Hof-Berichterstattung: Dokumentarisches

Man kann sich in Hof auch tatsächlich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen; die Wirklichkeit, wie Dokumentarfilmer sie sehen zumindest.

Beispielsweise läuft hier - warum auch immer, der Film ist schließlich auch schon offiziell im Kino - Günter Wallraffs "Schwarz auf Weiß", wo er als Neger unter Deutschen die ganz alltäglichen Fremdenfeindlichkeiten erleben muss. Jaja, das ist wichtig und schön und gut und auch nachdenklich, vielleicht gar aufrüttelnd - aber von der reinen Machart des Films unglaublich dröge, spröde, ja: öde. Dramaturgie? Pustekuchen.
Es gibt eine Szene, die ist unfreiwillig enthüllend. Da lässt er sich an einem Fotoautomat in Rosenheim knipsen: "Dein Bild auf einer Postkarte", und er bringt eine derart verkniffene Grimasse zustande, die entfernt das darstellt, was Wallraff unter einem Lächeln versteht... Als Proto-Undercoverjournalist ist ihm auf jeden Fall das Lachen vergangen. Im Übrigen wird in der aktuellen Titanic auf der letzten Heftseite sowieso schon alles über Wallraff gesagt: "Günter Wallraff - als Baum in Deutschland unterwegs" heißt das Stück, und darin legt der Verkleidungskünstler den Finger auf die Wunde: "Bäume haben keine Lobby." (Zur Not einfach mal in der Bahnhofsbuchhandlung unauffällig drüberblicken...)

Sehr viel besser kommt Werner Bootes "Plastic Planet" daher. Bootes Ausgangspunkt: Sein Großvater war einer der großen Kunststoffhersteller in Europa gewesen, dem kleinen Werner wurde die Liebe zum bunten Plastikzeug in die Wiege gelegt. Das nimmt er nun als roten Faden, um der Verplastikung des Lebens nachzuspüren. Interviewt den Cheflobbyisten des europäischen Kunststoffverbandes ebenso wie diverse Chemiker, Umweltanalysten, Aktivisten. Und konzentriert sich dann vor allem um all die kleinen Zusatzstoffe, die den Kunststoff so vielseitig machen. Und gesundheitsgefärdend: Phtalate, Weichmacher etc... Mitunter hat das einen kurzen Anschein von Kunststoffparanoia - doch was den Film wirklich ehrlich macht: er gibt nicht vor, irgendeine Lösung des Problems zu kennen. Denn Alternativen gibt es zwar: Kunststoffe aus nachwachsenden Rohstoffen, die sich von selbst wieder biologisch abbauen. Aber wenn das im großen Stil produziert würde, würde es wiederum Lebensmittelanbauflächen reduzieren. (Im Übrigen, was der Film gar nicht mal ausspricht: man müsste für den immensen Stärke-Bedarf massiv den Ausbau genmanipulierter Kartoffeln und Maissorten steigern.) 100.000 Tonnen Bio-Plastik wird hergestellt, gegenüber 60 Millionen Tonnen herkömmlichem (gefährlichem) Plastik allein in Europa.
Einmal sieht man Boote in einem japanischen Supermarkt in der Pose des Aktivisten: "Plastic kills you" ruft er den Kunden zu - durch ein Kunststoff-Megaphon.

Ganz persönlich geht Rosa von Praunheim vor, wenn er in "Rosas Höllenfahrt" sich auf die Suche begibt nach den Ursprüngen der Hölle. Streng katholisch erzogen, von der Kirche abgefallen, will er nun in fortgeschrittenem Alter wissen, ob er denn nun vielleicht nicht doch nach seinem Tode im ewigen Feuer schmoren wird. Und befragt unter anderem Katholiken - Profis wie Priester oder katholische Journalisten wie auch Laien auf dem Katholikentag -, Juden, Moslems, einen Buddhismusforscher, Kultursoziologen, Kunsthistoriker nach ihren Vorstellungen von der Hölle und immer wieder auch danach, wie es zu solchen Höllendarstellungen kommt - und warum. Das ist recht umfassend recherchiert, auch wenn er die protestantische Seite bis auf einen evangelikalen Extremisten beiseite lässt. Nach Luther habe sich das Denken mehr auf das Diesseits konzentriert - was halt so auch nicht stimmt, man denke an die Calvinisten (siehe zum Beispiel A. Lindgrens "Michel"-Bücher), an die Bilderstürmer, an die strengen lustfeindlichen "guten Bürger" des 19. Jahrhunderts in Preußen oder Amerika... Da steht ja durchaus eine Höllenangst dahinter.
Auch beschreibt er - als bekennender Homosexueller und Atheist - Hölle vornehmlich als Angst- und Machtinstrument, als Waffe gegen Minderheiten wie Schwule oder überhaupt gegen alles, was nicht männlich ist. Dass Höllenvorstellungen auch als - durchaus positiv zu sehendes Mittel - zur Aufrechterhaltung von Moral dienen kann, also von gesamtgesellschaftlicher Ordnung, die gerade nicht Hass erzeugt, geht auch etwas unter.
Doch insgesamt: Sehenswert, gerade weil diskussionswürdig.


Ein Blick auf die Uhr sagt mir: ich muss ins Kino.
Morgen: "Der Deutschland-Komplex" und "Franks Welt".
Ich zähle auf Sie.

Hof-Berichterstattung: Altmetall gleich Schrott?

Jetzt habe ich, soweit absehbar (und abgesehen vom "Fantastischen Mr. Fox", den ich ja schon vorab habe genießen können), DEN Film der diesjährigen Hofer Filmtage gesehen.
Mit ihren frühen Alben, vor allem "Metal on Metal" von 1982, war die kanadische Heavy Metal-Band Anvil auf dem Weg nach ganz oben. Vor Metallica, vor Slayer, vor Megadeth spielten sie den härtesten vorstellbaren Rock, Lars Ulrich, Lemmy und Slash sind noch heute voll des Lobes - doch gleich beim Start kam die Bruchlandung, sie hoben nie ab in den Himmel der Erfolgreichen. "Man muss halt am richtigen Ort zur richtigen Zeit sein", meint Lemmy, und Lars Ulrich kann nur vermuten, dass der Outsider-Faktor, das kanadische Element, mitursächlich gewesen sein könnte. Aber genau weiß es keiner zu sagen, auch nicht die Musiker der Band Anvil selbst. Denn die gibt es noch, und hier in Hof lief der filmische Beweis: "Anvil! - The Story of Anvil" von Sacha Gervasi.

Und wie es sie gibt, mit voller Power, voll Enthusiasmus - und völlig unbemerkt von jedem außer einem sehr eingeschränkten Fankreis. Irgendwo um Toronto herum fristen sie ihr Leben, Sänger/Gitarrist Steve "Lips" Cudlow fährt das Schulessen aus, und nur Anvil gibt seinem Leben noch einen Sinn. Also: Der Beinahe-Erfolg vor fast 30 Jahren... Sacha Gervasi verfolgt die Musiker, ist ganz nah dran, und mein Gott: Wie erbärmlich ist das, was er zeigt! Und wie überaus komisch!

Da kommt eine Mail aus Italien, eine Managerin meldet sich, sie könne eine Europa-Tournee organisieren, und sofort sind die Anvil-Musiker auf der Höhe: Das könnte die große Chance sein, auf die sie seit Jahrzehnten hoffen! Beim Festival in Schweden sieht man dann Lips im Backstagebereich herumflitzen wie ein aufgeregtes Kind, da sind all seine Idole (und Kollegen), doch Carmine Appice oder Michael Schenker können sich absolut nicht erinnern, dass sie jemals mit jemandem wie Lips von Anvil zusammen auf Tour waren. Ist ja schon lange her...
Ein Zug ist ausgebucht. Ein anderer wird verpasst. Durch Prag irren sie zwei Stunden lang, weil sie die Straßenschilder nicht lesen können, und werden für ihren Gig im Kellerclub nicht bezahlt. In München wurden keine Plakate aufgehängt, sie spielen vor fünf Hanseln in einer Kneipe. Das Abschlusskonzert in Rumänien findet dann in einer 10.000 Leute fassenden Halle ab, Anvil geben ihr Bestes, die Fans sind begeistert - alle 174 Stück.
Eine Katastrophe.

Sie sind und bleiben ganz unten, und Lips kann sich nur trösten: Schlimmer kann es auf keinen Fall werden, auf keinen Fall. Dann beschließen sie, eine neue Platte aufzunehmen, diesmal nicht so ein schlecht gemischtes, mies produziertes Ding wie ihre letzten neun: Nein, der Produzent von ihren Erfolgsjahren damals soll es richten. Lips große Schwester schießt die vielen tausend Dollar zu, das Album wird das beste, was sie je gemacht haben, meint Lips - und man sieht die Aufnahmen, es ist der gute alte Metal: Das ist halt das Problem, dass diese Musik von vor 30 Jahren keinen mehr vom Hocker haut. Zumindest nicht, wenn man neu anfangen will und die eigene Legende längst vergessen ist...

Sacha Gervasi changiert geschickt zwischen einem tragikomischen Ton, indem er die Bedeutungslosigkeit der Band und das Unvermögen, irgendwas zustande zu bringen, sehr sehr offen und pointiert ausdrückt - und zeigt zugleich die innere Verzweiflung, die Hoffnung, den Optimismus, die Naivität der Bandmitglieder, die auf dem Glatteis des Lebens liegen, nackt und bloß, und die sich nicht aufrappeln können, weil ihnen jeder Griff abhanden gekommen ist.
Natürlich lehnen alle Plattenfirmen das teuer produzierte Album ab.

Der Film zeigt das Scheitern als Dauerzustand, die verzweifelte Hoffnung, das Festhalten an einem Traum, der schon vor Jahrzehnten vorübergezogen ist - und das auf sehr witzige Weise, ohne Anvil irgendwie zu verurteilen - Gervasi selbst ist Anvil-Fan. In der Darstellung der erbärmlichsten Rocker-Existenzen wirkt sein Film "Anvil!" wie eine Real-Form der großen Metal-Persiflage "This is Spinal Tap" (Rob Reiner 1984, als die 15 Minuten Ruhm von Anvil schon vorüber waren). Und ist es ein Zufall: Der Drummer von Anvil und allerbester Freund von Lips heißt - Robb Reiner.

Harald Mühlbeyer

Happy Birthday, HALLOWEEN!!

Zwei Größen des Kinos feiern dieses Wochenende Geburtstag.

Einer der letzten lebenden Method Actor, Grandseigneur der Kopfnuss und die Numero 2 nach Marcello Mastroianni wird 80! Und natürlich sagt auch Screenshot:



Herzlichen Glückwunsch, Bud Spencer!


Fünfzig Jahre jünger, aber auch ein Klassiker ist John Carpenters HALLOWEEN, der vor fast 30 Jahren (na ja, 31) das Horror-Genre umkrempelte.

Zum Geburtstag noch mal die kleine Hymne, wie wir sie zum 25.-Jährigen präsentierten - und erklärt, was den kleinen großen Film so fein macht.


(Mehr als) 30 Jahre HALLOWEEN

Jemand schleicht ums Haus. Durch seine Augen schauen wir durch die Fenster, beobachten die junge Judith Myers, die sich mit ihrem Freund amüsiert. Wir betreten das Haus, Kinderhände nehmen ein übergroßes Messer, setzen eine Maske auf und ermorden, als sie wieder allein vor dem Spiegel sitzt, die nackte Judith. Der Mörder ist ihr sechsjähriger Bruder Michael. Es ist der 31. Oktober - Halloween.



Mit dieser fast vierminütigen Plansequenz, einem Paradebeispiel für den Einsatz der Steadicam, beginnt John Carpenters Klassiker aus dem Jahr 1978, seinem vierten Film. Für lediglich 300.000 Dollar produziert und mit Jamie Lee Curtis in ihrer Debütrolle, wurde er ein Riesenerfolg. Allein in den ersten drei Jahren spielte er über 60 Millionen ein.

Dabei lebt HALLOWEEN ausschließlich von der grandiosen Stimmung und Atmosphäre, die Carpenter zu kreieren versteht, und weniger von einem ausgefeilten Plot: 15 Jahre nach dem Mord an seiner Schwester bricht Michel Myers aus der Anstalt aus, kehrt wiederum am 31. Oktober, verfolgt von seinem Psychiater Dr. Loomis (Donald Pleasance), nach Hause zurück, um zwei Teenagern, die sich in gegenüberliegenden Häusern als Babysitter verdingen, nachzustellen.

