in den Siebzigern und Achtzigern mit Filmen wie BLADE RUNNER(1982) oder OUTLAND(1981) – und natürlich mit Perfektion in einigen Filmen Andrej Tarkovskys – erkundet wurden. Ein lobenswerter Ansatz, hier anzuknüpfen. Noch lobenswerter ist, dass White seinem Vorhaben auch gerecht werden konnte."

Den gesamten Text zu "Moon" finden Sie HIER.

Und den Film ab Donnerstag im Kino.

TOY STORY 3 (USA 2010)


Spiel's noch einmal

"Toy Story 3". USA 2010. Regie: Lee Unkrich
Kinostart: 29.7.2010

Gibt es ein Rezept für gute Fortsetzungen, für gute und erfolgreiche Fortsetzungen gar? Noch dazu, wenn der Urschlamm, auf dem man aufbaut, ein echter "game changer" von einem Film ist, der mehr oder weniger im Alleingang eine ganze Industrie auf den Kopf gestellt hat? Pixar hat es mit TOY STORY 2 einmal vorgemacht, und mit TOY STORY 3 machen sie es gerade ein weiteres Mal. Das Geheimnis: Beliebte Charaktere und Grundstil beibehalten, aber ansonsten eine wirklich neue Geschichte erzählen, die nicht nur höher-schneller-weiter geht als beim letzten Mal, sondern uns wirklich etwas Neues über unsere liebgewonnenen Freunde erfahren lässt.

Manchmal kann es dafür auch vonnöten sein, mal ordentlich in der Zeit zu springen. Wenn man nicht alternde Protagonisten hat, geht das umso besser: Die Welt dreht sich weiter (elf Jahre seit dem letzten Abenteuer), aber die Helden bleiben gleich, schon hat man ganz organisch den ersten Konflikt hergestellt, auf den man aufbauen kann. In TOY STORY 3 ist es Andy, ehemals so spielbegeisterter Eigentümer von Woody, Buzz, Jessie, Rex und Co, der quasi über Nacht erwachsen geworden scheint und kurz davor ist, aufs College zu gehen. Ausgemustert finden sich die Plastikfreunde in einem Kindergarten wieder, der sie zwar auf den ersten Blick wieder ihrem Lebenszweck zuführt - jemand spielt mit ihnen - sich auf den zweiten aber als ein albtraumhaftes Gefängnis entpuppt, in dessen schwarzweißer Welt der zweigesichtige Plüschbär Lotso und sein Gehilfe Ken ("Ich bin kein Mädchenspielzeug!") die Fäden in der Hand halten.

Was folgt ist, wie schon in den ersten beiden Teilen, eine emotionale Reise, clever gefiltert durch ein wohl kuratiertes Arsenal an Actionszenen, Gags und originellen Einfällen. In TOY STORY war es Buzz, der eine Identitätskrise durchmachte, in TOY STORY 2 folgte ihm Woody, diesmal ist es die ganze Gang, die sich im Grunde mit Beruf und Berufung in einer Welt auseinandersetzen muss, die sich unaufhaltsam weiterdreht. Die Tatsache, dass sich alles schlechter an einer einzelnen Figur festmachen lässt, gleicht der Film durch mehr Aktion aus, channelt unter anderem sehr effektiv diverse Heistfilme und Psychothriller für gewohnt genialen Popcornspaß, der eigentlich nur durch ein etwas schal wirkendes Bösewichtspsychogramm zeitweise getrübt wird. Zum Ausgleich gibt es beispielsweise ein alterndes Fisher-Price-Telefon als Fluchthelfer und - auch das sollte erwähnt sein - 3D-Inszenierung auf höchstem Niveau.

Als Sahnehäubchen drehen die Pixaristen zum Ende des Films den Spiegel in die Richtung des Teils des Publikums, das alt genug ist, um schon den ersten TOY STORY-Film (vor immerhin 15 Jahren!) im Kino gesehen zu haben. Denn letztendlich ist TOY STORY 3 nicht nur ein Film über die wahre Bestimmung von Spielzeug, sondern auch über das Kind in jedem von uns. Ein wenig Sentimentalität ist da schon erlaubt, vor allem wenn sie so makellos umgesetzt wurde.

Alexander Gajic

"Toy Story 3"
USA 2010. Regie: Lee Unkrich. Buch: Michael Arndt, nach einer Geschichte von John Lasseter, Andrew Stanton und Lee Unkrich. Musik: Randy Newman. Produktion: Darla K. Anderson, John Lasseter.
Sprecher: Tom Hanks (Woody, deutsch: Michael Herbig), Tim Allen (Buzz, deutsch: Walter von Hauff), Joan Cusack (Jessie), Rex (Wallace Shawn, deutsch: Rick Kavanian), Michael Keaton (Ken, deutsch: Christian Tramitz), Ned Beatty (Lotso)
Länge: 103 min.
Verleih: Walt Disney Pictures.
Kinostart: 29.7.2010

Unser Uwe


Autorenfilmer Dr. Uwe Boll tritt erneut im Mainzer Capitol und Palatin auf und hat natürlich auch zwei Schmuckstücke aus seiner Schatulle mitgebracht:

Hier die Meldung, an der wir gar nicht groß herumfeilen wollen:

"[D]er weltmeisterliche Prügelknabe der internationalen Filmkritik stattet uns wieder einen Besuch ab. Und da ihm sein letzter Auftritt bzw. das Filmgespräch mit Bernd Kiefer bei uns so richtig richtig gefallen hat, wird er uns diesmal gleich mit zwei Filmen beglücken, die am Freitag im CAPITOL und am Samstag im PALATIN gesehen werden können.

Am Freitag, 20.30, wird Uns Uwe sein Sudan-Drama "Darfur" präsentieren. Im Anschluß wird der allseits bekannte und geschätzte Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger zusammen mit dem Filmemacher ein Filmgespräch führen, an dem sich selbsverständlich auch die Zuschauer beteiligen können.

