Ein wunderlicher Realist des Kinos. Andrej Tarkowskij und „Die versiegelte Zeit“

von Markus Reuter
Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Berlin: Alexander Verlag Berlin 2009. 408 Seiten (inkl. 17 s/w-Abbildungen). ISBN: 978-3-89581-200-2, 28 €.

„Eines der traurigsten Kennzeichen unserer Zeit ist meiner Meinung nach die Tatsache, daß der Durchschnittsmensch heute endgültig von all dem abgeschnitten wird, was mit einer Reflexion des Schönen und Ewigen zusammenhängt. Die auf den »Konsumenten« zugeschnittene moderne Massenkultur – eine Zivilisation der Prothesen – verkrüppelt die Seelen, verstellt dem Menschen immer häufiger den Weg zu den Grundfragen seiner Existenz, zu einer Bewußtwerdung seiner selbst als eines geistigen Wesens.“
Andrej Tarkowskijs Gedanken zur Kunst, Ästhetik und Poetik des Films sind wie seine Filme eine Kritik an der durch den wissenschaftlich-technischen Logos bestimmten Moderne. Er dreht und schreibt gegen die Verkümmerung des geistigen Potentials der Menschheit an und propagiert einen Ausweg aus einem Zustand, den Georg Lukacs als „transzendentale Obdachlosigkeit“ bezeichnete. Die geistigen Quellen im Menschen sind für Tarkowskij noch nicht ausgetrocknet, sondern lediglich durch eine positivistisch-pragmatische Lebenspraxis verschüttet.

Eine Alternative bietet für ihn auch der marxistische Materialismus nicht. Überhaupt schreibt Tarkowskij viel über das Streben nach dem Absoluten in der Kunst und scheint Hegel daher näher zu stehen als Marx. Marx wird mit seinem Diktum „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ immer vorgehalten, Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben. Interessanterweise fühlt sich Tarkowskij nun aber Kopf und Füßen gleichermaßen verpflichtet. Letztlich spricht er dem Geistigen einen höheren Rang als dem Körperlichen zu, der Weg des Menschen zu seiner Spiritualität führt aber notwendigerweise über seine Sinnlichkeit. Diese unumgängliche Eintracht von Spiritualität und Sinnlichkeit wird in „Die versiegelte Zeit“ als einer der Kerngedanken des Buchs immer wieder deutlich und sowohl im Vorwort von Dominik Graf als auch im Nachwort von Hans-Joachim Schlegel herausgestellt. Einer einseitig geistig-religiösen Deutung von Tarkowskijs Œuvre wird hier eine ganzheitliche Auslegung gegenübergestellt.

Schlegel, Tarkowskij-Kenner und bereits Übersetzer der Erstausgabe, drückt diesen Zusammenhang in seinem Nachwort mit dem programmatischen Titel „Die Einheit der sichtbaren und der nichtsichtbaren Wirklichkeit“ wie folgt aus: „Der in vielen Debatten eher mystisch unklar benutzte Begriff des »Spirituellen«, der »duchownost«, meint also etwas unauflösbar in real-konkreter Dinglichkeit Verwurzeltes. Tarkowskij betont dies immer wieder und wendet sich deshalb auch überaus heftig gegen Versuche, die in seinen Filmen gezeigte Dinglichkeit zu »Symbolen« umzudeuten.“ Deshalb ist für Tarkowskij der Film so wichtig. Für ihn ist eben die Grundidee von Film als Kunst „die in ihren faktischen Formen und Phänomenen festgehaltene Zeit“. Erstaunlicherweise entpuppt sich Tarkowskij daher während des Lesens als ein – wenn auch im wahrsten Sinne wunderlicher – Realist des Kinos. Auch für den Regisseur Dominik Graf ist „Die versiegelte Zeit“ „ein Plädoyer für das Filmen der »Wirklichkeit« in allen Details“, die Bilder sollen stets realistisch sein und alle „Symbol-Klischees“ vermeiden.