Carpenter, der hier wie so oft in seinen Filmen für die minimalistische aber irritierende Musik zuständig war und mit seiner Lebensgefährtin Debra Hill das Drehbuch schrieb, schuf ein kleines Meisterwerk des Films und ein Meilenstein des Genres. Die Figur des stummen Mörders, der mit seiner weißen Maske in der Halloween-Nacht die Kleinstadt Haddonfield, Illinois unsicher macht, hat es zu Serienruhm mit bisher neun Folgen (und zwei halbe Remakes von Rob Zombie) gebracht, wobei die Qualität der einzelnen Filme zwischen solide bis jämmerlich changiert und der dritte Teil, HALLOWEEN III: SEASON OF THE WITCH (1985) von Tommy Lee Wallace lediglich dem Namen nach zur Reihe gezählt wird.

HALLOWEEN wird denn oft auch als Geburt des Horror-Subgenres Slasher-Film genannt und somit als Vorreiter blutrünstiger Werke wie der NIGHTMARE ON ELM STREET- oder FRIDAY THE 13TH-Reihe. Zu unrecht. Denn anders als seine „Nachfolger“ konzentriert sich HALLOWEEN nicht auf Schock- oder Ekeleffekte. Vielmehr sind hier die Morde fast schon befreiender Höhepunkt einer suggestiven Suspense, die auch der vorzüglichen Kadrierung und Kameraführung zu verdanken ist. Der Mörder, in den Credits nicht umsonst als Stalker bezeichnet, verfolgt und umschleicht die Opfer wie ein weißer Hai: ruhig, gefühllos, unerbittlich. Entsprechend inszeniert ist der Film. Hektisches Schwenken, verkantete Bilder oder billiges cat in the closet-Erschrecken sucht man hier vergebens. Sogar mit dem Blut wird äußerst sparsam umgegangen.



Szenen wie solche sind bis heute unerreicht:
Die ahnungslose Annie (Nancy Loomis) geht beim Telefonieren vor dem Fenster auf und ab, die Kamera folgt ihr dabei, um beim zweiten Vorbeigehen im Dunkeln dahinter die bleiche Maske zu streifen – welche sofort wieder verschwunden ist, als sich das Mädchen umwendet.

Oder die im Bett liegende Linda (P.J. Soles), die es schon nicht mehr lustig findet, dass ihr Freund mit einem Bettlaken über dem Kopf stumm in der Tür steht – wir aber längst wissen: es kann gar nicht ihr Freund sein, weil der bereits tot an der Küchenwand hängt.

HALLOWEEN hat (auch) anderweitig neue Maßstäbe etabliert. Zwar verpflanzte schon Hitchcocks PSYCHO (USA 1960) mit Norman Bates (Anthony Perkins) das bis dahin stets von außen, aus dem All, finsteren Schlössern oder futuristischen Labors stammende Böse in das Herz der Gesellschaft hinein. Doch musste der nette schüchterne Junge von nebenan noch in einem abgelegenen Wüstenhotel sein Unwesen treiben und mit einer psychopathologischen Erklärung greifbar gemacht werden.

Carpenters Michael Myers als gesichtsloses unerklärliches Phantom hingegen geistert direkt durch die Vorgärten und Alleen der Kleinstadt, womit ihre Allerweltsidylle nicht unheimlicher aufgeladen werden kann. Carpenter Stärke liegt vor allem darin. Wenn Laurie (J.L. Curtis) mit einem Kürbis im Schoß auf der Gartenmauer sitzt und den Blick schweifen lässt, die vertrocknenden Blätter rascheln und sich das Dämmerlicht über die Straßen herabsenkt, hat man selten einen authentischeren Oktoberabend gesehen, einer wie er überall zu finden ist. Carpenter stellt ihn mit einfachen, stimmungsvollen Bildern dar, ohne die Überzeichnung eines David Lynchs, weil Carpenter nichts enthüllt, sondern die Idylle mit ihrem Gespenster-Fest magisch auflädt. Er verleiht ihr Schönheit und Tiefe, romantisiert sie in bestem Sinne, indem er ihre Heimsuchung zelebriert.

Genau davon handelt HALLOWEEN, das verspricht die tagline des Kinoplakats: The night HE came home. „Der Tod ist in Ihre kleine Stadt gekommen, Sheriff“, erklärt Dr. Loomis dem Ortspolizisten (Charles Chypers), dessen Tochter eines der Opfer sein wird. Und zum Schluss, wenn Michael Myers trotz aller Messerstiche und Schüsse in die Nacht verschwunden ist, behält Loomis Recht. Das maskierte Phantom erweist sich als mehr als nur ein geisteskranker Mörder: Er ist das Böse, der leibhaftige Schwarze Mann. (Erst in den Fortsetzungen wird Myers zu einem dumpfen Jemand degradiert, der „nur“ hinter den verbleibenden Familienmitgliedern her ist.) Das friedliche Tür-an-Tür-Leben jedenfalls, für das Haddonfields Sheriff Brackett einsteht, erfährt damit ihre Berechtigung, ebenso wie das sinnentleerte Maskenspektakel Halloween als Totenfest wieder auf seinen mystischen Ursprung zurückgeführt wird.

Übrigens: HALLOWEEN ist am 6. November um 20.15 Uhr in einer raren 35mm-Kopie aus dem Archiv der Warner Bros im Wiesbadener Murnau-Filmtheater (Schlachthof) zu sehen!

Bernd Zywietz

"Verblendung" - Vom Buch zum Film

Zum Berlinale Workshop der vergangenen Frankfurter Buchmesse 2009

„Kein Drehbuch. Kein Film.“ heißt es in der Kampagne des Verbands Deutscher Drehbuchautoren. Doch dass vor dem Skript meist noch ein Roman steht, hat man auf der Frankfurter Buchmesse schon längst begriffen. Entsprechend kooperiert die weltweit größte Buchmesse mit Deutschlands wichtigstem Filmfestival, der Berlinale, um die Brücke zwischen Verlegern und Produzenten zu schlagen.

Als Fallstudie wurde am 15.10. im Berlinale Workshop des Programms „Focus on Creative Content“ im Film & Media Forum Stieg Larssons „Millennium-Trilogie“ präsentiert, deren erster Teil, „Verblendung“, als Adaption gerade im Kino läuft. Eva Gedin, stellvertretende Programmleiterin des schwedischen Norsteds Verlag und Jenny Gilbertsson, Stoffentwicklungschefin der Yellow Bird Produktionsfirma zeichneten den Weg des internationalen Bestsellers vom Buch zum Kinofilm nach und gaben dabei Einblick in das Verhältnis von Verlags- und Filmgeschäft.



Ein Insider, so Gilbertsson, habe sie auf die Qualität der drei noch nicht veröffentlichten Bücher aufmerksam gemacht. Den Zuschlag erhielt Yellow Bird, so Gedin, wegen des Enthusiasmus und Respekt des Teams gegenüber dem Stoff. Ein wenig Ironie war dabei im Spiel: Yellow Bird wurde 2003 als Projektfirma von für die „Wallander“-TV-Verfilmungen gegründet – eben jener Art von Schwedenkrimis, gegen die Stieg Larsson sich mit seinen Büchern absetzen wollte. Dass Yellow Bird die Rechte noch vor der Veröffentlichung kaufte, was eher selten ist, schließlich hilft die Popularität der Bücher, Finanziers zu gewinnen. In diesem Fall ein Risiko, das sich lohnte.

Gedin zeigt sich jedoch skeptisch, was wiederum eine Unterstützung des Buchverkaufs durch Verfilmungen betrifft, auch wenn Filmcover-Editionen den abflachenden Absatz von „Verblendung“ wieder ankurbelten. Buchrechte verkauften sich selten besser wegen der Aussicht z.B. auf eine Kinofassung. So würden selten Serien oder (TV-)Filme dem Umsatz helfen, schließlich könnten sie auch schlecht geraten.

Nach der Auswahl der Romanstoffe für eine Spielfilmversion gefragt, verwies Gilbertsson auf die Qualität: Man kaufe ein Buch z.B. wegen der Charaktere oder der Story. Mit den Schriftstellern arbeite man möglichst eng zusammen, doch bekämen diese nur ein Konsultations-, kein Zustimmungsrecht. Zudem lasse man sie nicht selbst die Skripte schreiben: Die Unterschiede zwischen den Medien und ihrer jeweiligen Art des Erzählens seien zu groß. Bei „Verblendung“ freilich habe man die „Fehler“ von Larssons wenig filmischer Dramaturgie belassen, weil sie den Kern des Erfolgs ausmachten. Und auch bei der Zusammenarbeit war das Beispiel der „Millennium-Trilogie“ eine Ausnahme: Stieg Larsson verstarb noch ehe die Filmrechte verkauft wurden.


Bernd Zywietz

Hof-Berichterstattung: Ein kleines bisschen Lou Castel

Nein: Lou Castel war als Schauspieler bisher nicht auf meiner filmischen Landkarte verzeichnet. Nun ist ihm in Hof eine kleine Retrospektive gewidmet. Gleich am ersten Tag, vor dem Eröffnungsfilm, als er zu einem kleinen Gruß die Bühne betrat, erzählte er, er könne nicht soviel lächeln: er habe seine Zähne in Paris vergessen, die müssten ihm erst noch nachgeschickt werden. Das allein macht ihn schon interessant.

Gestern also gleich zwei Castel-Filme, zwei frühe aus den 60ern: "I pugni in tasca" ("Die Fäuste in der Tasche", Italien 1965) und "Quien Sabe" ("Töte Amigo!", Italien 1966 - der hier wegen weniger Schnitten in der englischen Fassung "A Bullet for the General" lief). Später, so erklärte Castel, nach 1968, habe er sich verändert, in politischere, experimentellere Richtung - diese Entwicklung von Person und Schauspieler werde ich hier in Hof nicht mehr weiterverfolgen können, ich habe andere Filmverpflichtungen... aber schon diese beiden Filme zeigen seinen ganz eigenen Stil, expressionistisch und gleichzeitig internalisiert.

In "I pugni in tasca" spielt er den epileptischen Alessandro in einer völlig kaputten Familie, die Mutter blind, der jüngere Bruder leicht schwachsinnig, die Schwester das Liebesobjekt von Alessandro, nur Augusto, der älteste, ist halbwegs normal; naja: außer dass er die anderen gewähren lässt... Wenn die anderen klein bleiben, kann er sich als Boss aufspielen.
Alessandro jedenfalls hat irgendwann die Idee, dass alles besser wäre, wenn die anderen nicht da wären, und er führt sein privates Euthanasieprogramm durch.
Der Film von Marco Bellocchio ist sprunghaft, auch nicht ganz stringent, insgesamt auch recht anstrengend in seinem etwas forciert wirkendem Avantgardismus von Zeitsprüngen und surrealen Anordnungen. Mitunter ist das auch witzig - die stummen Abendessen voller vielsagender Blicke zum Beispiel -, doch vor allem ist der Film ein Paraderitt für Lou Castel - der hier sein Debüt abgibt. Changierend zwischen Normalität und komplettem Wahnsinn, angereichert mit Sozialscheu, inzestuösem Begehren und Unmoral und dabei doch immer wieder die Nettigkeit in Person: Alessandro taxiert den Wert von Menschen nach dem geldwerten Vorteil - und das auf eine fast kindlich naive Weise.

Das Geld: das ist der Fetisch in "Quien sabe", einem Italowestern von Damiano Damiani, in dem Lou Castel El Niño spielt, einen eleganten, jungen, freundlich scheinenden Mann mit einem Ziel. Den nur eines interessiert: Geld. Deshalb schleicht er sich mit Tricks in die Bande von El Chuncho ein, einer Rebellengruppe in der mexikanischen Revolution, die für General Elias bei den Regierungstruppen Gewehre klaut und vor allem hinter einem Maschinengewehr her ist. Dabei wird alles massakriert, was Uniform anhat, und die Gewehre gegen gute Goldpesos an Elias weitergereicht. Wieweit also ist es her mit El Chunchos Revolutionsgesinnung, wenn er brutalem Sadismus nachgeht und zugleich nach Geld giert? Gleichzeitig aber hilft die El Chuncho-Gruppe den Armen, wo es geht - und das ist meistens ebenfalls hasserfüllte Gewalt gegen die Reichen... Und: El Chunchos Bruder wird von Klaus Kinski gespielt, eine kleine Rolle zwar nur, aber wichtig: er ist ein Priester, der alle Untaten als gottgewollt ansieht, weil sie sie nur aus übergroßer Liebe begehen? "Ist er verrückt?", fragt El Niño einmal, und vielleicht hat er recht.
Er selbst ist nicht verrückt. Nur: er ist Amerikaner, und das bedeutet: Geldgier ohne jede Moral - wo El Chuncho wenigstens noch auf einer Seite steht, kümmert sich El Niño um niemanden als sich selbst. Und er weiß andere zu manipulieren...

"Quien sabe" ist ein Top-Italowestern, mit allem, was dazu nötig ist. Und es ist ein Kriegsfilm. Und in der Tat ein Revolutionsfilm: der nämlich wirklich die Verhältnisse kritisiert, auf der Genre-Schiene, und offenbar nicht einfach nur Reflexe populistisch-exploitativ aufbereitet. Die Macht, die Korrumpierbarkeit, die Frage nach Moral und Geld und nach der verlorengegangenen Menschlichkeit, und das Fazit des Films, die letzten Worte vor El Chunchos (vermutlichem) Tod zu einem Bettler, dem er ein paar seiner Goldmünzen gegeben hat: "Don't buy bread with that money! Buy dynamite!"