Am Samstag, 20.30, wird Uwe Boll dem Publikum seinen Amoklauf-Film "Rampage" zu Gemüte führen. Einführung und anschließendes Frage/Antwort - Spiel mit dem Regisseur inklusive.

Und Achtung: alle Filme sind strikt ab 18. Also nicht unbedingt die Eltern mitbringen."
(Eduard Zeiler)

Ein Kalauer mit Boll und Bollywood wollte uns jetzt partout nicht einfallen; dafür hier das Programm des Capitol und Palatin für die kommende Spielwoche:


CAPITOL&PALATIN - Filmprogramm 15. - 21.07.10

CAPITOL:

Moon
Do, Sa-Mi 18.30 und 20.30
Sa 22.30

Darfur (OV), Filmgespräch mit Marcus Stiglegger und Uwe Boll
Fr 20.30

PALATIN

Mahler auf der Couch
Do-Mi 18.00 und 20.00

Die Beschissenheit der Dinge
Fr und Sa 22.00

Rampage (OV), Einführung von Uwe Boll
Sa 20.30

La Nana
Do-Mi 18.15 und 20.15

Keep Surfing
Fr und Sa 22.15

Bedways
Do, So-Mi 18.45
Sa 18.30

My Name is Khan
Do, So-Mi 20.15

Moon
Fr 18.30 und 20.30 und 22.30

Das Lied von den zwei Pferden
Do-So 20.15
Mo-Mi 18.15

Gordos
Do-So 18.00
Fr und Sa 22.00
Mo-Mi 20.15--

UNTHINKABLE (USA 2010)

Bis zum bitteren Ende

Wie weit darf man im Umgang mit einem Terroristen gehen, um einen Massenmord zu verhindern? Fragt UNTHINKABLE, und wie dieses hochwertige, moralische Terrorismus-Thrillerdrama darauf antwortet, erklärt vielleicht auch, warum er nur auf DVD erschienen ist.

(Ein Text von unserer Partnerseite Terrorismus & Film)



Nicht unthinkable, also unvorstellbar ist es, dass dieser Film nicht in die Kinos kam, aber unglaublich oder zumindest unverständlich. In den USA ist er jetzt direkt auf DVD herausgekommen, und dass es in Deutschland genauso sein wird, ist wahrscheinlich. (Lediglich in den Niederlanden und in Russland steht eine Auswertung auf der großen Leinwand an.)

Dabei hat Regisseur Gregor Jordan (BUFFALO SOLDIERS, NED KELLY) mit Samuel L. Jackson, Carrie-Anne Moss und Michael Sheen (FROST/NIXON) bekannte Namen versammelt und einen Terrorismusszenario hingelegt, der das „24“-Publikum durchaus hätte locken können.

Freilich wundert es so sehr nun auch nicht. Produzent Caldecut Chubb hat in der Los Angeles Times erklärt, warum UNTHINKABLE „the hottest new movie that you have never heard of“ ist und dabei auf den Ausfall von Senator als Auslandsverleihpartner verwiesen. Doch daran dürfte es weniger liegen, dass man keinen Verleiher in den USA fand. Sondern eher daran, dass UNTHINKABLE allein schon vom Thema her höchst unbequem und übderies so verteufelt konsequent ist, dass er durchaus an Finchers SE7EN (SIEBEN; USA 1995) gemahnt, auch wenn er filmästhetisch nicht in dessen Liga spielt.

UNTHINKABLE dreht sich nämlich um die moralisch hochbrisante Frage, die auch in Deutschland angesichts des „Krieges gegen den Terrorismus“ (z.B. in der Diskussion, ob man entführte Passagierflugzeuge abschießen darf, um Schlimmeres zu verhindern) für grundlegende Kontroversen sorgt(e).



In UNTHINKABLE ist es ein zum Islam konvertierter US-Bürger, der zur Herausforderung für die innere Sicherheit im doppelten Sinne wird, indem er die zivilen Werte hinsichtlich der Legitimität von staatlicher Gewalt auf die Probe stellt. Dabei macht es einem UNTHINKABLE schon mit der Figur nicht einfach. Der Film beginnt mit dem alles andere als souveränen Terroristen Steven Arthur Younger (gespielt von einem zwischen Opfer und Täter, Märtyrer und verschlagenem Teufel nicht immer ausgewogen, aber stets packend changierende Briten Michael Sheen). Wir sehen die anfänglichen Outtakes seiner Videobotschaft; immer wieder bricht er ab, das Band startet neu; er bringt sich in Pose, ist nervös, findet nicht die rechten Worte. Zuletzt aber bekennt er sich zu seiner neuen muslimischen Identität, als Yussuf blickt entschlossen in die Kamera – und setzt die USA unter Druck.

Denn Younger hat in drei Großstädten des Landes Atombomben versteckt. Warum bleibt zunächst offen. Wie er das geschafft hat, wird Hollywood-überbordend erklärt (Armeeausbildung, russisches Spaltmaterial etc.), es spielt aber auch keine Rolle. Denn – so erfahren wir später – Young stellt sich freiwillig und wird nun in einer geheimen Militäranlage festgehalten.

Dort treffen nach zwanzig Minuten Filmzeit, die man für die Story getrost hätte weglassen können, die FBI-Agentin Helen Brody (Carrie-Ann Moss) mit ihrem Team ein sowie der mysteriöse „H“ (Samuel L. Jackson), seines Zeichens supergeheimer Black-Operations-Agent der Regierung und vor allem: ein Folterspezialist.



Die Rollen sind klar verteilt: Brody spielt das gute Gewissen, sie pocht auf die Einhaltung der Regeln, wenn auch gar nicht mal mehr die der Justiz, die ohnehin schnell drangegeben sind. Carrie-Ann Moss statte diese Rechtschaffene mit der richtigen Brüchigkeit aus, so dass der Figur möglichst wenig von einem Klischee-Bürgerrechtler anhaftet, auch, wenn der Film nicht ganz auf dieses Genre-Gutmenschentum verzichten kann und vor allem nicht will.

