„Ich klage an“, Wolfgang Liebeneiner 1941
19. April 2011, Murnau Filmtheater Wiesbaden. Einführung und Analyse durch Horst Walther, Institut für Kino und FilmkulturIn Wolfgang Liebeneiners „Ich klage an“ geht es an der Oberfläche um Sterbehilfe; aber in Wirklichkeit geht es um etwas ganz anderes, nämlich darum, in der Bevölkerung Akzeptanz zu generieren für eine unmenschliche Maßnahme des NS-Regimes – ohne dass das Programm zur Ausmerzung lebensunwerten Lebens zur Sprache kommen würde. An diesem Film kann exemplarisch Zielrichtung, erhoffte Wirkung und historische Verblassung propagandistischer Filmbotschaften betrachtet werden.
Inszeniert ist er auf eine Art, wie es heute bei den Filmen der Fall ist, die auf einen sicheren Darstelleroscar spekulieren. „Ich klage an“ ist perfektes Krankenmelodrama, und Heidemarie Hatheyer in der Hauptrolle als Hanna spielt eine der Rollen ihres Lebens – neben der „Geierwally“ ein Jahr zuvor. Hatheyer ist grundsätzlich die Frau fürs Drama, und sie ist die Frau von Nebenan – das kommt „Ich klage an“ zugute, mit leichtem bayrischem Akzent spielt bei ihr immer auch das publikumsum- und einfangende Alltägliche mit: Was hier passiert, könnte jedem passieren. Hatheyer ist geerdet, sie spielt keine der Frauen, wie sie nur in Filmen vorkommen können. Wenn sie sich freut, weil der Postbote einen wichtigen Brief bringt, dann freut sie sich ganz ausgelassen, vergisst, das Einschreiben zu unterschreiben, vergisst den Bleistift des Briefträgers, rennt ins Haus, umarmt die Haushälterin, oh, ein Schnaps für den Briefträger, schnell: das Telefon – solche mitreißende Begeisterung zu spielen in der ersten Szene des Films, die ganz natürlich wirkt und den Zuschauer mit hineinnimmt in das Hochgefühl des Glücks, das ist selten in Filmen dieser Zeit.
Das ist die hervorragende Qualität von „Ich klage an“: dass er so modern gestaltet ist. Das Spiel ist natürlich, die Charaktere nachvollziehbar, die Figurenkonstellation nicht ausgeformt, sondern subtil umschrieben, die Dramaturgie steigert sich ohne Längen, und das Thema ist ergreifend: Das anfängliche Glück ist natürlich nicht von Dauer, die lebensbejahende Fröhlichkeit liegt nahe am Tod. Das deutet sich schon an beim Sturz die Kellertreppe runter: das war vielleicht nur ein Stolperer –, und die Verkrampfung der linken Hand beim abendlichen Klavierspiel vielleicht nur eine Folge des Sturzes. Doch natürlich sind es erste Symptome, denen weitere folgen werden, ganz leise schleicht die Krankheit heran, so dass ihr Opfer es zuerst nicht bemerkt, es auch nicht wahrhaben will… Kontrastierung bietet der Film nicht nur im Krankheitsverlauf vom Glück ins Leid: Der Ehemann der Kranken, Dr. Thomas Heyt, ist medizinischer Forscher, das ganze soziale Umfeld setzt sich aus Ärzten zusammen. Der Brief zu Filmbeginn enthielt die Berufung Dr. Heyts als Professor an die Uni München, auf der Abschiedsfeier wimmelt es von Medizinern; doch keiner kann Hanna helfen.