Harald Mühlbeyer

Hof-Berichterstattung: Eröffnung mit "Parkour"

"Parkour", der Debütfilm von Marc Rensing, hat die diesjährigen Hofer "Filmdaage" (Heinz Badewitz) eröffnet. Das ist ein Eifersuchts-Psychose-Drama, das Rensing verknüpft mit einem Real-Life-Jump and Run-Sport: Parkour. Den üben die Freunde Richie, Nonne und Paule aus, sie hüpfen und springen und rennen über alle Hindernisse, die sie finden können, nehmen immen den schwierigsten Weg, quer durch die Industrielandschaft von Mannheim, über Löcher im Boden, Wände hoch in alten Fabrikhallen - das hat tatsächlich eine Dynamik wie in "Matrix", freilich in Realform, ohne Digitaltricks - hier empfiehlt sich Rensing als Inszenator von Bewegung, von Rasanz, von Action.

Das ist natürlich eine Metapher, und das Problem ist, dass diese Metapher über die erste Strecke des Films recht aufgesetzt wirkt, fast aufdringlich: Wie in seinem Freizeitsport legt sich Richie auch im wirklichen Leben ständig selbst Hindernisse im Weg, die eigentlich gar nicht da sind. Da wird zwanghaft ein nicht gerade alltägliches Hobby verbunden mit seiner verzweifelten Liebe zu Hannah, die zu Eifersucht, Misstrauen, Gewalt führt. Denn Richie hat sein Leben, sein Denken nicht mehr so richtig unter Kontrolle, und klar ist für ihn nur: Keiner soll ihn verarschen.

Die Action wird der Psychose beigegeben, offenbar vor allem, um mal was Bewegungsreich-Dynamisches zu zeigen; und so stehen die beiden Ebenen erstmal nebeneinander. Dazu kommen kleine Fehlerchen, wie sie einem Regiedebütanten halt unterlaufen: dass er offenbar noch nicht so richtig geschult ist in Schauspielerführung, Darsteller wie Nora von Waldstätten oder Constantin von Jascheroff hat man in anderen Filmen schon besser agieren sehen - Rensing muss noch lernen, aus seinen Darstellern das Richtige rauszukitzeln. Und wie Hannah aufs Mathe-Abi lernt: das ist nun wirklich ziemlich realitätsfern... zumal Nora von Waldstätten einfach fünf Jahre zu alt aussieht für eine Abiturientin...

Ist aber auch der Punkt für Richie: er selbst hat seinen Kumpel Nonne als Nachhilfelehrer bestellt, weil sonst der Stefan aus Hannahs Klasse immer so scharf auf sie ist. Und da setzt dann das Misstrauen auch gegen die Freunde ein, Richie steigert sich in einen Wahn hinein, der auch von einem seiner Mitarbeiter auf dem Bau angefeuert wird: Georg Friedrich, der Paradeösterreicher, hat seinen Auftritt als schneller Gerüstbauer, der weiß, wie die Frauen ticken, die sind nämlich alle gleich, hintergehen einen, wo sie nur können... Das wird selbst Richie zuviel, provoziert eine Kurzschlussreaktion, aber der Samen der Liebesparanoia ist gesät.

Hier nun wird der Film intensiver, hier geht er hinein in die Psychose von Richie, und das packt auch den Zuschauer. Wie er sich in wahnhaften Phantasien ergeht, die ihn tief im Inneren schmerzen und nach deren Unzüchtigkeit er nachgerade süchtig wird... Das hat zwar nicht die hypnotischen Qualitäten von Hans Weingartners "Das weiße Rauschen", und Hauptdarsteller Christoph Letkowki wird auch kein zweiter Daniel Brühl werden. Aber in seiner Konsequenz - sowohl der von Richie als auch der des Films - ist "Parkour" dennoch zwar nicht perfektes, aber ansehnliches und spannendes Kino.

Harald Mühlbeyer

Für die tägliche Dosis - Crank 2: High Voltage auf DVD

von Dennis Vetter

Crank 2: High Voltage
USA 2009
Regie & Drehbuch: Mark Neveldine, Brian Taylor
Darsteller: Jason Statham, Amy Smart, Dwight Yoakam, Efren Ramirez, Julanne Chidi Hill, Ling Bai, David Carradine


Vertrieb: Universum Film
Erscheinungsdatum: 09.10.2009
Bild: 1,85:1 (anamorph)
Ton: Deutsch (Dolby Digital 5.1), Englisch (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte, Englisch für Hörgeschädigte
Laufzeit: 90 Minuten
Bonusmaterial: T!+$ Against The Glass (Making Of), Wrap Video (Gang Reel), Crank'd Out Picture In Picture Videokommentar, Interviews mit Cast & Crew, B-Roll, Kinotrailer, Easter Egg


Knapp drei Jahre ist es her, seit das Regieduo Mark Neveldine und Brian Taylor mit CRANK allen Fans gepflegter Action endlich das boten, was sie stets im Kino gesucht hatten, aber nur in der Achterbahn finden konnten: Adrenalin. CRANK erklärte unnötigen Elementen wie Dialogen und Spannungsaufbau erfolgreich den Krieg. Das Resultat wusste zu begeistern und schuf eine begeisterte Fangemeinde, vor allem die DVD des Films brachte enorme Umsätze. Versehen mit einer mit einer großen Portion Selbstironie und Intertextualität konzentrierte sich der Film ganz auf Finesse, formalen Abwechslungsreichtum sowie ungeheures Tempo – und natürlich auf die Essenzen des Actionkinos: exzessiven Gewalteinsatz, der sich im Minutentakt mit coolen Sprüchen abwechselt. Dieses Erlebnis noch zu steigern schien absurd, allein aus dramaturgischer Sicht.


Dennoch ließen Neveldine und Taylor nicht locker: CRANK 2 liefert nach dem kontrollierten Rausch des Vorgängers nun auch eine schwer verdauliche Überdosis: Jason Statham alias Chev Chelios hat seinen Absturz aus einem Hubschrauber am Ende des ersten Teils trotz hartem Aufschlag auf dem Asphalt lebendig, aber etwas benommen überstanden. Mit künstlichem Herz und abhängig von ständigen Stromschlägen macht er nun dort weiter wo er aufgehört hat: Als moderner Berserker der Großstadt Level für Level alles Ausradieren, was ihm vor die Flinte / vors Auto / in die Finger kommt. Der Rest der Story um die Üblichen Verstrickungen mit diversen Verbrechersyndikaten, öffentliche Sexszenen und zotige Gags sollte vermutlich für die Wenigsten von Belang sein. Teil 2 hat sich nicht nur von den letzten Resten eventueller Plausibilität verabschiedet, sondern verliert im nochmals deutlich gesteigerten Tempo auch schnell jeden Respekt vor Moral und Magen des Zuschauers.

Dabei überrascht: Ob nun mit Hintergedanken verbunden oder nicht, die brachiale Überversorgung mit Reizen, die der Film über sein gesamte Dauer beibehält, wirkt in ihrer Konsequenz weit weniger plump, als es die vordergründige Fokussierung des Films auf sinnfreien Exzess vermuten ließe. Denn Neveldine und Taylor trieben ihr Rausch-Konzept derart konsequent in die logische nächste Runde, dass vermutlich so manchem Zuschauer beim Sehen des Films seine eigene Vergnügungssucht recht sauer aufstößt. CRANK 2 verstört, effektiv ohne Zweifel, gezielt, wie man meinen könnte. Zumindest die feurig konfrontative Schlusssequenz des Films lässt unabhängig von der wohl rein anarchistischen Zielsetzung der Regisseure Spielraum für einige Gedanken. Die eindrucksvolle Wirkung des Machwerks liegt dabei weniger an den völlig übersteigerten Klischees und permanenten Seitenhieben auf allerlei Minderheiten, mit denen der Film breitflächig die Gefilde des schlechten Geschmacks erkundet. Vielmehr hat der Aspekt der Gewalt nun ein völlig neues Maß erreicht. Protagonist Chelios und die zahlreichen unfreundlichen Gestalten, auf die er trifft, gehen diesmal so rabiat und zum Teil unerwartet direkt zu Werke, dass nicht nur Fans braver Hollywood-Kost den Appetit erfolgreich verderben sollte. Zwischen in Großaufnahme abgeschnittenen Brustwarzen, Kotzregen direkt in die Kamera und zerschossenen Silikonbrüsten dürfte sich – hoffentlich – so mancher Zuschauer wohl ein wenig fehl am Platz vorkommen.


Die BPJM bestätigte dies bereitwillig und verweigerte der ungeschnittenen DVD eine FSK-Freigabe. Lediglich die um 3 Minuten gekürzten Fassung wurde mit dem brutalen roten Ab 18 Siegel bekleidet. Universum hat glücklicherweise beiden Fassungen eine 2-DVD Special-Edition im Pappschuber mit Wendecover gewidmet, so dass Zensurgegner hier mit keinerlei Nachteilen kämpfen müssen. Die umfangreiche Bonus-DVD der dicken Auflage beherbergt hierbei ein bunt zusammengewürfeltes Paket von Extras mit einer Gesamtlaufzeit von rund 160 Minuten. Bunt zusammengewürfelt ist hier allerdings wörtlich zu nehmen, denn zwischen Making Of, Picture in Picture-Audiokommentar, Interviews sowie weiteren Gimmicks sind Wiederholungen zahlreicher Abschnitte derart häufig, dass es zum Teil recht störend ist. Wie zu erwarten kommt das Bonuspaket dabei zwar mit großem Augenzwinkern aber dafür inhaltlich nicht sonderlich anspruchsvoll daher und begnügt sich mit Aufnahmen des Drehs sowie Aneinanderreihungen von Anekdoten gepaart mit dem üblichen Eigenlob.


Was bleibt zu sagen? Eine technisch einwandfreie Veröffentlichung, die jedes inhaltliche Potenzial des Films im Keim erstickt. Nun gut. Dann eben DVD einlegen, Gehirn ausschalten und 90 Minuten durchdrehen. Wohl bekomms!

Die Wirklichkeit des Grauens - Der Mockumentary-Horrorfilm

Anlässlich des beachtlichen Erfolgs des kleinen Fakedoku-Horrorfilms PARANORMAL ACTIVITY in den USA hier ein kleiner Abriss zu diesem Subgenre, den Bernd Zywietz für das ironische The Mockumentary Horror Film Project verfasst hat...

***

Einer meiner Freunde fragte mich: Gehört eigentlich Peter Jacksons FORGOTTEN SILVER (1995) auch zu den Mockumentaries?



Eigentlich ist FORGOTTEN SILVER das sogar eher noch als THE BLAIR WITCH PROJECT (1999). Streng genommen sind Filme wie BLAIR WITCH PROJECT gar keine Mockumentaries („Mock“ = sich lustig machen + „documentary“ = Dokumentarfilm), weil sie formal keine Dokumentation darstellen, sondern nur (quasi falsches) Dokumentarmaterial: Drei drehende Filmstudenten verschwinden in den Wäldern – und dieses, ihr Material, mit dem sie einen Film über die Hexe von Blair erstellen wollten, wird wiedergefunden und leicht „aufbereitet“ gezeigt.



„Echte“ Mockumentaries hingegen sind Filme wie Peter Jacksons FORGOTTEN SILVER über den fiktiven Filmpionier Colin McKenzie, der u.a. mit Interviews (z.B. den „echten“ Weinstein-Brüdern) garniert ist und sein falsches „found footage“ der besonderen Art in einen quasi-journalistischen Rahmen spannt. Ein anderer Film ist die „Doku“ über Stanley Kubriks Verbindung zur den Plänen einer notfalls gefälschten Mondlandung („Stanley Kubrik und der Mann im Mond“) oder THE RUTLES: ALL YOU NEED IS CASH (1978) von und mit Monty-Python-Eric Idle über eine fiktive Pop-Superband – Fakedoku und zugleich Parodie auf die Beatles. Anders wiederum Rob Reiners THIS IS THE SPINAL TAP (1984): ein Spoof, der eine echte Band hervorbrachte.

Wie weit die Idee der Mockumentary bzw. derartiger Fälschungen zurückgeht, lässt sich kaum sagen, allein schon weil es erfundene Wahrheiten (sprich Nachrichten) und Übertreibungen bis hin zur reinen Erfindung gegeben haben dürfte, als Menschen miteinander kommunizieren. Bis hin, dass ein erlegter Büffel mehr auf die Höhlenwand gemalt wird. Oder zwei. Oder ein Elefant. Oder ein fabelhaftes Wesen, das es noch nicht gegeben hat. Bis dahin.