Denn, und das ist das Beeindruckende an UNTHINKABLE, hier geht es weniger um einen Arthouse-Film, der mit künstlerischer Eloquenz und ästhetischer Tiefgründigkeit ein ethisches Gedankenspiel für Freunde des ernsthaften Kinos, im Gegenteil. Solche Zuschauer sind eher im regelrechten Nachteil weil ungebildet: Das moralische Drama, verpackt im Thriller-Gewand funktioniert hier gerade, wenn man in den Standards des Genres mit seinen wohlfeilen Auflösungen und Figuren- bzw. Stereotypen-Ensemble zu Hause ist.



Samuel L. Jackson ist hierbei die brillante Besetzung; man kann von Glück reden, dass er und nicht, wie zunächst wohl angedacht, Forrest Whitaker den Folterknecht spielt. Jackson gibt den selbstbewussten unbeugsamen Kerl mit unverblümter, sarkastischer Schnauze wie man ihn (und manch anderen Darsteller) in diesem Unterhaltungsbereich, ob in DIE HARD: WITH A VENGEANCE oder SNAKES ON A PLANE, eben als super-coolen Heldentypus (als Gegenstück zu dem unglaubwürdig leidenden Jack Bauer aus „24“) kennengelernt und ins Problemlösungsinventar für harte Zeiten einsortiert hat. Entsprechend führt ihn der Film ein; auch als es richtig losgeht, geht Jacksons „H“ richtig los: Einem Laien-Folterer der Armee haut er aufs Auge, und als das Militär und ein ominöser Staatsbeamter das Okay für die Young/Yussuf-Drangsale geben, hackt er dem festgeschnallten Bombenbauer ohne viel Federlesen erstmal einen Finger ab.

Wenn nicht schon am Anfang verzweifelt man bald angesichts der Figur „H“: Das rohe Vorgehen in (der) Action(-Filmen) nimmt man gerne hin. Hier aber ist ein Mensch ihm hilflos ausgeliefert, und statt sich im Zweikampf oder dergleichen mit ihm zu messen, malträtieren er und sein Gehilfe grausig sachlich und mit furchtbarer Routine im Standard Operating Procedure den bleichen, weichen, so verletzlichen Körper.



Hier wird UNTHINKABLE wirklich ungemütlich. Die Folterszenarien, vor allem in der Unmittelbarkeit ihrer Darstellung, geraten nicht so extrem wie man es mittlerweile dank HOSTEL, SAW und Co. (wieder) gewohnt ist, aber nah genug kommt ihnen UNTHINKABLE mit den Methoden, die aufgefahren werden, um Young zu brechen: Skalpell, Elektroschocks, Bohrer.

Keiner, der noch ein bisschen bei Trost ist und ein Fünkchen Seele im Leib hat, wird von diesem Film unberührt bleiben. Und zwar nicht, weil es ihn ekeln sollte oder wenn er darum geht, eine eindeutige Antwort zu finden – also die Folter als unterhaltungs-„cool“, angemessen oder legitim zu finden oder aber auch sie, ins Reale übertragen, rundweg abzulehnen, sondern gerade, wenn es darum geht, sich an der Entscheidung Pro und Contra ein bisschen wund zu denken.

Andererseits ist das der Körper eines Terroristen, der zum Mittel der Qual, zum Objekt wird, um Millionen Menschenleben zu retten (die er, der Terrorist, wiederum zum Objekt zu machen bereit ist). Und die Figur des Young ist selbst ungewöhnlich ambivalent, keine visuelle Erscheinung des „Anderen“, Fremdländischen. Er ist selbst halb Märtyrer für seinen Glauben und dessen weltliche Ziele wie auch Büßer für ein – nicht ausformuliertes – Vergehen gegenüber seiner Familie. Der Film lässt in der Schwebe, was an und in diesem Erpresser aus Überzeugung Duldsamkeit und was Kalkül ist, wie viel Hass und wie viel Verzweiflung. In einer Szene freut sich „H“, dass Young gegenüber der gutherzigen Brody, die es mit Vernunft und Einfühlung versucht, in Tränen ausbricht. Doch schnell hat er sich gefangen. Kalt verkündet er, er sei nun bereit, seine Forderungen zu stellen.



Immer brüchiger werden die beiden Prinzipien, die hier „H“, dort Brody repräsentieren, und damit spiegelt sich das Thema und die moralische Reflexion über das richtige Handeln im Erzählen des Films selbst, der einen in seiner Entscheidung über die Bewertung alleine lässt und jede Konzeption von Gerechtigkeit verweigert. Brody liefert die einfachen Einstellungen und klugen Argumente, die man in den Filmen (so auch in THE SIEGE, USA 1998) schnell und gerne annimmt – und die UNTHINKABLE nun vielleicht zum ersten Mal, zumindest aber mit einer verblüffenden Beharrlichkeit hinterfragt, ihnen Widerstand bietet. Leicht fassungslos beobachtet Brody, wie „H“ mit seiner serbischen Frau eine Folterpause einlegt, auf der Wiese picknickt und mit seinen Kindern, die beide über alles lieben, via Skype spricht. Allein mit ihr stellt Brody „H“s Gattin zur Rede – doch die weiß von dem Beruf ihres Mannes und kontert mit den Grausamkeiten, die sie und ihre Familie auf dem Balkan erlebt hat. Auf diesen abgeschotteten Frieden in einer Welt der Grausamkeit hat die familien- und beziehungslose FBI-Agentin nicht entgegen zu setzen. Und irgendwann, im Zorn, greift auch sie zum Skalpell.

