Filmfest München 2010 – Kiarostami vs. Rivette
Da wir's gerade von prätentiösem Kunstkino hatten, sollten wir auch über den zweiten CineMerit-Preisträger sprechen, Abbas Kiarostami, dem auf dem Filmfest eine kleine Hommage gewidmet ist. Was Kiarostami angeht, bin ich von jedem Vorwissen unbelastet; von seinen Filmen habe ich nur seinen neuesten "Copie Conforme" gesehen; es wird wohl auf längere Zeit auch der letzte sein.
"Copie Conforme" ist der erste in seinem Oeuvre, den Kiarostami außerhalb seiner iranischen Heimat gedreht hat, und das merkt man: hier atmet er sehr frei auf, ergeht sich mit sichtlicher Freude in der (hauptsächlich) französischen Tradition des kunstvollen Dialogfilms (was ja an sich nichts Schlechtes sein muss). In drei Sprachen, französisch, englisch und italienisch, unterhalten sich Juliette Binoche und William Shimell: sie spielt Elle, er spielt den Autoren James Miller, und der Beginn des Films ist durchaus vielversprechend.
In einem Ort in der Toscana hält Miller eine Lesung aus seinem neuesten Buch "Copie Conforme", es geht um Original und Kopie und den Wert, den wir jeweils zumessen. Elle kommt dazu mit ihrem gelangweilten halbwüchsigen Sohn, sie ist unkonzentriert, geht wieder, im nächsten Gespräch in einem Café gibt es Andeutungen des vorwitzig-altklugen Sohnes, dass sie Miller kennt, in der nächsten Szene aber begegnen sie sich scheinbar zum ersten Mal, sie will ihn auf einen Ausflug zu toscanischen Kunstschätzen mitnehmen, ein langer, schön mäandernder Dialog über Kunst und Leben, Echtheit und Einfachheit, Glück und Liebe während der Autofahrt. Und dann kommt eben doch viel zu früh raus: ja, sie kennen sich. Sind miteinander verheiratet. Es ist ihr Hochzeitstag. Und er ist für die Familie nie da.
Das ist natürlich viel zu früh in den Film hinein, den Figuren wird ganz ohne Not ihr Geheimnis genommen, was zuvor indirekt war, von poetischem Mysterium umgeben, was auch die Grundfrage von Original und Kopie spiegelt, wird jetzt plötzlich direkt ausgesprochen und ist damit für den Film verloren: Es geht nicht mehr darum, dass beide nur noch in einem vorgespiegelten, falschen Leben miteinander reden können, sondern es werden einfach die restliche Zeit über Szenen ihrer Ehe gezeigt, in denen sie sich meistens streiten und in denen der Mann sich als Arsch entpuppt - womit sich beim Zuschauer (nicht im Film) die Frage stellt, was sie eigentlich an ihm findet.
Immerhin hatte ganz offensichtlich Kiarostami seinen Spaß: der Film ist sozusagen seine Art eines Urlaubsvideos, und sein eigentlicher Wert ist wohl vor allem im Vorführen touristischer Reisehöhepunkte der Toscana, die Kiarostami hier mit der Kamera entdeckt und freudvoll wiedergibt - was aber dem Film auch nichts hinzufügen kann, ihn vielmehr noch weiter reduziert auf den hohlen Schein schöner Bilder.
Wie es besser geht, zeigt Jacques Rivette, der Nouvelle-Vague-Altmeister, in "36 Vues due Pic Saint Loup". Eine Zirkusgeschichte, gedreht rund um den Gipfel des südfranzösischen Berges Saint Loup, ganz einfach deshalb, weil Rivette mal aufgefallen ist, dass der Gipfel von jedem Blickwinkel aus anders aussieht - eine Anspielung auf Hokusais Bilderzyklus "36 Ansichten des Berges Fuji", dem japanischen Vulkan, der von allen Seiten gleich aussieht. Tatsächlich sei, so erklärte Pascal Bonitzer, seit 1982 Drehbuchautor für Rivette, der Plot des Films so beliebig, dass die ebenfalls langjährige Co-Autorin Christine Laurent vor den Dreharbeiten ausgestiegen sei; er hat dann alleine die Dialoge des Films verfasst, während des Drehs, abgestimmt auf die Szenen, Situationen und Schauspieler.
Aber wie wurde dieses Nichts an Handlung lustig umgesetzt! Am Anfang sehen wir Kate (Jane Birkin) bei einer Autopanne, ein flottes Angebercabrio braust vorbei, kehrt dann doch um, der Fahrer betrachtet wortlos den Motor, steckt zwei Drähte zusammen, es läuft wieder, er braust weiter. Stumm. Ohne mimischen Ausdruck. Und deshalb sehr witzig.
Er ist der Italiener Vittorio (Sergio Castellitto), trifft im nächsten Ort Kate wieder, interessiert sich für sie, geht deshalb in den Zirkus, bei dem sie arbeitet. Und gerät hinein in die Welt dieses kleinen, recht erbärmlichen Wanderzirkus, der mit ein paar Clowns und ein paar Artisten um den Saint Loup zieht, gerät auch hinein in die Geschichte von Kate, die das dramaturgische Gerüst des Films bietet: sie ist erst kurz zuvor zurückgekehrt, war vom inzwischen verstorbenen Vater verbannt worden nach einer Liebesaffäre mit einem Artisten, der dann tödlich verunglückt ist, 15 Jahre vorher.
Vittorio ist sowas wie der pale rider, der den Zirkus auf der Durchreise rettet, insbesondere der Clownsakt von Alexandre fasziniert ihn: er ist der einzige, der bei dieser Nummer lacht, eine Nummer, die viele kaputte Teller beinhaltet und im Film nie ganz gezeigt wird. Das besondere: Der Zuschauer lacht mit. Warum lachst du, fragt Alexandre Vittorio, und der weiß es nicht. Ich habe die Theorie: Er lacht, weil das, was lustig sein soll, nicht lustig ist, nur lustig scheint. Ähnlich geht es dem Zuschauer: die an sich tragische Geschichte ist so leicht, so charmant erzählt, dass sie witzig ist, ohne auf Witz aus zu sein.
Aber das Timing stimmt, besonders von Castellitto, der immer zum richtigen Zeitpunkt sich irgendwohin bewegt, etwas sagt, aus seinem ganzen Gesicht subtile ironische Funken sprüht - wobei den anderen Schauspielern ihre Leistung zum Film nicht abgesprochen werden soll. Und Rivette erzählt das ganze überhaupt nicht ernst, inszeniert vielmehr nach Art eines Theaterstücks, lässt bewusst auf- und abtreten, spielt mit der Szenenbeleuchtung, weist seinen Figuren sichtbar bestimmte Funktionen zu und lässt sie sie in seinem künstlichen Regierahmen ausführen - und zwar ganz spielerisch. Und lässt seinen Film nach 80 Minuten in einem (von den Figuren kommentierten) Happy End enden - halb so lange wie der übliche Rivette-Durchschnitt.
Harald Mühlbeyer