Aber bleiben wir beim Fantastischen, bei scheinbar echten Dokumenten über das Grauen. Im Grund lässt sich THE BLAIR WITCH PROJECT, PARANORMAL ACTIVITY & Co. erzählerisch bis auf Bram Stokers Dracula und Mary Shelleys Frankenstein oder der moderne Prometheus zurückführen (wenn nicht gar viel weiter). Beides waren Briefromane, die, wie viele andere Bücher dieser Zeit (bis hin zu Goethes Werther), auf ihre Weise ein Stilmittel der Authentizität benutzten – eben die Briefform –, um eindringlicher weil näher an der vermittelten Alltagskommunikation zu sein.

In der Pressegeschichte ist wiederum der Fall der New York Sun aus dem Jahr 1934 berühmt geworden, in der von einem südafrikanischen Superteleskop berichtet wurde, durch das geflügelte Wesen auf dem Mond beobachtbar seien – ein Scoop, der fast eine Woche ausgeschlachtet wurde, obwohl alles großer Quatsch war, und der der Sun immense Verkaufszahlen einbrachte, so wie verhältnismäßig zu ihren Kosten BLAIR WITCH PROJECT und jetzt PARANORMAL ACTIVITY volle Kinosäle bescheren.

Auf der Bildebene reicht die Tradition zurück bis zu den Geisterfotografien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (angefertigt schon 1862 durch den Bostoner William Mumler oder durch den Crewe-Kreises, von denen auch Sherlock-Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle beeindruckt war) bis hin zu den neueren Aufnahmen von Bigfoot, UFOs und dem Monster von Loch Ness. Verwaschen, wackelig - kurz: in schlechter Qualität – dies war damals schon der Beleg für „Echtheit“. Und auch die Horror-„Mockumentaries“ sind nicht (nur) so „unansehnlich“ ausgefallen, weil es billig ist, so zu drehen, sondern – dies ist eben die Bedingung -, weil sie auf diese Weise für Wirklichkeitsnähe steht. Denn, so die zwingende Logik, in einer Zeit der allgegenwärtigen Inszenierung muss es einen guten Grund dafür geben, wenn Bilder schlecht sind. Und von den Aufnahmen von Mutters Geburtstagsfeier bis hin zum Footage aus der Kriegszone, wo Stativ und Lichtkoffer nun mal nicht zur Hand sind, bieten diese Aufnahmen daher den Marker „Wirklichkeit“ und heben wie weiland der Briefroman das Fiktive auf die Wahrnehmungsebene des Realen, wo denn auch so manche „Abwehrmechanismen“ gegenüber dem Erdachten und Erdichteten ausgeschaltet, die eigene Sinngebungsleistung herausgefordert und damit emotional anders und bisweilen intensiver involviert wird.

Diese Ästhetik im besonderen Sinn (also die Wahrheitserfahren über die Sinne, nicht durch die Abstraktion des Geistes) schafft mit leichter Hand etwas, das LADY IN THE LAKE (1947) noch linkisch versuchte und was in seinen Kurzeinsätzen im Film (von Mulvey), vor allem im Horrorfilm (bis Clover) diskutiert wurde, auf leichte Hand einzuführen: die Subjektive, die – zumindest bei THE BLAIR WITCH PROJECT – filmfüllend wurde. Das „Wer sieht hier“ der fiktionalen Erzählung wird hier ebenso leicht erklärt, wie sich dadurch ganz neue theoretische Welten so auftun wie sich die „dritte Wand“ zum Publikum hin öffnet. Wir als Zuschauer sehen das, was der / die Protagonist(en) sieht/sehen, ganz direkt und unmittelbar. Das eröffnet nicht nur neue Räume, sondern treibt aus diesen auch den „impliziten Erzähler“ oder andere vermittelnde Instanzen zumindest teilweise, jedoch mit Wucht aus. Wir sind mitten drin, nicht nur dabei.

Wie sieht es denn aber aus, im Horror-Fakedoku-Subgenre? THE BLAIR WITCH PROJECT war vielleicht der einflussreichste, nicht aber der erste dieser Filme. Sicher gab es noch frühere. Ohne größere Recherche ist mir nicht nur der bisweilen mit BWP im DVD-Doppelset vertriebene THE LAST BROADCAST (1998) im Gedächtnis, eine „echte“ Doku über ein mörderisch endendes Radioereignis im Wald, die am Ende den unverzeihlichen Fehler macht, aus seiner Fake-Doku-Ebene in die des fiktionalen Erzählens zu treten.
Davor noch gab es den kanadischen THE MCPHERSON TAPE (1997), der (wohl) nur im Fernsehen lief, und in dem Aliens eine ländliche Familienfeier stören (und damit ein wenig M. Night Shyamalans SIGNS [2002] vorwegnehmen).

Nach BLAIR WITCH PROJECT kamen natürlich eine Reihe Nachahmer (wie z.B. Ted Nicolaou und sein THE ST. FRANCISVILLE EXPERIMENT [2000]), die vor allem von der Preisgünstigkeit des Konzepts gelockt wurden. Wobei man es natürlich auch teuer und groß haben kann: CLOVERFIELD (2008) verband die beiden konträrsten Ecken des Genres: Den gigantomanischen Monsterhorror der Marke GODZILLA mit dem froschperspektivischen Fakedokugrusel.



Dass diese nur bedingt funktioniert, merkte man an den dann doch widerstrebenden Dramaturgien, unter denen der Film litt. Besser schon der spanische [REC] (2007), der ein Kamerateam, das ein Feuerwehrteam begleitet, in einem abgeriegelten Haus in eine Zombie-Heimsuchung geraten lässt. Das US-Remake des Ganzen hieß QUARANTINE (2008). Auf die Macht der kleinen Bilder und die durchmedialisierte Welt von YouTube und HandyCam kam wiederum der Pate der Lebenden Toten, George A. Romero, mit DIARY OF THE DEAD (2007). Was vom Menschen übrig bleibt, sind Bilder, die alles bedeuten und nichts mehr heißen mögen.



Auch Deutsche, natürlich, haben sparfüchsig das Mittel entdeckt, so für DIE EYLAND RECHERCHE (2008) (schon wieder eher eine Mockumetary) oder der von Abiturienten gedrehte und gerade deswegen, wegen seiner Unbeholfenheit, überaus sympathische THE DARK AREA (2000), der auf motivierende Weise zeigt, dass es dank des Mockumentary-Horrors doch so etwas wie gibt wie ein zutiefst demokratisches (Sub-)Genre.

Halloween in Mannheim

Dass Halloween diesmal auf einen Samstag fällt, ist natürlich mehr als ein glücklicher Zufall für die monatliche "Grindhouse"-Reihe im Mannheimer Cinema Quadrat. Vermutlich resultiert dieses höllische Zusammentreffen aus dem Wirken dämonischer Mächte, die Boris Becker (nein, nicht der Boris...) als Organisator der Reihe beschworen hat.
Am 31.10. laufen ab 21.30 Uhr wie immer zwei Filme im Double Feature:

PANISCHE ANGST (HE KNOWS YOU'RE ALONE)
USA 1980. R: Armand Mastroianni. D: Caitlin O'Heaney, Elizabeth Kemp, Tom Rolfing. 94 Min. EOF. Dig. Proj. FSK: ab 18
Studentin Amy fühlt sich verfolgt: Immer wieder taucht ein unheimlicher Mann in dunkler Kleidung in ihrer Nähe auf. Mit ihrer halbwüchsigen Schwester allein zu Haus, leisten ihr nur zwei Schulfreundinnen und ihr Exfreund seelischen Beistand. Sie alle sind der Meinung, dass sie ihren Freund Phil sausen lassen und sich wieder mit dem Ex zusammenzutun soll. Dabei gibt es einen Mann um den sie sich viel größere Sorgen machen müsste...
PANISCHE ANGST ist ein fast vergessener Beitrag zur Schlitzerfilm-Welle zu Beginn der 80er Jahre. Aus zwei Gründen aber eben nur "fast": Zunächst wird er gern als einer der ersten und vor allem dreistesten Halloween-Ripp-Offs, die das Licht der Kinoleinwand erblickten genannt, zweitens ist Tom Hanks hier in seinem allerersten Filmauftritt zu sehen.

SCHOCK (ESCALOFRIO)
ESP 1977. R: Juan Piquer Simón, Carlos Puerto. D: Ángel Aranda, Sandra Alberti, Mariana Karr. 82 Min. SpOmeU. Dig. Proj. FSK: ab 18
Andy und Thelma, ein Paar welches in Madrid lebt, treffen eines Tages das Paar Bruno und Anne. Die laden Andy und Thelma unter falschen Vorwänden auf ihren Landsitz ein. Als die vier dort ankommen zieht ein mächtiger Sturm auf und Andy und Thelma sind gezwungen über Nacht zu bleiben. Die Paare beschäftigen sich nach kurzer Zeit mit der Kommunikation mit Geistern. Bald kommt es zum Streit, Thelma hatte eine Affäre mit Andys Bruder, Bruno wird von Anne wegen seinem Selbstmordversuch kritisiert. Das ist allerdings nur der Anfang... Surrealer Horrorthriller aus Spanien mit okkulten Elementen.

Filmreihe zu Horrorfilm-Seminar

Zum Proseminar "Geschichte und Ästhetik des Horrorfilms" von Dr. Andreas Rauscher, die in Zusammenarbeit mit Bernd Zywietz, M.A. ab dem kommenden Semester an der Mainzer Filwissenschaft veranstaltet wird, zeigt das Murnau-Filmtheater in Wiesbaden eine Reihe von - oh Wunder! - Horror-, Grusel- Schauerfilme. Die sind nicht nur ausgesucht, sondern bisweilen nur noch seltenst im Kino zu sehen.


Die Double-Feature-Reihe startet am 6.11. um 18.oo Uhr mit dem Klassiker "Der Golem" von Henrik Galeen und Paul Wegener aus dem Jahre 1914. Um 20.15 Uhr folgt - zum 30. Geburtstag - John Carpenters Original-"Halloween" in einer raren 35mm-Kopie aus dem Archiv der Warner Bros.

Am 11.12. folgen um 18.oo Uhr der innovative, klaustrophobische "Descent".
Um 20.oo Uhr ist der kontrovers diskutierte französische Film "Frontiere(s)" zu sehen - ein Vorschlag der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK), die die Reihe mitbegleitet und die anhand von "Frontier(s)" ihre Freigabepolitik und die veränderten Darstellungskonventionen im Horrorfilm diskutieren wird.

Weitere Termine folgen im nächsten Jahr.

Übrigens:
Das Murnau-Filmtheater der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung befindet sich im dieses Jahr eröffneten Wiesbadener Filmhaus in der Nähe des Schlachthofs und Wiesbadener Hauptbahnhofs.

Das neue Murnau-Filmtheater

Schon etwas länger auf, aber noch nicht jedem aufgefallen: das Kino der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden.

Daher aus der Meldung der Stiftung:

Das Murnau-Filmtheater im Deutschen Filmhaus bereichert ab 1. April das Wiesbadener Kulturleben mit einem filmhistorischen und vielfältigen Kinoprogramm. Das moderne und komfortable Kino (100 Plätze) ermöglicht es der Stiftung den lange gehegten Traum zu erfüllen, ihre bundesweit einzigartigen Bestände und Klassiker aus den Archiven befreundeter Institutionen auf der Kinoleinwand zu präsentieren. Natürlich können nicht nur Einrichtungen des Deutschen Filmhauses, sondern auch interessierte Dritte das Kino für Veranstaltungen, Vorstellungen und Premieren nutzen.

Das Murnau-Filmtheater versteht sich nicht als Konkurrenz zur Caligari FilmBühne, sondern als filmkulturelle und -historische Bereicherung des Angebots.

Infos HIER


Feste Vorstellungstermine sind mittwochs (15:30 Uhr und 20 Uhr) und freitags (18 und 20 Uhr), weitere Vorstellungen finden an wechselnden Terminen statt. Bei der Programmgestaltung arbeitet die Stiftung mit dem Deutschen Filminstitut – DIF e.V. zusammen.

(Quelle: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung)

Deutsches Filmmuseum in Frankfurt

... wird komplett saniert. Also das Gebäude am Schaumainkai in Frankfurt. Das ist schön. Doch was wird in der Zwischenzeit?


Das Deutsche Filmmuseum wird bis zum Frühjahr 2011 baulich komplett erneuert und erhält eine neue Dauerausstellung. Die Arbeiten beginnen noch in diesem Herbst und dauern insgesamt 18 Monate.

Zeitplan und Publikumsbetrieb an anderen Orten:

Für die bauliche Erneuerung wird das Deutsche Filmmuseum über 18 Monate hinweg geschlossen sein, die Neueröffnung ist für April 2011 geplant. Die am Museumsufer ansässigen Archive des Instituts (Text- und Bildarchiv) und die Bibliothek schließen Ende September. Die weiteren DIF Archive mit Standorten in Frankfurt (Gerätearchiv, Dokumentationszentrum Rödelheim mit Plakatarchiv, Sammlungen und Nachlässen) und Wiesbaden (Filmarchiv mit Verleih, Digitales Department) führen ihren Publikumsbetrieb fort.