Andererseits ist UNTHINKABLE gerade nicht „24“, bei dem der Zeitdruck, mehr aber noch die Geschwindigkeit des Erzählens eines „Vor der Krise ist in der Krise ist nach der Krise“, den Zweck die Mittel heiligen, vor allem aber zum Erfolg führen lässt. Im Gegenteil: Brauchte Jack Bauer eilig die Information, langte es, damit zu drohen, mit dem Kugelschreiber das Auge auszustechen. In UNTHINKABLE aber wird das Bewegungsprinzip von „24“ auf unangenehme Weise gestoppt, über die erste Hürde kommt man nicht hinaus. Das Spannungserzählen, dem auch ein echter Deus ex machina nicht zugestanden wird, verlangsamt sich dadurch und fokussiert den Blick des Zuschauers auf Schattenseiten und Helden-Fragwürdigkeiten, die die Welt der Unterhaltung in ihrem Spiel mit der Gewalt (nicht nur der terroristischen Bedrohung und nicht nur ideologisch) ansonsten vorenthält, unterschlägt oder bequem und sicher vorverarbeitet.



Entsprechend reibt sich „H“, der schnodderige Folterer, am Ende immer mehr an seinem passiven Gegner auf, so wie Realität, Idealismus und Fiktionalität aneinander kaputt. Einige Twists sind unplausibel und sichtlich nur auf den Effekt angelegt; Youngs Forderung, zunächst als Geheimnis angelegt, entpuppt sich als nachgerade verblüffend banale dschihadistisches Agenda-Ziel. Doch auch das ist nur ein weitere, wenn auch kleine, Drehung an der moralischen Schraube: Nichts, so „H“ bitter-ironisch, was sich nicht im Grunde auch jeder Amerikaner wünscht. Zugleich aber wird nicht einmal bei dem ethischen Dilemma, das der Film durchexerziert, ernsthaft über das Nachgeben nachgedacht oder daran, auch nur so zu tun als ob, um Young hinters Licht zu führen. Schließlich ist auch nicht (mehr) einsichtig, warum das letzte Mittel, mit dem Young zum Sprechen gebracht werden soll, so gänzlich „unthinkable“ ist, wie es denn auch die bislang der harten Linie so bereitwillig gefolgten Wächter der USA plötzlich suggerieren - bereits zuvor hat der Film kurz, problem- und folgenlos eine / die Grenze überschritten, der Klimaxsteigerung der Dramaturgie zuliebe.

Doch das alles verzeiht man UNTHINKABLE bereitwillig, weil er vorführt, wie man abstrakte Fragen der Moral im Unterhaltungsformat spannend stellen kann und dafür gerade die Personalisierung und Emotionalisierung geeignete, sogar notwendige Mittel sind. Nicht zuletzt, weil Moral und Ethik, ihre Regeln und Entscheidungen schlicht nicht ohne den Einzelnen, den Menschen und seine Gefühle zu denken sind. In der Wirklichkeit mehr noch als im Spielfilm.



In diesem Sinne dekonstruiert UNTHINKABLE das Genre des US-amerikanischen Terroristenthrillers nicht nur, er zerstört es mit seinen eigenen Mitteln. Er wagt es, die so richtige, bittere wie kostbare weil fundamentale Frage zu stellen, eine Frage, die leichtfertig verkürzt und billig beantwortet in unterhaltenden Filmfiktionen allgemein das Entscheidungshandeln dominiert(e) und in der Realität wiederum mit dem Verweis auf Notwendigkeiten viel zu oft zu eilfertig – gerade im Sinn der Logik, gegen die man eigentlich antritt – abgetan wird.

Am Ende geht es in UNTHINKABLE nämlich nicht darum, ob das Leben und die Würde von Wenigen (auch Unschuldigen) das Leben von Millionen anderer Menschen wert ist oder ob diese Entscheidung noch menschlich sei – sondern ob Menschlichkeit selbst nicht vielleicht Millionen Menschenleben wert ist.

Dass und wie UNTHINKABLE dies beantwortet, ohne sich um die Konsequenzen zu drücken ehrt ihn und macht ihn vielleicht und zumindest für das etablierte Hollywood-Kino doch ein bisschen „undenkbar“.



UNTHINKABLE ist in den USA auf DVD und Blu-Ray erschienen

R: Gregor Jordan, B: Peter Woodward
D: Samuel L. Jackson, Carrie-Anne Moss, Michael Sheen, Stephen Root, Lora Kojovic
Format: Dolby, NTSC
Sprache: Englisch (Untertitel: Englisch)
Bildverhältnis: 1.85:1
US-Jugendbewertung: R (Restricted)
Studio: Sony Pictures
Laufzeit: 97 Min.


Bernd Zywietz

Drehbuchtheorien im Vergleich


Dennis Eick: Drehbuchtheorien. Eine vergleichende Analyse. Konstanz: UVK, 2006. 370 Seiten, 34,- €

von Bernd Zywietz

Er ist schon ein Teufelskerl, der Herr Eick. Mit gnadenlos prägnanter Sprache hat er eine bitternötige Einführung zu Exposees und Treatments vorgelegt. Der RTL-Redakteur und Script-Dozent beweist dabei, dass es auch ohne Geschwurbel geht – kurz, zack, hopp. Hier ist es nicht viel anders. Doch mit „Drehbuchtheorien“ zeigt er auch, dass er mehr ist als ein Pragmatiker, der weiß, wie’s geht.

Drehbuchliteratur gibt es mehr als genug. Eick macht da das einzig Vernünftige: Er zieht einen Strich und legt eine „vergleichende Analyse“ vor. Eine Metabetrachtung, vielleicht nicht das letzte Wort zum Schreiben übers Drehbuchschreiben. Aber mehr als ein abgenagter Kadaver bleibt nicht übrig.

