Gefängnis als Zwischenwelt - "Hunger" von Steve McQueen
Von Bernd Zywietz (Terrorismus & Film)
HUNGER (GB/IRL 2008) - Special Edition (2 Disc-Set)
R: Steve McQueen; B: Steve McQueen, Enda Walsh; K: Sean Bobbitt; SCH: Joe Walker; M: Leo Abrahams, David Holmes; P: Robin Gutch, Laura Hastings-Smith
D: Michael Fassbender (Bobby Sands), Stuart Graham (Ray Lohan), Liam Cunningham (Father Morgan), Liam McMahon (Gerry) u.a.
Vertrieb: Ascot Elite
FSK 16
Ca. 91 Minuten
Sprache: Deutsch (DTS 5.1) u. Englisch (Digital Dolby 5.1)
Untertitel: Deutsch
Bonusmaterial: Beim Dreh; Amnesty International Trailer; Interviews mit jeweils: Steve McQueen, Michael Fassbender, Stuart Graham, Laura Hastings-Smith; Fragen an das Team
Steve McQueens HUNGER, 2008 in Cannes mit der „Camera d'Or“ ausgezeichnet, ist mit knapp einem Jahr „Verspätung“ auch in Deutschland gestartet und auf DVD erschienen. Nach der Einzel-Ausgabe hat Ascote Elite nun auch eine Special Edition nachgelegt, in der neben Aufnahmen beim Dreh umfangreiche Interviews mit der Produzentin, Darstellern, der Crew und natürlich dem Künstler und Spielfilmregiedebütant Steve McQueen Auskunft über Gedanken und Hintergründe des Films geben – wenn auch leider nicht so viel über dessen Gegenstand selbst: Bobby Sands, den Gefangenenhungerstreik von 1981 und sein Kontext, der Nordirlandkonflikt.
Vielleicht ist es nur konsequent, denn außer einigen kleinen Anspielungen oder besser: Stückchen von „konkreter“ politischer Realität, die in das Gefängnis einsickern, verbleibt der Films in einer nahezu traumhaften Zwischenwelt. McQueen, der seinen Film selbst als einen Fluss beschreibt, lässt keine konventionelle Dramaturgie festmachen. In „Hunger“ geht es eher um eine Situation, um Stimmungen, ums Geworfensein und um nahezu kontemplative Augenblicke, die wiederum von denen der Brutalität und Unmenschlichkeit abgelöst werden oder mit ihnen ineinanderfließen. Laut McQueen werden besonders auch Rituale gezeigt, und über die oder das Indirekte und Doppelkodierte werden die Folgen für zwei verfeindeten Lager präsentiert, die sich in Reaktion und Gegenreaktion aneinander abarbeiten, zu Grunde richten, während das große Ganze bestenfalls als die forsche Stimme einer unbarmherzigen Margret Thatchers durch den Gang schleicht.
Es ist das Jahr 1981. Im nordirischen Maze-Gefängnis kämpfen die republikanischen Inhaftierten um ihren Status als politische Gefangene und damit zusammenhängende Sonderechte. Sie tun dies mittlerweile in Form des Dirty Protests. Lang sind die Haare und Bärte, Körperhygiene erfolgt nur unter Zwang; Decken sind das einzige Kleidungsmittel, Matratzen die einzige Zelleneinrichtung. Der Kot wird an die Wand geschmiert, Urin läuft unter den Zellentüren hindurch.
HUNGER widmet sich diesem extremen Kampf um Ideologien, Rechte und ihre Verletzungen. Dabei fängt er mit einem Wärter (Stuart Graham) an. Stumm sitzt er beim Frühstück; bevor er zur Arbeit fährt, kontrolliert er die Wagenunterseite. Seine Frau schaut durch die Gardine, hält den Atem an – und ist beruhigt, als das Fahrzeug normal anspringt und ihr Mann zur Arbeit fährt. Dort: Impressionen des Alltags, Detailaufnahmen, in denen der Film schwelgt, Alltäglichkeiten, die schließlich keine mehr sind (oder auf grausige Art genau solche darstellen).