Die Dauerausstellung schließt Ende Oktober, der Spielbetrieb des Kinos endet im November 2009. Während der Schließung wird das Deutsche Filminstitut punktuell seine Angebote weiterhin präsentieren und im Kulturleben präsent bleiben. So kooperiert es beispielsweise an der interdisziplinären Ausstellung „Gesamtkunstwerk“ mit der Darmstädter Mathildenhöhe (Oktober 2010 bis Januar 2011), das Internationale Kinderfilmfestival LUCAS wird auf anderen Kinoleinwänden zu sehen sein, ebenso wie Klassiker & Raritäten oder das Kinderkino.

Die Frankfurter Kinowoche mit Filmen an ungewöhnlichen Orten wird im kommenden Jahr ausgebaut. Ebenso werden die filmpädagogischen Angebote für Schulen und Gruppen sowie Museumspädagogik an anderen Orten angeboten. Die Ausstellungen Anime und Stanley Kubrick setzen im kommenden Jahr ihre internationale Tour fort.

Darüber hinaus geht die publizistische, wissenschaftliche und archivarische Arbeit des Deutschen Filminstituts weiter. Die DIF-Archive, deren Reorganisation und Verlagerung bereits teilweise stattgefunden hat, nutzen die Zeit, um Bestände weiter zu bearbeiten und zu digitalisieren.

(Quelle: DIF)

Ausführliches zum Filmmuseum und dem Umbau finden Sie als .pdf-Datei HIER

Veranstaltungstipp: exground film des monats (28.10.09)

Am Mittwoch, den 28.10.2009 (20.oo Uhr) zeigt die Wiesbadener Caligari FilmBühne zur Einstimmung auf Halloween:



ORPHAN
von Jaume Collet-Serra
USA/CAN 2009, 123 Min., Originalfassung, FSK: ungeprüft

Jaume Collet-Serra (HOUSE OF WAX) inszenierte die Geschichte über ein adoptiertes Waisenkind, hinter dessen unschuldigen Engelsgesicht sich teuflische Geheimnisse verbergen, nach einem Drehbuch von David Leslie Johnson und der Story von Alex Mace:
Als Kate eine Fehlgeburt erleidet, sind sie und ihr Mann John völlig verzweifelt: Der schwere Verlust wirkt sich nicht nur auf ihre Ehe aus, sondern vor allem auf Kates labile Psyche. Sie wird von Albträumen heimgesucht, ihre Vergangenheit lässt sie nicht los. Um zu einem normalen Leben zurückzufinden, wollen die beiden nun ein Kind adoptieren. Im Waisenhaus fühlen sich John und Kate auf unerklärliche Weise zu der kleinen Esther hingezogen. Doch sobald Esther bei ihnen einzieht, beginnt eine Serie alarmierender Ereignisse – Kate ist überzeugt, dass mit dem Kind Gravierendes nicht stimmt: Das unschuldige Auftreten der Kleinen ist offenbar nur Fassade. Kate wähnt ihre Familie in großer Gefahr – sie versucht John und ihre Freunde dazu zu bringen, hinter Esthers Engelsgesicht zu schauen. Doch stoßen ihre Warnungen auf taube Ohren… und womöglich ist es längst zu spät.

Regie: Jaume Collet-Serra; Buch: David Johnson, Alex Mace; Kamera: Jeff Cutter; Mit: Peter Sarsgaard, Vera Farmiga, Isabelle Fuhrman, CCH Pounder

(Quelle: exground)

FILMZ 2009: 6 Tage - und Ehrengast Mario Adorf!

Es war auch bitter nötig, der eine Tag mehr! So proppevoll war das Programm im letzten Jahr, es war eine (freilich süße) Qual, vor lauter Sich-entscheiden-müssen.

Das FILMZ 2009 - Festival des deutschen Films fängt nun schon am Dienstag an, und zwar am 24. November 2009. Der Hauptpreis, das Mainzer Rad wird dann abschließend am Sonntag, den - richtig! - 29. vergeben.

Ehrengast ist diesmal ein Schauspieler: Kino- und TV-Star Mario Adorf.

Infos zum FILMZ gibt's HIER

Hofer Filmtage - Nächste Woche geht es los!

Screenshot schickt den rasenden Reporter los, um ab nächster Woche sehr, sehr live und möglichst täglich aus dem fränkischen Hof zu berichten: Denn dort starten am 27.10. die 43. Internationalen Hofer Filmtage.

Und das Beste ist: zwei der Hof-Filme habe ich schon vorab zu sehen die Möglichkeit gehabt.
"66/67 - Fairplay war gestern" von Carsten Ludwig und Jan-Christoph Glaser kommt am 19.11. in die Kinos, Pressevorführungen zu dem Film haben daher bereits stattgefunden. Das ist ein Film über Fußballhooligans - der Titel ist da etwas suboptimal gewählt, weil er halt rein gar nichts aussagt und wahrscheinlich auch kein Laufpublikum ins Kino locken wird. Einige der besten, naja: zumindest aufregendsten deutschen Jungschauspieler spielen mit, zum Beispiel Fabian Hinrichs, Maxim Mehmet, vor allem Christoph Bach, der immer wieder in rauen, gegen den Strich gebürsteten Filmen mitspielt. Und ein solcher ist auch "66/67", und das ist gut so: er ist kompromisslos, wie seine Filmfiguren. Die sind Anfang, Mitte 30, eigentlich müsste es jetzt mal losgehen mit dem richtigen Leben für sie, aber sie hängen immer noch zusammen in ihrer Clique, in ihrem Eintracht-Braunschweig-Fanclub, der nach der Saison benannt ist, als ihr Verein die deutsche Meisterschaft erringen konnte: 1966/67 war das gewesen, bevor sie geboren waren...
Jetzt unterstützen sie ihren Verein nach wie vor im Stadion, auch wenn er knapp über der 4. Liga rumkraxelt; und nach dem Fußballgucken schlägern sie sich, machen Krawall, hauen Kneipen und gegnerische Fans kurz und klein und haben Spaß dabei.
Doch nein: es geht bei Glaser und Ludwig weniger um das soziologisch-psychologische Phänomen des Hooliganisms, zumindest nicht als Betroffenheitsduselei und/oder aufrüttelnden Aktivismusimpuls. Es geht mindestens genauso wie um die sinnlose Gewalt um die Freundschaft der Fanclubmitglieder, die nur durch die nach außen gezeigte Stärke erhalten bleibt: wenn die anderen Feinde sind, müssen die Freunde umso mehr loyal zueinander stehen. Und natürlich geht es bei den Schlägereien und der Randale auch darum, dem eigenen Leben einen wenn auch destruktiven Sinn zu verleihen - wenn schon die Zukunft ungewiss ist, die Freundin abhaut und jeden Zukunftsplan zerstört oder der Umgang mit der eigenen Homosexualität schwieriger und schwieriger wird.
Glaser und Ludwig haben ihr Drehbuch perfekt getrimmt, das Timing der Szenen ist superb, die Dialoge genau richtig, und die Inszenierung raffiniert: oft genug spielen sich zwei, drei Handlungselemente in einer Szene gleichzeitig ab, überlagern einander, spielen sich gegenseitig aus und sind doch so komponiert, dass nichts verloren geht. Die Chronologie wird beinahe unmerklich durcheinandergeschüttelt, so dass der Plotfortgang etwas Assoziatives bekommt; und mitunter springt der Film einfach in eine andere Ebene, plötzlich sind wir in Istanbul - Florian und Otto haben sich gerade Pillen eingeworfen, und auch das ist ein Ausweg aus dem Leben, in dem sie feststecken.

Dass ich einen weiteren Hof-Film schon sehen konnte, verdanke ich dem fantastischen Fox-Verleih, der den "Fantastischen Mr. Fox" nur weniger Tage nach dessen Londoner Welturaufführung auf der Frankfurter Buchmesse präsentierte - Kinostart ist erst im Februar. Das ist der neue Film von Wes Anderson, und dass der sich lohnt, versteht sich ja wohl von selbst. Es ist, ja tatsächlich: ein Animationsfilm geworden, und das ist durchaus passend und folgerichtig für Andersons Oeuvre, denn auch seine Spielfilme benutzen eifrig graphische Elemente: die exzessive Buntheit, die extremen Zeitlupen, die bühnenhaften Querschnitte durch die Szenerie, und natürlich die wunderschöne Fischwelt in "Life Aquatic with Steve Zissou"... Nun hat er einen Film ganz im Puppentrick gemacht, eine Kindergeschichte nach Roald Dahl vom Fuchs, der sein bürgerliches Leben aufgibt und seine frühere wilde Zeit als großer Hühnerdieb wieder aufleben lassen will: er überfällt erfolgreich die Farmen von Boggis, Bunce und Bean; doch die schlagen zurück, mit allen Mitteln, verjagen ihn, schießen auf ihn, graben nach ihm, belagern ihn wie auch alle anderen Tiere der Umgebung, und da muss sich der schlaue Fuchs einiges einfallen lassen, um sich und alle aus der Bredouille zu befreien: Pfiff Pfiff, Zungenschnalz!
Das ist das coole Markenzeichen von Mr. Fox, und es es wunderbar, wie sich diese Figur einfügt in die Rollengeschichte von George Clooney, der ihn spricht: schlau, gerissen, charmant, einnehmend, einfallsreich, wortgewandt, ironisch und total cool. Auch wenn Mimik und Gestik und Aussehen von Fox wenig von Clooney haben, treffen sich in diesem Film Clooneys darstellerischer mit Andersons inszenatorischem Witz - der ganz ausgeklügelt in seinen Film - wieder einmal - die Mechanismen von Film-Standardsituationen offen legt und sie zugleich gewinnbringend für sich nutzt: wie er hier etwa die Heistfilm-Topoi (in denen "Ocean" Clooney ja firm ist) mit Finesse verwendet und zugleich ironisch desavouiert...
Und wer hätt's gedacht: natürlich spielen auch wieder Familienprobleme eine Rolle, diesmal, weil dem Fox-Sohn Ash ein Cousin Christoffer zugesellt wird, der ein Naturtalent in allem ist und deshalb ganz schnell zum Konkurrenten um Papas Gunst wird. Beispielsweise im Whackbat-Spiel, in dem Papa Fox früher mal Meister war und in dessen Fußstapfen nun nicht Ash, sondern Christoffer tritt. Eine unglaublich wild-wahnsinnig-unsinnige Baseball- und Cricket-Variante ist das, für die wohl Lewis Carroll Pate gestanden hat.

PS: Von Screenshot-Autor Alexander Gajic erreicht mich die Nachricht über eine Mail des ehemaligen Screenshot-Autors Carsten Kurpanek aus Amerika, der eine Variety-Kritik von "Fantastic Mr. Fox" zitiert: Dies sei der zweite Film in diesem Jahr, in dem ein sprechender Fuchs vorkomme; hier gebe es aber keine Genitalverstümmelung.
Was nur bedingt richtig ist: Mr. Fox wird der Schwanz abgeschossen. Im Übrigen spielt Willem Dafoe in beiden Filmen mit.

Mehr Infos unter www.hofer-filmtage.de

Harald Mühlbeyer

Die Wahrheit liegt irgendwo da unten - "Life Aquatic with Steve Zissou"

von Harald Mühlbeyer

THE LIFE AQUATIC WITH STEVE ZISSOU
USA 2004.
R: Wes Anderson. B: Wes Anderson & Noah Baumbach. D: Bill Murray, Owen Wilson, Cate Blanchett, Willem Dafoe, Jeff Goldblum, Anjelica Huston. L: 118 Min.

Am Ende von Wes Andersons THE LIFE AQUATIC WITH STEVE ZISSOU wird die von Steve Zissou, dem Ozeanforscher, gedrehte Expeditionsdokumentation auf einem Filmfestival sehr wohlwollend aufgenommen, und das ist natürlich pure Ironie. Denn natürlich referiert Zissous Film im Film auch auf Wes Andersons Film, und das ist eine teure Produktion mit vielen Stars – doch um die Bedürfnisse des Publikums, zumindest um die von den Hollywoodstudios vorausgesetzten, um die Konventionen der Komödie schert sich Andersons Film nicht. Steve Zissou, der auf den Stufen vor dem Festivalkino hockt, ist mit seiner Welt ausgesöhnt, wenn seine Doku nicht ausgebuht wird – zumindest soweit ein Steve Zissou ausgesöhnt sein kann, wenn er von einem stets traurig dreinblickenden Bill Murray gespielt wird; ähnlich wird es Wes Anderson gehen, wenn sein absurder Film nicht den Bach runtergeht, sondern halbwegs Anklang findet – auch er muss schließlich Geldgeber für seinen nächsten Film finden.
Klar: Viele werden seinen Witz, seinen Nonsenshumor nicht begreifen: der kindische deutsche Titel DIE TIEFSEETAUCHER sagt alles. Von Helge Schneider gibt es ein Stück, in dem er von einer Reise mit Kapitän Jacques Cousteau erzählt, es ist eine "Phantasie in Blau". Wes Anderson scheint in seiner bunten Phantasie diese Helge-Geschichte weitererzählt zu haben, in einem Hollywoodfilm.