In unheimlicher Detailfülle (deren ausufernde Endnoten einem das Lesevergnügen arg verleiden) gibt Eick zunächst eine Einführung in die Welt des Scripts, in Funktionalität und historische wie nationale Unterschiede, wobei er auch schon mal auf 8 Seiten alles zur Autoren-Theorie sagt, was ein normaler Mensch wissen muss. Kern der „Drehbuchtheorien“ ist der Vergleich der Lehren von E. Vale, S. Field, von Vogler, McKee und Co., denen er auch extra zwei Deutsche (Oliver Schütte u. C.P. Hant) beistellt. Wer was wie empfiehlt: über die einzelnen Elemente und Aspekte wie den Aufbau (Wende- und Höhepunkte, Szene), über Figuren und Konflikte oder dramaturgische Elemente und Techniken (z.B. Spannung und Suspense) – Eick bringt es ans Licht.

Das mag alles trefflich erforscht und von wissenschaftlichem Nutzen sein. Still und heimlich ist es aber auch ein Lehrbuch, das schlichtweg all die anderen mit einfasst. Soviel wichtige Bücher in einem gab es selten.

Wenn Eick auch noch die gesamte Geschichte des Drehbuchs und seines Schreibens bietet, den Markt begutachtet, auf die Genres eingeht und dann noch eine Umfrage zur Rezeption der Literatur aus dem Hut zaubert, dann ist das #immer noch nicht# genug. Herr Eick muss auch noch diverse Interviews mit den Autoren vorlegen, mit der UCLA, HFF Potsdam, der Kölner IFS und dem VDD.

Vieles könnte man noch erwähnen. Uns bleibt aber angesichts dieses Zauberwerks aus Pragmatik, Fleiß und Schärfe nur das Staunen.

Das Buch können Sie HIER einfach und bequem in unserem Screenshot-Shop bestellen.


(Diese Kritik erschien in Screenshot – Texte zum Film, Nr. 27 / 2006)

Zur Japan-Woche des CinéMayence und Residenz&Prinzess Filmtheater



„Ob Japan in einer Stadt in der Größe von Mainz genügend Menschen interessiert war nicht klar und ein Risiko“, so Reinhard W. Wolf vom CinéMayence. Doch trotz Biergartenwetter und Fußball-WM hat es sich gelohnt, das „Experiment“: Zusammen mit dem Residenz&Prinzess Filmtheater veranstaltete das CinéMayence vom 17. bis zum 23. Juni 2010 die erste Japan-Woche in Mainz, auf der Filme, Kunst, Musik und Literatur aus und über Japan geboten wurde. Dabei hatten die beteiligten Filmtheater ihre Programme selbständig und unabhängig von einander gestaltet. Ohne Beteiligung von Agenturen oder Institutionen wurden die Künstler direkt und persönlich von Yumi Machiguchi kontaktiert.



Die Veranstaltung zog nicht nur Deutsche an. Hier lebende Japaner kamen und beteiligten sich, so Wolf, lebhaft an Diskussionen. Kulturelles Nebeneinander gab es auch auf der Leinwand zu sehen: Beim abschließenden Deutsch-japanischen Kurzfilmabend zum Thema „Grenzen“ waren mit Sebastian Linkes PILÚ und Michael Schwarz‘ KÖNIG DER STATISTEN auch ganz heimische Produktionen zu sehen. KÖNIG DER STATISTEN gewann denn auch den zweiten Preis des Publikumswettbewerbs, der erste ging an Mario Hirasakis Regisseurs-Porträt KIYOSHI KUROSAWA.



Menschen aus der Region konnten so durch die Japan-Woche so für die japanische (Kino-) Kunst interessiert werden wie auch Deutschland überhaupt: Aus dem ganzen Land gab es Anfragen nach den Filmen im Programm. Doch der kulturelle Brückenschlag führte auch darüber hinaus in die andere Richtung: Ein Teil der deutschen Filme wird voraussichtlich im September in Japan gezeigt.

(zyw)

14. Juli: "Brazil" in Wiesbaden mit sachkundiger Einführung

Am Mittwoch, den 14. Juli, läuft um 20 Uhr im Wiesbadener Murnau-Kino (gegenüber Schlachthof-Kulturzentrum) Terry Gilliams satirisch-erschreckender Klassiker "Brazil" - ein Film, der unbedingt auf der großen Leinwand gesehen werden sollte.

Screenshot-Redakteur und Gilliam-Experte wird dazu eine Einführung halten und sein Buch "Perception is a Strange Thing". Die Filme von Terry Gilliam vorstellen. Zudem werden unter allen Anwesenden Bücher und Zeitschriften-Abos des Schüren-Verlags verlost.

"Sicherlich wird es bei meinem Vortrag um "Brazil" und um Terry Gilliam gehen", verrät Mühlbeyer im exklusiven Gespräch mit der Screenshot-Onlineredaktion, und fährt mit verschmitztem Augenzwinkern fort: "Aber vor allem werde ich dem Publikum mit allen Mitteln klarmachen, wie armselig und erbärmlich das Leben ist, wenn man mein Buch nicht gelesen hat."

14. Juli: Filmischer Modellversuch der Filmwissenschaft

Präsentation des Filmischen Modellversuchs 2010

Am Mittwoch, dem 14. Juli 2010, werden im Mainzer Medienhaus (Wallstraße 11) vier abwechslungsreiche Kurzfilme gezeigt, die im Rahmen des diesjährigen Filmischen Modellversuchs der Filmwissenschaft entstanden sind.

Die erste Vorführung der vier Filme startet um 19.15 Uhr. Im Anschluss besteht die Möglichkeit, bei kühlen Getränken Fragen zu stellen und zu diskutieren.

Da vor allem zur ersten Vorführung Freunde und Verwandte der FiMo-Teilnehmer da sein werden und nur eine begrenzte Anzahl an Sitzplätzen zur Verfügung steht, bittet der Veranstalter, die späteren Vorführungen um 20.15 Uhr und um 21.15 Uhr zu besuchen.

Der Eintritt ist frei!

Gerade im Kino: " The Doors - When You're Strange"

Auf der Berlinale 2009 hat Redakteur Harald Mühlbeyer Tom DiCillos großartig zusammengestellte Geschichte der Doors gesehen - jetzt läuft der Film in den deutschen Kinos, und Sie sind ja wohl dabei, oder?