Wenn man jetzt nur einen Film von Tarkowskij gesehen hat, wird man sich wohl an eine Regenszene hieraus erinnern. Eine der vielen anschaulichen Passagen des Buchs soll hier deshalb zu diesem Thema länger zitiert werden. In ihr wendet sich Tarkowskij gegen die symbolhafte Deutung seiner Filme: „Besonders häufig, ja geradezu leidenschaftlich werde ich beispielsweise nach der Bedeutung des Regens gefragt. Warum der in jedem Film vorkomme. Und weshalb hier immer wieder Wind, Feuer und Wasser auftauchen. Derlei Fragen bringen mich regelrecht in Verwirrung. […] Regen, Feuer, Wasser, Schnee, Tau und Felder sind Teile des materiellen Milieus, in dem wir leben, eine Wahrheit des Lebens, wenn man so will. Deshalb mutet es mich auch so seltsam an, daß Menschen die doch keinesfalls unbeteiligt ins Filmbild gebrachte Natur nicht einfach genießen, sondern darin nach irgendeinem verborgenen Sinn suchen. […] Wenn dann aber das Kino dem Zuschauer die tatsächliche Welt nahe bringt, es ihm ermöglicht, sie in ihrer ganzen Fülle zu betrachten, sie gleichsam zu »riechen«, auf der Haut ihre Feuchtigkeit oder Trockenheit zu spüren, dann stellt sich heraus, daß dieser Zuschauer schon längst die Fähigkeit eingebüßt hat, sich diesem Eindruck einfach emotional, in unmittelbar ästhetischem Sinne hinzugeben. Stattdessen muss er sich ständig einer Kontrolle unterwerfen, und prüfend nach dem »Warum«, »Weshalb«, »Weswegen« fragen.“ Das sind für Tarkowskij eben die negativen Auswirkungen eines positivistisch-pragmatischen Paradigma, hinter dem die konkrete Lebens-Wirklichkeit zu verschwinden droht.

In der Kunst offenbart sich dem Menschen hingegen sein weiterhin innewohnendes geistiges Potential. Das Schöne und das Gute fallen für Tarkowskij wie schon für Platon zusammen. Die Verantwortung des Regisseurs liegt nicht nur in ästhetischen Kategorien, sie ist stets mit der Ethik verbunden. Das Streben nach geistig-spiritueller Vervollkommnung muss das Ziel einer jeden Kunst sein, um der Harmonie, dem Absoluten und dem Glück so nahe wie möglich zu kommen. Auch wenn diese Zustände in der Wirklichkeit nicht vollkommen realisiert werden können, stärkt die Kunst auf diese Weise „jenes Beste, zu dem ein Mensch fähig ist – also Glaube, Liebe, Hoffnung, Schönheit, Andacht oder das, was man sich erträumt und erhofft.“ Die Formel „Glaube, Liebe, Hoffnung“ klingt sehr nach der christlichen Lehre, immer wieder zitiert Tarkowskij Stellen aus der Bibel. Allerdings wendet er sich an einigen Stellen explizit gegen die Kirche als Institution, die er einmal als „hohle Fassade“ bezeichnet. Sie schafft es in seinen Augen nicht (mehr), den Menschen zum Guten zu bringen. Der Kunst traut er dies aber noch zu. Im Kontakt mit einem Meisterwerk würde der Zuschauer eine tiefe und reinigende Erschütterung erleben und sich der besten Seiten seines Wesens bewusst werden, die nun auf Freisetzung drängen: „Wir erkennen uns selbst in diesem Augenblick, in der Unerschöpflichkeit unserer Möglichkeiten, in der Tiefe unserer eigenen Gefühle.“