Steve Zissou ist ganz und gar unten, denn seine Meeresdokumentarfilme kommen nicht mehr an. Das liegt vielleicht daran, dass man die Tragik der Geschichten einfach nicht begreifen kann, wenn Steves Freund von einer neu entdeckten Spezies, dem Jaguarhai, verspeist wird, man diesen Hai aber nie zu Gesicht bekommt: Zissou hatte leider gerade keine Kamera dabei. Immer wieder in den Film eingestreut sind Zissous dilettantisch inszenierten Dokus, die ganz offensichtlich nachgespielte Szenen enthalten. Und immer wieder wird die Echtheit dieser Dokus bezweifelt, das Wahre und das Falsche beschäftigt die Filmfiguren sehr: Das ist eine der Meta-Ironien, die der Film enthält, der durch das Überlagern verschiedener (Ironie-)Schichten unter seiner Oberfläche eine neue Künstlichkeit kreiert, die durch die Hintertür wieder zurückgeführt wird auf die Wahrheit einer höheren Ebene, einer Ebene des Absurden.
Denn natürlich ist alles doppelbödig, mindestens.

Normalerweise freilich ist die Ironie im Subtext versteckt, Wes Anderson verwendet aber die Ironie als den Text der Oberfläche – um sich im Subtext über die Ironie der ersten Ebene lustig zu machen. Das geht schon bei den Dialogen los, die prägnant sind, lakonisch und pointiert, und stets so vorgetragen werden, als würden sie gerade das erste Mal aus dem Drehbuch verlesen. Das Team Zissou besteht aus lauter abgewrackten Figuren, die nichts besseres im Leben zu tun haben – aber sie sind mit größtem Ernst bei der Sache, sie haben früher mal viele hochgelobte Dokumentationen gedreht (diesen alten Zeiten trauern sie nach), und zumindest sie selbst halten sich für Wissenschaftler. Die Figuren sind künstlich erschaffene Chiffren für Irgendetwas, sie sind hingestellt als eindimensionale Funktionen im Sinne der (mehr als rudimentären) Handlung des Films – und gerade durch ihre ausgestellte Künstlichkeit erreichen sie den Mehrwert des skurrilen Nonsens. Bei all ihren Abenteuern lassen diese Figuren Ton und Kamera mitlaufen, immer darauf bedacht, Material für ihren nächsten 'wissenschaftlichen' Film zu drehen – und dabei aber auch nie den Publikumsgeschmack aus den Augen zu verlieren, deshalb darf sich Ned (Owen Wilson) einen Spitznamen für seinen (eventuellen) Vater Steve Zissou aussuchen und als dessen Sidekick auftreten, und deshalb ist Steve Zissou auch ständig auf der Suchen nach Tränendrüsenmotiven und nach Menschlichkeit in seiner Crew, um den emotionalen Gehalt seines Filmes zu erhöhen. Und dabei ist und bleibt jeder Zissou-Film ein komplett dilettantisches Machwerk.

Auch sehr viel subtiler ist die Ironie stets spürbar, wenn auch nur vage beschreibbar: Die Unterwasserwelten mit ihren vielfarbigen Tieren sind sichtbar computeranimiert, und die Zissou-Crew mit den roten Wollmützen und dem Z-Logo auf der Uniform ist komplett lächerlich – die rote Mütze ist eine Anspielung natürlich auf Jacques Cousteau, dem der Film gewidmet ist. Immer wieder spielt ein schwarzes Crewmitglied mit rotem Käppchen Gitarre und singt David-Bowie-Lieder auf portugiesisch. Einmal fährt die Kamera einen Querschnitt von Zissous Schiff, der Bellafonte, ab, und plötzlich ist der ganze Film ein Theaterstück, dessen Inszeniertheit selbst thematisiert wird.
Die Bilder sind stets arrangiert, in krassen Farbspielen wirkt die gesamte Mise en Scène stets so, als müsse sie uns an irgendetwas erinnern, nur wir kommen nicht drauf. Die Figuren sind hingestellt für die Kamera, so als wären sie von Steve Zissou inszeniert – oder als habe nicht Wes Anderson, sondern Max Fischer, der Protagonist aus RUSHMORE (USA 1998), Regie geführt.

Die Zissou-Mannschaft erlebt Seeabenteuer mit mythischen Untertönen, die der Film stets wieder umstößt. Die Suche nach dem großen bösen Jaguarhai, die die Odyssee auslöst, ist Melville und Hemingway, es gibt auf See Piraten und eine Meuterei, die aber dann gar nicht erst erwachsen wird. Der Sturm auf das Piratenhauptquartier ist in seiner Dschungelkampf-Variation eine der ganz großen Sequenzen der Filmgeschichte, zumindest der ironischen Filmklassiker – Team Zissou greift in Froschmann-Anzügen inkl. Schwimmflossen ein Hotel auf einer verwüsteten Südseeinsel an, sie sind wirkliche Marines, die aus dem Meer aufsteigen.
Und natürlich ist auf einer wichtigen Ebene der Film ein Kommentar auf das Gleichgewicht von Hollywood- und Independentfilmen, Zissou ist auf der ständigen Suche nach Geld, er muss versuchen, sein Publikum zu erreichen, ohne von seiner Vision zu lassen, und er muss einen Versicherungsspitzel erdulden, der über das Budget der zum Scheitern verurteilten Expedition wacht – das alles in einer teuren, von einer Disney-Tochter finanzierten unabhängigen Hollywoodproduktion.

Wes Andersons LIFE AQUATIC gelingt es, eine durch und durch absurde Geschichte hoch albern zu inszenieren und dabei ihren eigenen Nonsens wiederum zurückzuführen auf die Ebene der Ironie – und gerade dadurch schafft es der Film, Verbindungen aus dem andersonschen Paralleluniversum in die normale Welt herzustellen: Anderson greift mit seinen Filmen jegliche Versuche der Darstellung ironisch an, seine Absurdität führt auch das 'Normale' ad absurdum, und so ist der Film trotz, nein wegen all seiner Ironie und Metaironie in all seiner falsch erscheinenden Künstlichkeit auf Bild-, auf Figuren-, auf Handlungs- wie auf Dramaturgieebene auch wieder ein Film über den täglichen Kampf des Außenseiters, etwas zu erreichen, und sei es auch nur einen Film über einen riesigen Jaguarhai, der erst noch gefunden (erfunden?) werden muss, oder eine neue Künstlichkeit im Filmemachen, die Wes Anderson schon längst ge- wie auch erfunden hat.

Who Watches the Watchmen - "The Watchmen" auf BluRay

von Bernd Perplies

Watchmen – Die Wächter
USA 2009. Regie: Zack Snyder.
Darsteller: Billy Crudup (Dr. Manhattan / Jon Osterman), Jackie Earle Haley (Walter Kovacs / Rorschach), Jeffrey Dean Morgan (Edward Blake / The Comedian), Patrick Wilson (Dan Dreiberg / Nite Owl II), Malin Akerman (Laurie Jupiter / Silk Spectre II), Matthew Goode (Adrian Veidt / Ozymandias)
Vertrieb: Paramount Home Entertainment
Erscheinungsdatum: 20.08.2009
Länge: 162 min.
Bonusmaterial: Mechanik: Technologien einer fantastischen Welt (HD), Das Phänomen: Das Comic, dass die Comics änderte. (HD), Wahre Superhelden, Echte Wächter (HD), 11 Watchmen: Video Journale (HD), Virales Video, Musik Video (HD)


Viele Jahrzehnte lang waren Comic-Superhelden vor allem das eine: strahlende Kämpfer für die gute Sache, die in einer Welt, in der Schwarz und Weiß noch ziemlich deutlich voneinander getrennt waren, für Recht und Ordnung sorgten. Dann kamen die 1980er und mit ihnen Zeichner und Autoren wie Frank Miller, Neil Gaiman oder Alan Moore, die zahllose Graustufen einführten, aus einfachen Comic-Geschichten vielschichtige Werke machten und den Superhelden ihre Unschuld nahmen. Die vielleicht definitive Reflektion über das maskierte Vigilantentum stellt „Watchmen“ dar – das ist auch in jeder Minute des Films spürbar, den Zack Snyder („300“) drehte und der jetzt auf Blu-ray vorliegt.

Es ist das Jahr 1985, und irgendjemand hat den Comedian umgebracht. Der Comedian war ein Superheld im Ruhestand – im Ruhestand deshalb, weil die Bevölkerung ein paar Jahre zuvor entschieden hatte, dass sie genug von den selbsternannten Rächern hat, die verkleidet durch die Straßen ziehen, um der Polizei ihre Arbeit abzunehmen. Daraufhin hatten diese sich alle aus dem Geschäft zurückgezogen. Ein paar, wie Nite Owl II und Silk Spectre II, hörten einfach auf, ein paar, wie der Comedian und Dr. Manhattan (der einzige Held auf der Erde, der nach einem Laborunfall wirklich übermenschliche, ja gottgleiche, Kräfte hat) ließen sich von der Regierung abwerben, einer, der geniale Adrian „Ozymandias“ Veidt, enthüllte seine wahre Identität und gründete ein Multimillionen-Dollar-Industrie-Imperium. Nur einer der ehemaligen „Watchmen“, Rorschach, ein Getriebener, ging in den Untergrund und kämpfte weiter – illegal.

Rorschach ist es auch, dem der Tod des Comedian als Einzigem wirklich nahe geht. Er glaubt an eine Verschwörung. Er kennt zwar nicht die Hintergründe, aber die Welt befindet sich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges – Nixons Amerika und die UdSSR haben die Atomraketenarsenale bereits ausgerichtet und die Finger auf den Startknöpfen. Und irgendjemand scheint zu wollen, dass sich keine Helden, und seien es ehemalige, in die Situation einmischen. Rorschach versucht, die alten Mitstreiter zu aktivieren, doch Dr. Manhattan hat seine Menschlichkeit fast vollständig eingebüßt und interessiert sich kaum noch für die Bevölkerung des Blauen Planeten, und Nite Owl – im wirklichen Leben Daniel Dreiberg – mangelt es mittlerweile an Lebenszielen und -kraft. Er führt ein ehrbares, aber kleines Leben, dessen größter Pegelausschlag in der Überraschung besteht, als Silk Spectre eines Tages vor seiner Tür steht, weil sie sich von ihrem Lebenspartner Dr. Manhattan entfremdet hat. Erst als ein Anschlag auf Ozymandias verübt, Dr. Manhattan von der Erde vergrault und Rorschach in eine Falle gelockt wird, hört Nite Owl den Weckruf und macht sich daran, den Geschehnissen auf den Grund zu gehen.

Als „Watchmen“ von Autor Alan Moore und Zeichner Dave Gibbons 1986/1987 erstmals bei DC Comics als zwölfteilige Serie erschien, wurde schnell klar, dass hier eine ganze besonders Superhelden-Geschichte vorlag. Reflektionen über das Medium Comic und das Superheldentum mischten sich mit Kommentaren zum Amerika der 1980er Jahre. „Watchmen“ führte und führt dem Leser die menschlichen Abgründe hinter den mehr oder minder bunten Kostümen seiner Protagonisten vor Augen und fragte geradezu leitmotivisch: Welche Mittel heiligt der Zweck eigentlich? Wo muss die Grenze gezogen werden? Lange Zeit galt der Comic als unverfilmbar – zu komplex, zu umfangreich, zu sperrig in seinem Erzählduktus. Doch Zack Snyder hat es – bei allen Abweichungen, die er vornehmen musste, um die Geschichte für die Leinwand zu adaptieren – geschafft, die Kernthemen des Comics zu bewahren und mit spektakulären Bildern zu verbinden. „Watchmen“ ist zugleich herrlich und ernüchternd zynisch (sowie stellenweise recht brutal) und bietet außerdem einige der cleversten und komplexesten psychologischen Profile selbsternannter Rächer, die jemals im Bewegtbild präsentiert wurden.