Hier ein Ausschnitt aus Mühlbeyers Berlinale-Bericht:


Tom DiCillos Dokumentarfilm über die Doors ist ganz aus zeitgenössischem Film-, Foto- und Audiomaterial zusammengestellt – plus des ordnenden Voice-Over-Kommentars von DiCillo selbst (der freilich demnächst durch eine von Johnny Depp gesprochene Version ersetzt werden soll). In seltenen, bisweilen obskuren, meist ganz fantastischen und ungesehenen Filmclips von Privat-, Konzert- und Backstageaufnahmen verfolgt er die Geschichte einer der einflussreichsten, populärsten und besten Bands überhaupt. Bis zum Tod von Jim Morrison 1971. Gerahmt wird sein Film durch Ausschnitte aus Morrisons 50minütigem Film HWY – AN AMERICAN PASTORAL von 1969.

Tom DiCillo erklärte vor der Vorführung, sein Film werde die Doors-Fans im Publikum vielleicht etwas vor den Kopf stoßen, weil er den Mythos um die Band und ihren charismatischen und im genau richtigen Alter von 27 Jahren verstorbenen Frontman aufbreche. Was WHEN YOU’RE STRANGE freilich nicht leistet. Das meiste, was darin vorkommt, war schon zuvor in fiktionalisierter Form in Oliver Stones DOORS-Film zu sehen, der mit den Mitteln der Hyperstilisierung, der semiotischen Hypertrophie ziemlich genau hineinstößt in die Aura, die die Doors um sich selbst herum gebildet haben. Tote Tiere auf dem Highway: ein Motiv, das mitten in der Schnittmenge von Morrison-Mythos und Stone-Stil liegt.

Vom Stone-Film allerdings will DiCillo nur drei Minuten gesehen haben, länger habe er es nicht ausgehalten. Und irgendwie hielt er auch im Q&A nach der Filmvorführung einige Fragen nicht aus. Auf die Frage aus dem Publikum, wie der Film nun weiter vertrieben werde, antwortete er sehr schnippisch, gar höhnisch, dass dies ja wohl kaum die einzige Vorführung sein werde. Empfindlich reagierte er auch auf den Hinweis, dass die offizielle Bandgeschichte ja eigentlich nicht mit dem Tod Morrisons geendet habe; die verbliebenen Bandmitglieder Manzarek, Krieger und Densmore haben schließlich als The Doors noch zwei weitere Alben herausgebracht: „Other Voices“ (1971) und „Full Circle“ (1972). Was ja, wenn es um die Demythologisierung der Doors geht, auch eine Erwähnung wert gewesen wäre.

DiCillo jedenfalls findet es eine ausreichende Aushöhlung der von ihm behaupteten allfälligen Doors-Vergötterung, wenn in seiner Doku deutlich gesagt wird, dass „Light My Fire“ aus der Feder von Robby Krieger stammt und nicht von Morrison (was halt inzwischen doch ein weithin bekannter Fakt ist; hätte er doch Oliver Stone etwas länger zugesehen!), und wenn er das Audiomaterial des legendären Miami-Konzerts von 1969 (bei dem sich Morrison angeblich entblößt haben soll) benutzt. Da hat einer inmitten des Chaos’ auf der Bühne dem offenbar betrunkenen Morrison ein Lamm in die Arme gelegt, was der sogleich kommentierte: „I’d fuck her, but she’s to young.“ Was allerdings eigentlich nur beweist, dass Morrison exzessiv war und einem verdrehten Sinn für Humor hatte (siehe auch das „Hitler Poem“, das offiziell veröffentlicht wurde). Und damit eben gerade wiederum den Morrison-Mythos zwischen Heiligem und Hurenbock zementiert.

Das alles freilich ist eher die Fehlinterpretation des Regisseurs über seinen eigenen Film, vielleicht auch eine PR-Masche. Abgesehen davon – denn zum Glück wird ja Tom DiCillo nicht bei allen künftigen Filmvorführungen anwesend sein – hat WHEN YOU’RE STRANGE seinen ganz eigenen Wert, der ihm nicht genommen werden kann.


Und weil der Film so gut ist, wollen wir auch den Kinowelt-Verleih beim Marketing unterstützen: Wer den Film in seiner Stadt sehen möchte, kann das auf der "When You're Strange"-Facebook-Seite einfordern; und wenn's genug Unterstützung im Social Network ist, findet eine Kopie auch den Weg dahin; vielleicht; hoffentlich.

Festival des deutschen Films, Ludwigshafen – Preisträger

Mittlerweile ist es schon weite Vergangenheit, das Ludwigshafener Festival des deutschen Films - 39 Filme auf dem Filmfest München liegen dazwischen... Dennoch seien die Preisträger von Ludwigshafen noch nachgereicht:

Die Jury, bestehend aus Helma Sanders-Brahms (Regisseurin), Roman Paul (Produzent) und Wolfram Schütte (Filmkritiker), vergab den mit 50.000 Euro dotierten Filmkunstpreis an Angela Schanelecs "Orly".

Begründung der Jury: „An einem zentralen Ort des modernen Lebens, einem Großflughafen, entdeckt Angela Schanelec liebende Paare, die einem verfehlten Leben nachdenken oder einem ersehnten Leben entgegenträumen. Mit überraschender Leichtigkeit, menschlicher Wärme und sanfter Ironie liest ihr Film der Anonymität des Transit- und Warteraums „Orly“ zarte und bewegende Lebensgeschichten ab. Es sind poetische Momente des individuellen Innehaltens in einer davon unberührten dokumentarisch erfassten Welt der flüchtigen Bewegungen.”

Die beiden undotierten Filmkunstpreise für originellste Darstellungsform und originellstes Thema gingen an "Shahada" von Burhan Qurbani.