Im Gegensatz zu Platon gehört für Tarkowskij das Hässliche zur Welt wie auch zur Kunst dazu. Wenn man es nicht mit in die Filme aufnehmen würde, bliebe ein rein sentimentaler Kitsch. Beim Zusammentragen der verstreuten Artikel für „Die versiegelte Zeit“ hatte Tarkowskij 1984 noch konkrete Angst vor den Auswirkungen einer von sich aus amoralischen Wissenschaft und Technik. Im Schlußwort äußert er seine feste Überzeugung, „daß wir heute wieder am Rande der Zerstörung einer Zivilisation stehen.“ Wenn der Technik durch die Vernunft des Menschen keine ethischen Grenzen aufgezeigt werden, kann es zur Giftfabrikation für Konzentrationslager oder zum Bau und Abwurf einer Atombombe kommen. Mehr oder weniger unterschwellig bringt Tarkowskij die Angst vor einer weiteren nuklearen Katastrophe in seinen letzten Filmen „Stalker“, „Nostalghia“ und „Opfer“ zum Ausdruck. Im April 1986 ereignete sich kurz vor seinem Tod im Dezember desselben Jahres die nukleare Katastrophe in Tschernobyl. Nun lesen wir das Buch 25 Jahre nach der ersten Veröffentlichung im Jahr 2009 und sehen zugleich in den Nachrichten, dass der Iran neue Kraftwerke zur Uran-Anreicherung baut und Langstrecken-Raketen zur Abschreckung testet, dass die kürzlich gesendete Reportage „Die Bombe“ mit ZDF-Moderator Claus Kleber mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet wird und dass sofort nach der Bundestagswahl über die Verlängerung der Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke diskutiert wird. Die Kunst bleibt der Sehnsuchtsort nach dem Idealen, nach Schönheit und Harmonie.

Unerbittlich und subjektiv trägt Tarkowskij seinen Standpunkt bisweilen vor und äußerst gelehrt dazu, wenn er Schriftsteller wie Puschkin, Tolstoi oder Thomas Mann, Regisseure wie Bergman, Bresson oder Bunuel, Maler wie Raffael, Dali oder Goya als Gewährsmänner für seine Position anführt (in der Musik scheint für ihn fast nur Johann Sebastian Bach zu existieren). Dabei leuchtet hinter jedem Satz Emphase und Leidenschaft für die Filmkunst auf und sein Versuch, die Inhalte seines Buchs auch dem „Durchschnittmenschen“ zu vermitteln, ist ernst zu nehmen. Immer wieder schreibt er über Briefe, die er von Zuschauern seiner Filme erhalten hat oder von Gesprächen, die er mit ihnen geführt hat. Nebenbei überrascht er den Leser mit Beispielen wie diesem: „Menschen, die schon gar kein Bedürfnis mehr nach dem Schönen und Geistigen haben, benutzen den Film wie eine Coca-Cola-Flasche.“ Pointierter kann er seine Haltung wohl nicht ausdrücken. Bei der Erfahrung eines filmischen Kunstwerks kann es keinen zweifelhaften Konsum-Genuss geben, der nach 5 bis 169 Minuten endet; es fällt nicht schwer, Roland Emmerich, Michael Bay, Gore Verbinski und andere Regisseure innerhalb dieses Vergleichs als Hersteller von Coca-Cola-Flaschen zu identifizieren.

Lange war „Die versiegelte Zeit“ in Deutschland vergriffen und nur zu sehr hohen Preisen antiquarisch zu erwerben. Dem Alexander Verlag aus Berlin ist es zu verdanken, dass das Buch jetzt in einer liebevoll lektorierten und neu durchgesehenen Auflage wieder vorliegt. Lobend zu erwähnen sind zudem nicht nur die Vor- und Nachworte, sondern auch die überaus informativen Anmerkungen, die ausführliche Filmografie und das hilfreiche Namens- und Sachregister. Die beidseitigen schwarzweißen Bilder in der Buchmitte verlieren durch den leider nicht zu vermeidenden Buchknick ein wenig an Schönheit, dafür spendierte der Verlag dem Buch noch ein immer wieder willkommenes Lesebändchen. Die Form der Veröffentlichung trägt also zum ohnehin hohen inhaltlichen Lesegenuss von „Die versiegelte Zeit“ bei. Gerhard Roth nannte das Werk sein „Jahrhundertbuch“ und Dominik Graf schreibt im Vorwort: „Dieses Buch ist als Schuldoktrin des dichtenden Filmemachers ohnegleichen sowieso unverzichtbar. Kaum ein Regisseur dieser entrückten Liga - außer Fellini - hat derart extensiv und radikal persönlich seine Einsichten und Absichten veröffentlicht.“ Abschließend kommt er zur einfachen Aussage: „Lesen Sie das Buch und sehen Sie die Filme.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.


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