Die Blu-ray kann mit einem großartigen Bild und sehr gutem Ton aufwarten. Hier macht sich das neue Medium wirklich bemerkbar. Das Bonusmaterial, das auf der zweiten Disc untergebracht ist, umfasst zwar nur zwei Stunden (leider gibt es beispielsweise keinen Audiokommentar, wobei ein solcher im Falle von „Watchmen“ sicher hochinteressant gewesen wäre), aber diese zwei Stunden sind gut angelegt. Zunächst wären da drei Features. „Das Phänomen: Der Comic, der die Comics änderte“ (29 Min.) widmet sich der Bildergeschichte von Moore und Gibbons. Es werden die Entstehung, aber vor allem auch die Brüche mit den Genretraditionen – von der Figurengestaltung, über die Farbgebung, bis hin zum a-sequenziellen Erzählen – thematisiert. In „Wahre Superhelden, echte Wächter“ (26 Min.) wird die Frage gestellt, inwiefern kostümierte Vigilanten in der Wirklichkeit existieren und ob ihr Wirken eher gut oder fragwürdig ist. Hier kommen Experten auf der Seite des Gesetzes ebenso zu Wort wie Sprecher der „Guardian Angels“ und verkleidete Einzelgänger, die in ihrem New Yorker Viertel auf Streife gehen.

„Mechanik – Technologien einer fantastischen Welt“ (17 Min.) befasst sich mit der Physik hinter Superheldengeschichten. Ein Physikdozent, der als Berater beim Dreh dabei war, erklärt, inwiefern das auf der Leinwand zu Sehende tatsächlich physikalisch korrekt ist – wobei er anmerkt, dass jeweils eine wundersame Grundannahme akzeptiert werden muss (etwa Dr. Manhattans Kontrolle über seine Atome), auf der dann alles andere logisch aufbaut. Des Weiteren befinden sich die 11 „Watchmen-Making-Of-Webisodes“ (ca. 35 Min.) auf dem Silberling, die schlaglichtartig Einzelaspekte der Produktion beleuchten. Ein Musikvideo (3 Min.) und ein Fake-Nachrichtenbeitrag über Dr. Manhattan (3 Min.) runden das Bonusmaterial ab.

Fazit: Es mag sein, dass der Comic von Alan Moore und Dave Gibbons noch besser ist (viele Kenner bestehen sogar darauf), aber auch „Watchmen“ – der Film – braucht sich nicht zu verstecken. Nachdem Comic-Verfilmungen jahrelang zumeist eher laute, bunte Popcorn-Vehikel ohne sonderlich viel Tiefgang waren, wird hier eine „erwachsene“ und in ihren Inhalten diskussionswürdige Superhelden-Geschichte geboten, die trotzdem in tollen Bildern zu schwelgen vermag. Die Blu-ray überzeugt sowohl in Bild und Ton, und auch das Bonusmaterial ist durchaus sehenswert, wenngleich man sich – angesichts des komplexen Themas – einen oder sogar zwei Audiokommentare gewünscht hätte. Wer den Film noch nicht kennt, dem sei er hiermit empfohlen!

Nachdem das gesagt wurde, muss allerdings auf einen Wermutstropfen hingewiesen werden: Die in Deutschland erhältliche Blu-ray enthält „nur“ die Kinofassung. Diese ist 162 Minuten lang und im Grunde schon sehr sehenswert (wie oben beschrieben). Fans schauen allerdings voller Neid in die USA, wo nicht nur ein 24 Minuten längerer „Director’s Cut“ existiert, sondern ab Anfang November auch ein 251 Minuten langer „Ultimate Cut“, in welchen die animierten „Tales of the Black Freighter“ – in Moores Vorlage ein die normale Handlung spiegelnder Superhelden-Comic im Comic – einmontiert wurden. Ob man diese längeren Versionen wirklich braucht, kann ich nicht beurteilen (die Stimmen zum „Director’s Cut“ gehen jedenfalls auseinander). Für Komplettisten wird die deutsche Blu-ray jedoch stets unvollständig bleiben. Eine Veröffentlichung der anderen beiden Editionen hierzulande ist allerdings laut Paramount in absehbarer Zukunft nicht geplant.

In unserem Screenshot-Amazon-Shop können Sie ganz einfach bestellen: Die BluRay-Edition, die 2-Disk-DVD-Edition, die Einfach-DVD-Edition und die (sehr lesenswerte) Comicvorlage.

"Entstation der Sehnsüchte" von Sung-Hyung Cho

Am Sonntag, den 18.10., findet im Mainzer Capitol-Kino eine Preview des Kinofilms ENDSTATION DER SEHNSÜCHTE statt. Die Veranstaltung findet in Anwesenheit der Regisseurin Sung-Hyung Cho (FULL METAL VILLAGE) und Akteuren des Films statt.

ENDSTATION DER SEHNSÜCHTE schildert die Rückkehr dreier koreanischer Frauen nach über dreißig Jahren, in denen sie in Deutschland als Krankenschwestern arbeiteten, in ihre Heimat Südkorea. Dort leben sie mit ihren deutschen Ehemännern im „Deutschen Dorf“, das mit seinen roten Ziegeldächern, Gartenzwergen, Bockwurst und Vollkornbrot zur Touristenattraktion geworden ist. Mit Humor und Einfühlungsvermögen erkundet die gebürtige Koreanerin Sung-Hyung Cho die Untiefen dieses kulturellen Balanceakts.

Der Film wird von einer koreanischen Volkstanzgruppe eingestimmt. Filmbeginn ist 18.15 Uhr.
Im Anschluss präsentiert Sung-Hyung Cho als Ehrengast den koreanischen Arzt Lee Su-Kil, der Ende der 60er Jahre in einem deutschen Krankenhaus arbeitete und dem damaligen Pflegenotstand entgegenwirken wollte. Er war der Initiator, dass Tausende von Krankenschwestern, die in Süd-Korea keine Arbeit fanden, Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre als Gastarbeiterinnen nach Deutschland kamen.Der Mitveranstalter, der deutsch-koreanische Freundeskreis Mainz e.V. wurde 1985 von den beiden Protaginisten des Films, Ludwig Straus-Kim und seiner koreanischen Frau Kim Woo-za gegründet.
Die ersten 30 Zuschauer, die in einer koreanischen Tracht erscheinen, haben freien Eintritt.

Weitere Infos zum Film unter www.zorrofilm.de.

Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg

Es gibt erste Daten für das diesjährige Internationale Filmfest Mannheim-Heidelberg, das vom 5. bis 15. November in verschiedenen Kinos der beiden Städten stattfinden wird.


5. November 2009: Opening Night mit dem belgischen Eröffnungsfilm "Meisjes" von Geoffrey Enthoven.

6. November 2009: Preisverleihung "Master of Cinema" an Atom Egoyan

11. November 2009: Kick off der MANNHEIM MEETINGS (11 bis 15 November)

12. November 2009: Verleihung des FILMKULTURPREIS MANNHEIM-HEIDELBERG

15. November 2009: Closing Night und Preisverleihung

Alle Infos zum Festival unter http://www.iffmh.de!

Miyazaki 2.0 – Prinzessin Ponyos Reise ins Tal der Wellen

von Maximilian Miguletz

„Ponyo – Das verzauberte Goldfischmädchen“ („Gake no ue no Ponyo“)
J 2008, Regie: Hayao Miyazaki; Buch: Hayao Miyazaki; Kamera: Atsushi Okui; Musik: Joe Hisaishi; Produktion: Toshio Suzuki, Hayao Miyazaki, Koji Hoshino.
Sprecher (OV): Yuria Nara (Ponyo), Hiroki Doi (Sosuke), Jôji Tokoro (Fujimoto), Tomoko Yamaguchi (Risa), Yuki Amami (Guranmamare), Kazushige Nagashima (Kôichi), Akiko Yano (Ponyo no kyôdai), Shinichi Hatori (Anchorman).
Laufzeit: 100 Minuten

Ich höre auf. Ich höre nicht auf. Ich mache Schluss. Einer geht noch. Als zupfte er Blütenblätter. Zwei Mal – nach „Prinzessin Mononoke“ (1997) und nach „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001) – hat Hayao Miyazaki bereits seine Rentenzeit eingeläutet, zwei Mal gab’s den Rücktritt vom Rücktritt inklusive weiterem Zuwachs zu seinem bemerkenswerten Oeuvre. Und jetzt das: kein CGI, kindgerechter, alles irgendwie weniger episch, keine Flugmaschinen – ein Film, mit dem der Animationsregisseur einen Schritt zurück geht? Ach was!

Gut: Eine Rückbesinnung ist „Ponyo – Das verzauberte Goldfischmädchen“ in der Tat. Miyazaki pflegt lieb gewonnene Standards. Mensch und Natur werden gegenüber gestellt (wie in „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ oder „Mononoke“), Kinder oder junge Erwachsene agieren als Helden. Mehr noch. Wie in „Das Schloss am Himmel“ rettet ein Junge ein magisches Mädchen. Wie in „Porco Rosso“, „Chihiro“ und „Das wandelnde Schloss“ kommt es zu Verwandlungen in Verbindung mit Liebe. Wie in „Kikis kleiner Lieferservice“ begibt sich die Heroine auf eine Art Selbstfindung. Und ja, „Ponyo“ ruft in seiner Unbeschwertheit „Mein Nachbar Totoro“ in Erinnerung. Aber das ist weder als Mangel noch als Müdigkeit Miyazakis zu werten.

Der Film basiert lose auf „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans-Christian Andersen, aber wohl auch, und das ist erstaunlich, auf Miyazakis Leben. Die Tauben pfeifen es von den worldwiden Dächern: Der männliche Protagonist, der junge Sosuke, basiere auf Miyazakis Sohn Goro. Im Film ist Sosukes Vater Seemann und oft nicht zuhause bei seiner Familie. Miyazaki selbst war laut Sohn Goro selten daheim, gar ein schlechter Vater. Ein Eingeständnis des Regisseurs? In jedem Fall eine interessante, weil neue Lesart eines Miyazaki-Films. Seine eigene Vaterrolle wird durch Sosukes abwesenden Vater womöglich negativ kommentiert. Ponyos Vater Fujimoto und dessen ungesunde Umklammerung der Tochter wiederum lassen sich als Kritik an falscher Über-Fürsorge deuten.

Fujimoto ist der neue Poseidon. Ein im Meer lebender Magier, der um das Wohlergehen des Ozeans besorgt ist und die Menschen ob ihrer Umweltverschmutzung verabscheut. Seine Tochter ist da etwas anders gestrickt. Der Goldfisch mit Gesicht hat Fernweh, fühlt sich von den Menschen angezogen. Eines Tages flieht sie aus der väterlichen Fürsorge respektive Gefangenschaft, verfängt sich aber sogleich in einem Glas. Am Strand angespült entdeckt sie der junge Sosuke und befreit sie gerade noch rechtzeitig. Er tauft sie Ponyo und erklärt, ab sofort auf sie aufpassen zu wollen. Der Fisch ist begeistert: „Ponyo liebt Sosuke“. Zwar gelingt es Fujimoto, seine Tochter zurückzuholen. Ponyo lässt sich aber nicht beirren, befreit sich erneut und ist fest entschlossen, sich in einen Mensch zu verwandeln. Damit setzt sie aber gleichzeitig ein maritimes Malheur in Gang, das die ganze Welt bedroht...

Anders als bei „Totoro“ oder „Chihiro“ werden Zuschauer und Protagonisten nicht behutsam in eine fantastische Welt eingeführt. In medias res geht‘s ab in die wundersame Tiefe des Ozeans. Mit einer 12-sekündigen Sequenz, die den beeindruckenden Detailreichtum von Miyazakis Filmen belegt. Da schwimmt, taucht, wabert so viel Meeresgetier – das Auge weiß nicht wohin. Die Protagonistin ist selbst ein Märchenwesen und der Zuschauer muss die Magie der Welt unmittelbar akzeptieren. Wie es auch jeder Charakter in Miyazakis Filmen tut. „Das ist Ponyo, sie war ein Fisch, jetzt ist sie ein Mädchen“, sagt Sosuke. Die Mutter stutzt nicht einmal.

In seinen übernatürlichen Welten verhandelt Miyazaki aber reale Probleme, stets aus verschiedenen Perspektiven. So können für den Plot unterschiedlichste Interpretationsweisen gelten. Ponyos Weg sagt: Du musst dir selbst treu sein und dich selbst verwirklichen. In einer atemberaubend gezeichneten, mit Musik à la Richard Wagner unterlegten Actionsequenz reitet Ponyo auf den Wellen eines Tsunamis, den Sosukes Mutter nicht gänzlich wahrnimmt: Ertrinke nicht in Hektik oder dir wird der Boden unter den Füßen weggespült. Sosukes Liebe zum Goldfischmädchen Ponyo: Können die Menschen die Natur lieben, behüten und so überleben?