Begründung der Jury: „Burhan Qurbanis „Shahada“ überzeugte die Jury durch die Ernsthaftigkeit und Intensität, mit der sich der Film seinem vielfältig aufgeblätterten Konflikten stellt: der herz- und leibzerreißenden Spannung zwischen Eros und Religion, Glück und Angst im metropolitanen Islam. Im nachtdunklen winterlichen Berlin hat Burhan Qurbani sein Kaleidoskop der Leiden und Schmerzen unter Berliner Muslimen als Passion in fünf Teilen formuliert, deren einzelne Stationen sich am Glaubensbekenntnis des Islam orientieren.“

Der ebenfalls undotierte Filmkunstpreis für besondere Einzelleistung ging an den Schauspieler Robert Gwisdek in "Renn, wenn du kannst" von Dietrich Brüggemann.

Begründung der Jury: „Robert Gwisdek spielt die facettenreiche Rolle des querschnittsgelähmten Benjamin mit der „kalten Flamme“ eines Darsteller-Artisten. Seine alle Charakterbereiche durchmessende Leidenschaft, Mensch zu sein, ohne je sentimental zu werden, erwärmt uns als seine Zuschauer.“

Der Publikumspreis ging ex aequo an "Renn, wenn Du kannst" und an "Kinshasa Symphony" von Claus Wischmann und Martin Baer.

Filmfest München 2010 – Kiarostami vs. Rivette

Da wir's gerade von prätentiösem Kunstkino hatten, sollten wir auch über den zweiten CineMerit-Preisträger sprechen, Abbas Kiarostami, dem auf dem Filmfest eine kleine Hommage gewidmet ist. Was Kiarostami angeht, bin ich von jedem Vorwissen unbelastet; von seinen Filmen habe ich nur seinen neuesten "Copie Conforme" gesehen; es wird wohl auf längere Zeit auch der letzte sein.

"Copie Conforme" ist der erste in seinem Oeuvre, den Kiarostami außerhalb seiner iranischen Heimat gedreht hat, und das merkt man: hier atmet er sehr frei auf, ergeht sich mit sichtlicher Freude in der (hauptsächlich) französischen Tradition des kunstvollen Dialogfilms (was ja an sich nichts Schlechtes sein muss). In drei Sprachen, französisch, englisch und italienisch, unterhalten sich Juliette Binoche und William Shimell: sie spielt Elle, er spielt den Autoren James Miller, und der Beginn des Films ist durchaus vielversprechend.

In einem Ort in der Toscana hält Miller eine Lesung aus seinem neuesten Buch "Copie Conforme", es geht um Original und Kopie und den Wert, den wir jeweils zumessen. Elle kommt dazu mit ihrem gelangweilten halbwüchsigen Sohn, sie ist unkonzentriert, geht wieder, im nächsten Gespräch in einem Café gibt es Andeutungen des vorwitzig-altklugen Sohnes, dass sie Miller kennt, in der nächsten Szene aber begegnen sie sich scheinbar zum ersten Mal, sie will ihn auf einen Ausflug zu toscanischen Kunstschätzen mitnehmen, ein langer, schön mäandernder Dialog über Kunst und Leben, Echtheit und Einfachheit, Glück und Liebe während der Autofahrt. Und dann kommt eben doch viel zu früh raus: ja, sie kennen sich. Sind miteinander verheiratet. Es ist ihr Hochzeitstag. Und er ist für die Familie nie da.

Das ist natürlich viel zu früh in den Film hinein, den Figuren wird ganz ohne Not ihr Geheimnis genommen, was zuvor indirekt war, von poetischem Mysterium umgeben, was auch die Grundfrage von Original und Kopie spiegelt, wird jetzt plötzlich direkt ausgesprochen und ist damit für den Film verloren: Es geht nicht mehr darum, dass beide nur noch in einem vorgespiegelten, falschen Leben miteinander reden können, sondern es werden einfach die restliche Zeit über Szenen ihrer Ehe gezeigt, in denen sie sich meistens streiten und in denen der Mann sich als Arsch entpuppt - womit sich beim Zuschauer (nicht im Film) die Frage stellt, was sie eigentlich an ihm findet.

Immerhin hatte ganz offensichtlich Kiarostami seinen Spaß: der Film ist sozusagen seine Art eines Urlaubsvideos, und sein eigentlicher Wert ist wohl vor allem im Vorführen touristischer Reisehöhepunkte der Toscana, die Kiarostami hier mit der Kamera entdeckt und freudvoll wiedergibt - was aber dem Film auch nichts hinzufügen kann, ihn vielmehr noch weiter reduziert auf den hohlen Schein schöner Bilder.

Wie es besser geht, zeigt Jacques Rivette, der Nouvelle-Vague-Altmeister, in "36 Vues due Pic Saint Loup". Eine Zirkusgeschichte, gedreht rund um den Gipfel des südfranzösischen Berges Saint Loup, ganz einfach deshalb, weil Rivette mal aufgefallen ist, dass der Gipfel von jedem Blickwinkel aus anders aussieht - eine Anspielung auf Hokusais Bilderzyklus "36 Ansichten des Berges Fuji", dem japanischen Vulkan, der von allen Seiten gleich aussieht. Tatsächlich sei, so erklärte Pascal Bonitzer, seit 1982 Drehbuchautor für Rivette, der Plot des Films so beliebig, dass die ebenfalls langjährige Co-Autorin Christine Laurent vor den Dreharbeiten ausgestiegen sei; er hat dann alleine die Dialoge des Films verfasst, während des Drehs, abgestimmt auf die Szenen, Situationen und Schauspieler.

Aber wie wurde dieses Nichts an Handlung lustig umgesetzt! Am Anfang sehen wir Kate (Jane Birkin) bei einer Autopanne, ein flottes Angebercabrio braust vorbei, kehrt dann doch um, der Fahrer betrachtet wortlos den Motor, steckt zwei Drähte zusammen, es läuft wieder, er braust weiter. Stumm. Ohne mimischen Ausdruck. Und deshalb sehr witzig.