Heyt stürzt sich in die Forschung, peitscht sein ganzes Labor auf das Finden eines Erregers der Multiplen Sklerose ein; Dr. Lang, Freund der Familie und praktizierender Arzt, behandelt Hanna und weiß um die Vergeblichkeit des Bemühens. Paul Hartmann spielt den fanatischen Forscher, der aus Liebe nächtelang von zuhause fortbleibt (und der aus Arbeitsdrang das Flirten seiner schönen, blonden Assistentin gar nicht mal bemerkt): einer, der das Mit-Leiden ummünzt in einen Kampf gegen den Tod, gegen die Zeit, und dafür beinahe die Fürsorge vergisst. Dr. Lang wird von Mathias Wiemann sanft, zielstrebig, prinzipienfest gespielt – wie immer eigentlich; ein Film, in dem Wiemann mitspielt, trägt mit höchster Wahrscheinlichkeit NS-Propagandabotschaften mit sich, ganz ähnlich wie bei Heinrich George oder Eugen Klöpfer. Lang wird zuerst von der leidenden Hanna gefragt: wenn es nicht mehr weitergeht, wenn der Tod immer näher rückt und das Leiden immer schlimmer wird, würde er ihr dann helfen – sprich: das Leiden vorzeitig beenden – sprich: sie töten? Und überzeugt von seinem ärztlichen Ethos, der alles untersagt, was dem Leben zuwiderläuft, lehnt er ab. Im Gegensatz zu Dr. Heyt… „Weil ich sie geliebt habe, habe ich sie nicht getötet“, wirft ihm Lang nach dem Gnadentod vor; und er entgegnet: „Ich habe sie mehr geliebt, deshalb habe ich es getan.“
Der Kranken- und Leidensgeschichte schließt sich der Gerichtsprozess gegen Dr. Heyt an: Ihm wird Mord vorgeworfen, die Verteidigung plädiert auf Tötung auf Verlangen; und verhandelt wird natürlich vor allem das Recht des Patienten auf ein Ende seiner Leiden. Auch dies ist – an der Oberfläche – zunächst nur ein Diskurs um Sterbehilfe, der auch in die heutige Zeit von Patientenverfügungen und organisierten Selbstmord-Hilfsorganisationen im Ausland passt; Clint Eastwood hat im „Million Dollar Baby“ Ähnliches behandelt. Nur in kleinen Momenten mischt die NS-Ideologie hinein (dann aber heftig): wenn der Pastor erklärt, dass Hannas Art des Sterbens seiner Kirche entgegenlaufe, er sie aber verstehen könne; und wenn einer der Geschworenen, ein strenggläubiger Christ, erklärt, dass auch Tötung auf Verlangen eine schwere Sünde sein, da das Leid den Menschen läutern und damit näher zu Gott bringen soll – Verunglimpfung der Kirche als eine Religion, die das Leid fetischisiert, was eine fälschliche, verleumderische Behauptung ist.
Die Passion Hannas ist emotional berührend; der anschließende Prozess nimmt den Zuschauer mit in die Aufarbeitung, nutzt die Gefühle des Mitleidens, um das geltende Recht – Töten ist unter allen Umständen falsch – als ungenügend zu kennzeichnen. Genau dafür plädiert der Film, indem die Figuren während des Prozesses dafür plädieren: In einem solchen Fall wie dem Geschilderten, in dem aus lauter Menschlichkeit getötet wurde, um Leid zu verkürzen: in einem solchen Fall müssen neue Gesetze her. Was das in der zeitgenössischen Wirklichkeit bedeutete, ist heute nicht mehr in ganzer Tragweite nachvollziehbar; und deshalb ist es wichtig, dass „Ich klage an“ als Vorbehaltsfilm nur mit einer obligatorischen Einführung und anschließender Analyse gezeigt werden darf: Insbesondere wenn Horst Walther vom Institut für Kino und Filmkultur den Film vorstellt, kenntnisreich, locker; und in diesem Fall mit subtilem Pathos. Denn wenn der Film ein Gesetz für Sterbehilfe fordert, erklärt Walther, also einen rechtlichen Rahmen für einen Umstand, der mit dem Begriff schöner Tod, Euthanasie, umschrieben wird, plädiert er zugleich und in der damaligen Zeit für jeden verständlich für das staatliche Recht zu töten, für die Vernichtung lebensunwerten Lebens: wofür die Nazis den Euphemismus Euthanasie verwendeten.
Seit 1939 war eine gesellschaftliche Debatte im Gange, die nicht in der von der NS-Führung gewünschten Richtung verlief. Seit 1939 gab es das Euthanasieprogramm: staatliche Stellen, besetzt mit Gutachtern, organisatorisch strikt von der Reichsführung, von Hitlers Staatskanzlei, getrennt, stempelten nach Aktenlage Patienten ab: ein + bedeutete den Tod, ein – das Weiterleben. Ärzte, Hebammen, Geburtsabteilungen in Kliniken waren angehalten, bei auffälligen Babys Formblätter auszufüllen, die vorgeblich eine künftige bessere Betreuung gewährleisten sollten, tatsächlich aber das Todesurteil bedeuten konnten: Behinderungen jedweder Art wurden eingetragen und in Berlin anhand der Formulare – nicht einmal anhand der Krankenakten – abgeurteilt. 5.000 Kinder wurden so staatlicherseits beseitigt. Das Programm wurde ausgeweitet, die Insassen von Pflegeheimen wurden ebenfalls erfasst, in Zwischenlager transportiert – bis hierhin konnten sie von Angehörigen begleitet werden –, sodann in Tötungsanstalten ermordet, mit Medikamentenüberdosen oder durch Gas.
Das Ganze war Teil der nazistischen Rassenhygiene. Da sich jedes Lebewesen und damit jedes Volk in einem ständigen Kampf ums Dasein befinde – wie Hitler in „Mein Kampf“ ausführt –, muss sich jedes Volk vor Schwächung hüten, muss die Reinhaltung der Rasse oberstes Gebot sein; vor allem für eine Herrenrasse wie das Ariertum. Dieses Ziel kann man positiv erreichen, indem man Frauen guten Blutes zum Kinderkriegen animiert – durch Muttertag und Mutterkreuz, Ehestandsdarlehen und die Ablehnung von Abtreibungen; und man kann andererseits das unerwünschte Leben entfernen. Hitler erklärte, dass „die Beseitigung von 700.000 bis 800.000 der Schwächsten von einer Million Neugeborenen jährlich eine Kräftesteigerung der Nation bedeute und keinesfalls eine Schwächung“ – so formulierte er es in seiner Parteitagsrede 1929, und mit dem Euthanasieprogramm staatlicher Ermordungen kam er diesem Ziel schon recht nahe.