Die strikte Untertreibung in Bezug auf die Gefahrenmomente durch die ökologische Katastrophe und das abrupt-simple Ende mögen bitter aufstoßen. Dennoch steckt viel drin, im neusten Miyazaki. Mit „Ponyo“ entdeckt sich „Japans Walt Disney“ teilweise neu. Versatzstücke aus seinen bisherigen Filmen ergänzen sich vor dem Hintergrund der persönlichen Note und der feinen Variationen zu einem weiteren sehenswerten Anime aus dem Hause Ghibli. Nach dem US-Start erklärte Miyazaki: „Wenn Kinder fühlen können, dass wenigstens ein Film etwas ist, das sie den Rest ihres Lebens nicht vergessen können, dann würde uns das wirklich glücklich machen.“ Bleibt zu hoffen, auch die Kinder (und Erwachsenen) in Deutschland in den Genuss von „Ponyo“ kommen - ursprünglich war ein deutscher Kinostarttermin am 8. Oktober im Constantin-Verleih vorgesehen, inzwischen liegen die Rechte bei Universum Film, was wohl auf einen direct-to-DVD-Release schließen lässt. Für den aber noch nichts angekündigt ist.

Ein wunderlicher Realist des Kinos. Andrej Tarkowskij und „Die versiegelte Zeit“

von Markus Reuter
Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Berlin: Alexander Verlag Berlin 2009. 408 Seiten (inkl. 17 s/w-Abbildungen). ISBN: 978-3-89581-200-2, 28 €.

„Eines der traurigsten Kennzeichen unserer Zeit ist meiner Meinung nach die Tatsache, daß der Durchschnittsmensch heute endgültig von all dem abgeschnitten wird, was mit einer Reflexion des Schönen und Ewigen zusammenhängt. Die auf den »Konsumenten« zugeschnittene moderne Massenkultur – eine Zivilisation der Prothesen – verkrüppelt die Seelen, verstellt dem Menschen immer häufiger den Weg zu den Grundfragen seiner Existenz, zu einer Bewußtwerdung seiner selbst als eines geistigen Wesens.“
Andrej Tarkowskijs Gedanken zur Kunst, Ästhetik und Poetik des Films sind wie seine Filme eine Kritik an der durch den wissenschaftlich-technischen Logos bestimmten Moderne. Er dreht und schreibt gegen die Verkümmerung des geistigen Potentials der Menschheit an und propagiert einen Ausweg aus einem Zustand, den Georg Lukacs als „transzendentale Obdachlosigkeit“ bezeichnete. Die geistigen Quellen im Menschen sind für Tarkowskij noch nicht ausgetrocknet, sondern lediglich durch eine positivistisch-pragmatische Lebenspraxis verschüttet.

Eine Alternative bietet für ihn auch der marxistische Materialismus nicht. Überhaupt schreibt Tarkowskij viel über das Streben nach dem Absoluten in der Kunst und scheint Hegel daher näher zu stehen als Marx. Marx wird mit seinem Diktum „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ immer vorgehalten, Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben. Interessanterweise fühlt sich Tarkowskij nun aber Kopf und Füßen gleichermaßen verpflichtet. Letztlich spricht er dem Geistigen einen höheren Rang als dem Körperlichen zu, der Weg des Menschen zu seiner Spiritualität führt aber notwendigerweise über seine Sinnlichkeit. Diese unumgängliche Eintracht von Spiritualität und Sinnlichkeit wird in „Die versiegelte Zeit“ als einer der Kerngedanken des Buchs immer wieder deutlich und sowohl im Vorwort von Dominik Graf als auch im Nachwort von Hans-Joachim Schlegel herausgestellt. Einer einseitig geistig-religiösen Deutung von Tarkowskijs Œuvre wird hier eine ganzheitliche Auslegung gegenübergestellt.

Schlegel, Tarkowskij-Kenner und bereits Übersetzer der Erstausgabe, drückt diesen Zusammenhang in seinem Nachwort mit dem programmatischen Titel „Die Einheit der sichtbaren und der nichtsichtbaren Wirklichkeit“ wie folgt aus: „Der in vielen Debatten eher mystisch unklar benutzte Begriff des »Spirituellen«, der »duchownost«, meint also etwas unauflösbar in real-konkreter Dinglichkeit Verwurzeltes. Tarkowskij betont dies immer wieder und wendet sich deshalb auch überaus heftig gegen Versuche, die in seinen Filmen gezeigte Dinglichkeit zu »Symbolen« umzudeuten.“ Deshalb ist für Tarkowskij der Film so wichtig. Für ihn ist eben die Grundidee von Film als Kunst „die in ihren faktischen Formen und Phänomenen festgehaltene Zeit“. Erstaunlicherweise entpuppt sich Tarkowskij daher während des Lesens als ein – wenn auch im wahrsten Sinne wunderlicher – Realist des Kinos. Auch für den Regisseur Dominik Graf ist „Die versiegelte Zeit“ „ein Plädoyer für das Filmen der »Wirklichkeit« in allen Details“, die Bilder sollen stets realistisch sein und alle „Symbol-Klischees“ vermeiden.

Wenn man jetzt nur einen Film von Tarkowskij gesehen hat, wird man sich wohl an eine Regenszene hieraus erinnern. Eine der vielen anschaulichen Passagen des Buchs soll hier deshalb zu diesem Thema länger zitiert werden. In ihr wendet sich Tarkowskij gegen die symbolhafte Deutung seiner Filme: „Besonders häufig, ja geradezu leidenschaftlich werde ich beispielsweise nach der Bedeutung des Regens gefragt. Warum der in jedem Film vorkomme. Und weshalb hier immer wieder Wind, Feuer und Wasser auftauchen. Derlei Fragen bringen mich regelrecht in Verwirrung. […] Regen, Feuer, Wasser, Schnee, Tau und Felder sind Teile des materiellen Milieus, in dem wir leben, eine Wahrheit des Lebens, wenn man so will. Deshalb mutet es mich auch so seltsam an, daß Menschen die doch keinesfalls unbeteiligt ins Filmbild gebrachte Natur nicht einfach genießen, sondern darin nach irgendeinem verborgenen Sinn suchen. […] Wenn dann aber das Kino dem Zuschauer die tatsächliche Welt nahe bringt, es ihm ermöglicht, sie in ihrer ganzen Fülle zu betrachten, sie gleichsam zu »riechen«, auf der Haut ihre Feuchtigkeit oder Trockenheit zu spüren, dann stellt sich heraus, daß dieser Zuschauer schon längst die Fähigkeit eingebüßt hat, sich diesem Eindruck einfach emotional, in unmittelbar ästhetischem Sinne hinzugeben. Stattdessen muss er sich ständig einer Kontrolle unterwerfen, und prüfend nach dem »Warum«, »Weshalb«, »Weswegen« fragen.“ Das sind für Tarkowskij eben die negativen Auswirkungen eines positivistisch-pragmatischen Paradigma, hinter dem die konkrete Lebens-Wirklichkeit zu verschwinden droht.

In der Kunst offenbart sich dem Menschen hingegen sein weiterhin innewohnendes geistiges Potential. Das Schöne und das Gute fallen für Tarkowskij wie schon für Platon zusammen. Die Verantwortung des Regisseurs liegt nicht nur in ästhetischen Kategorien, sie ist stets mit der Ethik verbunden. Das Streben nach geistig-spiritueller Vervollkommnung muss das Ziel einer jeden Kunst sein, um der Harmonie, dem Absoluten und dem Glück so nahe wie möglich zu kommen. Auch wenn diese Zustände in der Wirklichkeit nicht vollkommen realisiert werden können, stärkt die Kunst auf diese Weise „jenes Beste, zu dem ein Mensch fähig ist – also Glaube, Liebe, Hoffnung, Schönheit, Andacht oder das, was man sich erträumt und erhofft.“ Die Formel „Glaube, Liebe, Hoffnung“ klingt sehr nach der christlichen Lehre, immer wieder zitiert Tarkowskij Stellen aus der Bibel. Allerdings wendet er sich an einigen Stellen explizit gegen die Kirche als Institution, die er einmal als „hohle Fassade“ bezeichnet. Sie schafft es in seinen Augen nicht (mehr), den Menschen zum Guten zu bringen. Der Kunst traut er dies aber noch zu. Im Kontakt mit einem Meisterwerk würde der Zuschauer eine tiefe und reinigende Erschütterung erleben und sich der besten Seiten seines Wesens bewusst werden, die nun auf Freisetzung drängen: „Wir erkennen uns selbst in diesem Augenblick, in der Unerschöpflichkeit unserer Möglichkeiten, in der Tiefe unserer eigenen Gefühle.“

Im Gegensatz zu Platon gehört für Tarkowskij das Hässliche zur Welt wie auch zur Kunst dazu. Wenn man es nicht mit in die Filme aufnehmen würde, bliebe ein rein sentimentaler Kitsch. Beim Zusammentragen der verstreuten Artikel für „Die versiegelte Zeit“ hatte Tarkowskij 1984 noch konkrete Angst vor den Auswirkungen einer von sich aus amoralischen Wissenschaft und Technik. Im Schlußwort äußert er seine feste Überzeugung, „daß wir heute wieder am Rande der Zerstörung einer Zivilisation stehen.“ Wenn der Technik durch die Vernunft des Menschen keine ethischen Grenzen aufgezeigt werden, kann es zur Giftfabrikation für Konzentrationslager oder zum Bau und Abwurf einer Atombombe kommen. Mehr oder weniger unterschwellig bringt Tarkowskij die Angst vor einer weiteren nuklearen Katastrophe in seinen letzten Filmen „Stalker“, „Nostalghia“ und „Opfer“ zum Ausdruck. Im April 1986 ereignete sich kurz vor seinem Tod im Dezember desselben Jahres die nukleare Katastrophe in Tschernobyl. Nun lesen wir das Buch 25 Jahre nach der ersten Veröffentlichung im Jahr 2009 und sehen zugleich in den Nachrichten, dass der Iran neue Kraftwerke zur Uran-Anreicherung baut und Langstrecken-Raketen zur Abschreckung testet, dass die kürzlich gesendete Reportage „Die Bombe“ mit ZDF-Moderator Claus Kleber mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet wird und dass sofort nach der Bundestagswahl über die Verlängerung der Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke diskutiert wird. Die Kunst bleibt der Sehnsuchtsort nach dem Idealen, nach Schönheit und Harmonie.

Unerbittlich und subjektiv trägt Tarkowskij seinen Standpunkt bisweilen vor und äußerst gelehrt dazu, wenn er Schriftsteller wie Puschkin, Tolstoi oder Thomas Mann, Regisseure wie Bergman, Bresson oder Bunuel, Maler wie Raffael, Dali oder Goya als Gewährsmänner für seine Position anführt (in der Musik scheint für ihn fast nur Johann Sebastian Bach zu existieren). Dabei leuchtet hinter jedem Satz Emphase und Leidenschaft für die Filmkunst auf und sein Versuch, die Inhalte seines Buchs auch dem „Durchschnittmenschen“ zu vermitteln, ist ernst zu nehmen. Immer wieder schreibt er über Briefe, die er von Zuschauern seiner Filme erhalten hat oder von Gesprächen, die er mit ihnen geführt hat. Nebenbei überrascht er den Leser mit Beispielen wie diesem: „Menschen, die schon gar kein Bedürfnis mehr nach dem Schönen und Geistigen haben, benutzen den Film wie eine Coca-Cola-Flasche.“ Pointierter kann er seine Haltung wohl nicht ausdrücken. Bei der Erfahrung eines filmischen Kunstwerks kann es keinen zweifelhaften Konsum-Genuss geben, der nach 5 bis 169 Minuten endet; es fällt nicht schwer, Roland Emmerich, Michael Bay, Gore Verbinski und andere Regisseure innerhalb dieses Vergleichs als Hersteller von Coca-Cola-Flaschen zu identifizieren.

Lange war „Die versiegelte Zeit“ in Deutschland vergriffen und nur zu sehr hohen Preisen antiquarisch zu erwerben. Dem Alexander Verlag aus Berlin ist es zu verdanken, dass das Buch jetzt in einer liebevoll lektorierten und neu durchgesehenen Auflage wieder vorliegt. Lobend zu erwähnen sind zudem nicht nur die Vor- und Nachworte, sondern auch die überaus informativen Anmerkungen, die ausführliche Filmografie und das hilfreiche Namens- und Sachregister. Die beidseitigen schwarzweißen Bilder in der Buchmitte verlieren durch den leider nicht zu vermeidenden Buchknick ein wenig an Schönheit, dafür spendierte der Verlag dem Buch noch ein immer wieder willkommenes Lesebändchen. Die Form der Veröffentlichung trägt also zum ohnehin hohen inhaltlichen Lesegenuss von „Die versiegelte Zeit“ bei. Gerhard Roth nannte das Werk sein „Jahrhundertbuch“ und Dominik Graf schreibt im Vorwort: „Dieses Buch ist als Schuldoktrin des dichtenden Filmemachers ohnegleichen sowieso unverzichtbar. Kaum ein Regisseur dieser entrückten Liga - außer Fellini - hat derart extensiv und radikal persönlich seine Einsichten und Absichten veröffentlicht.“ Abschließend kommt er zur einfachen Aussage: „Lesen Sie das Buch und sehen Sie die Filme.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.


Das Buch können Sie bequem in unserem Screenshot-Shop bestellen!