Er ist der Italiener Vittorio (Sergio Castellitto), trifft im nächsten Ort Kate wieder, interessiert sich für sie, geht deshalb in den Zirkus, bei dem sie arbeitet. Und gerät hinein in die Welt dieses kleinen, recht erbärmlichen Wanderzirkus, der mit ein paar Clowns und ein paar Artisten um den Saint Loup zieht, gerät auch hinein in die Geschichte von Kate, die das dramaturgische Gerüst des Films bietet: sie ist erst kurz zuvor zurückgekehrt, war vom inzwischen verstorbenen Vater verbannt worden nach einer Liebesaffäre mit einem Artisten, der dann tödlich verunglückt ist, 15 Jahre vorher.

Vittorio ist sowas wie der pale rider, der den Zirkus auf der Durchreise rettet, insbesondere der Clownsakt von Alexandre fasziniert ihn: er ist der einzige, der bei dieser Nummer lacht, eine Nummer, die viele kaputte Teller beinhaltet und im Film nie ganz gezeigt wird. Das besondere: Der Zuschauer lacht mit. Warum lachst du, fragt Alexandre Vittorio, und der weiß es nicht. Ich habe die Theorie: Er lacht, weil das, was lustig sein soll, nicht lustig ist, nur lustig scheint. Ähnlich geht es dem Zuschauer: die an sich tragische Geschichte ist so leicht, so charmant erzählt, dass sie witzig ist, ohne auf Witz aus zu sein.

Aber das Timing stimmt, besonders von Castellitto, der immer zum richtigen Zeitpunkt sich irgendwohin bewegt, etwas sagt, aus seinem ganzen Gesicht subtile ironische Funken sprüht - wobei den anderen Schauspielern ihre Leistung zum Film nicht abgesprochen werden soll. Und Rivette erzählt das ganze überhaupt nicht ernst, inszeniert vielmehr nach Art eines Theaterstücks, lässt bewusst auf- und abtreten, spielt mit der Szenenbeleuchtung, weist seinen Figuren sichtbar bestimmte Funktionen zu und lässt sie sie in seinem künstlichen Regierahmen ausführen - und zwar ganz spielerisch. Und lässt seinen Film nach 80 Minuten in einem (von den Figuren kommentierten) Happy End enden - halb so lange wie der übliche Rivette-Durchschnitt.


Harald Mühlbeyer

Filmfest München 2010 – Kann auch schlecht sein

Das Münchner Filmfest ist das schönste Filmfestival, das man sich vorstellen kann. Das Wetter ist großartig - und so heiß, dass man sich auf den klimatisierten Kinosaal freut. Die Filmauswahl ist super - die thematischen Reihen von Deutsch über US und Asien bis zu International sind nicht hierarchisch, qualitativ geordnet wie auf der Berlinale, wo der Wettbewerb eben doch alles überstrahlt und oft genug genau deshalb enttäuscht, nein: hier sind die Filme gleichberechtigt, und für jeden ist etwas dabei. Die Filme werden dabei oft genug wiederholt, dass man in den acht Tagen, wenn mans richtig einteilt, auch (fast) alles sehen kann, was man sehen will. Und man hat noch Zeit, die Übertragungen der Deutschland-Spiele der WM zu sehen.

Aber auch das Filmfest kann danebengreifen. Zwangsweise lief "Valhalla Rising" von Nicolas Winding Refn - zwangsweise, weil der diesjährige CineMerit-Award an Mads Mikkelsen vergeben wird, und da muss man eben den aktuellen Film zeigen. Das ist ein Wikingerfilm: Mikkelsen spielt Einauge, der als eine Art Gladiator erst seine Gegner totschlägt, dann seine Unterdrücker, sich dann einer Horde fanatischer Christen anschließt, die viele Heiden totgeschlagen haben, Gott zum Gefallen. Sie wollen auf Kreuzzug ins Heilige Land fahren, im Nebel treibt es sie nach Amerika, wo die Pfeile der Indianer sie niederstrecken, wenn sie sich nicht gerade totschlagen.

Wobei der Eindruck falsch wäre, dass in diesem Film eine Menge Totschlag-Action stattfände. Klar: Splattermomente gibt es; dazwischen aber sieht man immer nur wilde Männer mit langen Bärten, die in den Himmel starren, oder aufeinander. Einauge hat auch in tiefes Rot gefärbte Visionen. Ach ja: und er ist stumm, was wahrscheinlich dem Umstand geschuldet ist, dass Mikkelsen nicht gut englisch spricht, wie er vor der Aufführung freimütig zugab. (Naja, das war natürlich kokettiert. Am Tag darauf, beim Publikumsgespräch, erwies er sich als witzig, eloquent und redselig.)

Irgendwo will der Film wohl Mystik verbreiten, irgendwas Innerliches, vielleicht sogar einen Zusammenprall von Alt und Neu - Heidnisches und Christliches, Europa und Amerika. Aber das wäre schon viel zu viel interpretiert. "Valhalla Rising" ist sozusagen auf links gewendetes prätentiöses Kunstkino, in dem nichts passiert, wo nichts vorkommt außer sinnlosen Einstellungen von unerträglicher Länge auf beispielsweise einen Grashalm oder so; was dann irgendwas bedeuten soll, es aber nicht tut. "Valhalla Rising" nun will in der Form eines meditativ-archaischen Historien-Action-Spektakels das Innenleben von Wikingern zeigen, die getrieben sind von Rache, Gier, Fanatismus usw., aber das ist so forciert und gewollt, dass es unglaublich langweilig ist. Nein: nicht mal Trash-lustig, leider.

Wie gesagt, der Film musste sein, wegen Mikkelsen und seinem Preis. Wär's nicht dieser Film gewesen, hätte Festivalchef Andreas Ströhl ausweichen müssen: dann wäre wohl "Kampf der Titanen" drangewesen. Auch keine viel bessere Alternative.