Trotz diverser Verschleierungstaktiken konnte das Euthanasieprogramm nicht vor der Bevölkerung geheim gehalten werden; nicht vor den Angehörigen, nicht vor den Bewohnern im Umfeld der Tötungsanstalten. Und es regte sich Protest, in Kirchen wurde von den Kanzeln gegen die Massentötung mitten in Deutschland, staatlich sanktioniert, gepredigt, sogar ein Richter stellte Strafanzeige wegen Mordes, dem jede juristische Grundlage fehlte. In dieses Umfeld hinein wurde der Film produziert. Und dahin gingen Horst Walthers Ausführungen: zu zeigen, wie der Film über etwas spricht, über das er eigentlich gar nicht spricht.
Dr. Lang – Mathias Wiemann – hat es in einer Nebenhandlung mit der medizinischen Betreuung eines Babys zu tun. Die Freude bei der Geburt weicht der Sorge bei Krankheit, Diagnose Hirnhautentzündung, und Lang gelingt es mit allen Mitteln ärztlicher Kunst, das Kind zu retten. Um am Ende des Films zu erkennen, dass die Erhaltung des Lebens doch umsonst war. Blind und schwachsinnig lebt es jetzt in einem Heim, und sein Zustand muss grauenvoll sein: in angespannter Erwartung betritt Lang die Kinderstation, die Tür schließt sich, eine lange Minute bleibt die Kamera draußen, wartend; und mit sichtlicher Erschütterung verlässt Lang die Station nach Besuch des kleinen Patienten, tief aufgewühlt ausgerechnet er, der erfahrene Mediziner, dem nichts fremd ist. Hier wird sein Ethos erschüttert, und durch die effektive Inszenierung des Nicht-Zeigens wird auch der Zuschauer konditioniert: Wäre hier nicht eine andere Art der Hilfe besser, angemessener gewesen? Diese wenigen Szenen leiten den Diskurs von Sterbehilfe auf Verlangen über auf das Problem leidenden Lebens überhaupt, das unter schlimmsten Bedingungen dahinvegetieren muss. In ein paar anderen Szenen sehen wir Dr. Heyt in seinem Labor, fieberhaft nach einer Behandlungsmöglichkeit für die todkranke Frau suchend – natürlich mit Tierversuchen, mit weißen Mäusen, an denen experimentiert wird. Vollkommen akzeptabel, es geht um den Fortschritt medizinischer Wissenschaft; doch wenn die Mäuse ihren Zweck erfüllt haben, wenn sie die Forscher einen Schritt weitergebracht haben und dabei selbst todkrank geworden sind: dann werden sie sanft getötet, von Heyts mitfühlender Assistentin: „Ich erlöse dich“…
Mit allen Mitteln des Emotionsdramas arbeitet der Film, und das funktioniert auch heute noch. Das Leiden der lebenslustigen Frau, die aus Lebensbejahung den Tod wählt: das ist eine zeitlose Fabel, die jeden Zuschauer ergriffen machen kann; die Wolfgang Liebeneiner perfekt inszeniert, mit großer Zurückhaltung, klar in der Sache, subtil in der Figurenzeichnung, mit ausgefeilten Backstories, die nie ausformuliert werden, mit dynamischen Wechselbeziehungen zwischen den Charakteren, die sich nie in der Geschwätzigkeit ergehen, wie sie für den deutschen Film der 30er und 40er immer wieder typisch war. Dieses Gefühlskino war gemünzt auf das Mitleiden: und damit sollten die Zuschauer weichgemacht werden für die harte Wirklichkeit, wie sie die Verordnungen von ganz oben im NS-Staat vorsahen. Wo es um Sterbehilfe aus Mitgefühl geht, geht es eigentlich um ein Gesetz, das diese Sterbehilfe erlaubt. Und wo es um ein Gesetz zum erlaubten Töten geht, geht es um die staatliche Aktion der Vernichtung lebensunwerten Lebens.
Doch der Film kam zu spät. Eine Woche vor der Premiere am 29. August 1941 stoppte Hitler die bisherige klandestine Praxis der Euthanasie, der bis dahin weit über 70.000 Menschen zum Opfer gefallen waren. Die Experten für die Vergasung Behinderter wurden in die Vernichtungslager im Osten versetzt, wo sie ihre Dienste an anderen Opfern weiter verrichteten. Das Euthanasieprogramm wurde später dezentral und für die Bevölkerung weniger offenkundig weitergeführt.
Harald Mühlbeyer