Filmverstehen
Mal was spannendes Wissenschaftliches zwischendurch:
Eine Untersuchung hat gezeigt, dass Filme-Schauen durchaus angspruchsvoll ist. Nein nein, nicht nur Kunstkacke, sondern auch Schundkram! Denn die internationale Studie erforschte das kognitive Verstehen, z.B. der Montage oder Subjektive.
Dass man nun auch empirisch belegen kann, wie weniger ein naturgebenes und -analoges Erfassenssehen, sondern vielmehr neben der künstlerischen Bedeutung bzw. Interpretation eine konventionsbegründete, zu erlernende Kommunkations- oder Erzählsprache des Kinos eine Rolle spielt, ist mindestens ebenso schön zu wissen, wie dass es in der Südtürkei Menschen gibt, die noch nie einen Film oder sowar gesehen haben.
Entsprechend andersherum und auf einer ganz anderen Ebene validiert sich die Studie selbst. Denn würde mir einer dieser südtürkischen audiovisuellen Analphabeten, von denen ich bislang auch noch keinen einzigen gesehen habe, mir was erzählen, würde ich ihn garantiert auch nicht verstehen. Wobei das erstmal empirisch zu prüfen wäre.
Hier die Meldung:
"Filmpremiere für die Augen
Neue Erkenntnisse über das Filmverstehen durch Studie mit völlig film-unvertrauten Erwachsenen
Eine deutsch-türkische Forschungsstudie zeigt, welche filmischen Stilmittel und Szenenabfolgen von erwachsenen Film-Neulingen verstanden werden – oder auch nicht.
Tübingen/ Istanbul 15.07.2010. Seit der ersten Projektion der Brüder Lumière vor über 100 Jahren hat sich das Genre ‚Film’ durch Kino, Fernsehen und Internet zu einem allgegenwärtigen Medium entwickelt und die moderne Gesellschaft nachhaltig geprägt. Während die psychologischen Wirkungen von Filmen in der Öffentlichkeit breit diskutiert werden, sind die psychologischen und kognitiven Voraussetzungen, um Handlungen und Geschichten der Filme verstehen zu können, hingegen bislang nur unzureichend geklärt. Doch ist das Medium Film durch seine Anschaulichkeit tatsächlich “selbst-verständlich”?
Die Beobachtung von erwachsenen Zuschauern aus abgelegenen Bergdörfern im Süden der Türkei – alle Personen hatten nie zuvor einen Film oder eine Videosequenz gesehen –, lieferte Forschern nun eine Antwort. In einer aktuellen Studie unter Beteiligung des Tübinger Leibniz-Instituts für Wissensmedien (Psychological Science, 21 (7), S. 1-7) bekamen die Teilnehmenden eine Reihe kurzer Filmclips zu sehen. Die Clips enthielten filmtypische Darstellungsmittel wie den Wechsel der Kameraperspektive während eines Gesprächs, eine Ereigniszusammenfassung mit einem Zeitsprung oder auch die Betrachtung eines Geschehens aus dem subjektiven Blickwinkel des Protagonisten.
Entgegen Berichten aus den Anfängen der öffentlichen Filmvorführung – die ersten Kinobesucher seien aus ihrem Sessel aufgesprungen, weil sie fürchteten, aus der Leinwand würde eine Eisenbahn auf sie zufahren –, fanden die Forscher um den Tübinger Medien- und Kognitionspsychologen Prof. Dr. Stephan Schwan keine Hinweise darauf, dass die Filme von den Zuschauern für „echt” gehalten und mit der Realität verwechselt wurden.
„Die Ergebnisse der Studie belegen vielmehr, dass für die Verständlichkeit der Filme weniger die Ähnlichkeit mit Bedingungen der natürlichen Wahrnehmung, als vielmehr das Vorhandensein einer vertrauten Handlung entscheidend ist“, so Schwan. Ohne einen Handlungsfaden (in den Beispielfilmen war dies z.B. die Zubereitung von Tee und Mahlzeiten oder der Bau eines Holzzauns) – hatten die Film-Neulinge große Schwierigkeiten, filmtypische Darstellungsmittel angemessen zu interpretieren. Eine Vergleichsgruppe Film-erfahrener Zuschauer zeigte hingegen keine Verständnisprobleme.
Nach Ansicht der Forscher entkräftet die Studie somit die populäre Annahme, dass Filmschauen der natürlichen Wahrnehmung so ähnlich sei, dass es ohne Vorkenntnisse stattfinden könne. Für Schwan, der die Studie mit seiner türkischen Kollegin, der Filmwissenschaftlerin Dr. Sermin Ildirar, von der Universität Istanbul im Rahmen einer zweijährigen Forschungskooperation gemeinsam durchgeführt hat, sind die Ergebnisse vielmehr ein Beleg dafür, dass bereits das Verstehen einfachster Filme auf höheren kognitiven Prozessen beruht. Diese wiederum wurzeln in vielfältigen kulturellen Voraussetzungen. So müssen dem Zuschauer typische Geschichten, Situationen und Handlungsabläufe einer Kultur ebenso vertraut sein wie filmische Darstellungskonventionen. „Die Situation in Ostanatolien war aus Forschungssicht ein seltener Glücksfall“, wertet Schwan. „Sie hat uns erstmalig empirischen Aufschluss darüber gegeben, dass man auch ‚Filme und Fern-sehen’ lernen muss.“
Kontakt & weitere Information:
Prof. Dr. Stephan Schwan
Institut für Wissensmedien, Konrad-Adenauer-Str. 40, 72072 Tübingen
Tel.: 07071/ 979-228, Fax: 07071/ 979-115, E-Mail: s.schwan(at)iwm-kmrc.de
Tanja Vogel, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,
Institut für Wissensmedien, Konrad-Adenauer-Str. 40, 72072 Tübingen
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Dr. Sermin Ildirar
Istanbul University, Communication Faculty Beyazıd /Istanbul, 34452 Istanbul/Turkey
Tel.: +90 212 440 00 00/12710, Fax: +90 212 440 03 16, E-mail: sildirar(at(at)istanbul.edu.tr
Das Institut für Wissensmedien (IWM) in Tübingen erforscht das Lehren und Lernen mit digitalen Technologien. Rund 45 Wissenschaftler/-innen aus Kognitions-, Verhaltens- und Sozialwissen-schaften arbeiten interdisziplinär an Forschungsfragen zum individuellen und kooperativen Wissenserwerb in medialen Umgebungen. Seit 2009 unterhält das IWM gemeinsam mit der Universität Tübingen Deutschlands ersten WissenschaftsCampus zum Thema „Bildung in Informationsumwelten“. Für nähere Informationen besuchen Sie uns im Internet unter www.iwm-kmrc.de.
Das IWM ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, zu der 86 Forschungsinstitute von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Sozial- und Raumwissenschaften bis hin zu den Geisteswissenschaften gehören. Leibniz-Institute bearbeiten Fragestellungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung strategisch und themenorientiert. Näheres unter www.leibniz-gemeinschaft.de."
(Quelle: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit - Institut für Wissensmedien - Knowledge Media Research Center (IWM-KMRC))