Schneeflocken fallen auf die zerschundenen Fingerknöchel des Wärters, schmelzen dort. Er steht hemdsärmlich im Innenhof, raucht, aufgewühlt und erschöpft, sein Hemd ist nass. Später dann erfahren wir, wieso er da steht und weshalb er seine blutigen Hände mit zusammengebissenen Zähnen ins Wasser des Waschbeckens taucht: In einer brutalen Aktion werden die Häftlinge einzeln aus den Zellen und nackt durch den Flur getrieben, gegen ihren Willen bekommen sie die Haare geschnitten, werden in einer Badewanne abgeschrubbt. Prügel setzt es, und der Wärter hatte das Pech, dass sich bei seinem zweiten Faustschlag der unwillige Häftling wegduckte und er die Wand trifft.
In und zwischen den langen, einlullenden Einstellungen geht dieser Wärter verloren, indem er in einer besonders symbolischen wie entsetzlichen Szene ebenfalls Opfer des „Auge-um-Auge-Spiels“ wird, das auch außerhalb der Gefängnismauern weitergeht. Ein anderes Opfer: ein junger Polizist in schwarzer gepanzerter Uniform. Nachdem die Verhandlungsbedingungen – das Recht auf eigene Zivilkleidung – von „Staatsseite“ ausgehebelt wurde (auch etwas, das sich nur begrenzt aus dem Kontext ergibt), randalieren Bobby Sands und seine Kameraden, zerstören die nun wieder vorhandene Einrichtung der Zellen in einem wie alles unglaublich eindringlich gefilmten Anflug von Zorn. Mit Plastikschildern stehen die Polizisten anschließend Spalier, prügeln auf die ausgemergelten, bleichen, nackten Männer ein, die anschließend aufs Demütigenste rektal und oral kontrolliert werden. Dabei prügelt auch der junge Beamte plötzlich los – um sich hernach weinend angesichts der Gewalt, die Gewalt produziert (oder schlimmer noch: hervorruft), zu verstecken.
Weiter geht der Film freilich nicht, wenn es um die Verwundungen auf Seite von Polizei und Wächtern geht, die – nachdem sie wie der junge IRA-Häftling, über den in den Gefängnisalltag lakonisch eingeführt wird, ihre Schuldigkeit getan haben – schließlich Bobby Sands Platz machen.
Robert „Bobby“ Sands ist der berühmteste Märtyrer des Hungerstreiks, sein Foto die Ikone des Wiederstands, er der erste, der verhungerte. Auch wenn die britische Regierung in Sachen politischer Status nicht nachgab, war der Hungerstreik und seine insgesamt 10 Toten angesichts der weltweiten Proteste und der solidarisierenden und radikalisierend Wirkung als Mythenbildung für die republikanische „Sache“ für England ein Desaster und die IRA (und die kleinere INLA) ein propagandistischer Triumph.
Die Diskussion über Sinn und „Recht“ des Hungerstreiks, seiner „Selbstmordtaktik“ verhandelt der Film in einer kraftvollen, reduzierten Szene: einem Gespräch Sands mit einem katholischen Priester (Liam Cunningham) im Besucherraum. Zwanzig Minuten geht diese Szene – 17 davon sind in einer einzigen fixen Einstellung gedreht, die die beiden durchs Gegenlicht fast auf Silhouetten reduzierten Männer in der Totalen zeigt. Hier wird der mutige Film, der sich Zeit nimmt, Zeit einfordert und diese auch mehr als redlich vergeltet, der auf heute selten gewordenen Weise das Sehen in Beschlag nimmt, zu einem Film des Hörens. Nach dem gewitzten Small Talk kommen Politik und Moral, die – so macht der Film deutlich – zu einer ganz anderen Sphäre gehören jenseits dieser stummen, hermetischen Alltagsunterwelt, in der gesprochene, verständliche Worte nur Förmlichkeiten und Rituale sind wie die Witze der Wärter, die verweigernden Angaben des IRA-Neulings bei der Einlieferung oder die Messe des Priester, der keiner folgt weil es wichtigeres unter den Gefangenen (und für den Zuschauer unhörbar) zu diskutieren gibt.
Schließlich ist Sands im Hungerstreik. Dafür hat sich Darsteller Fassbender (zuletzt als britischer Offizier in Tarantinos INGLORIOUS BASTERDS zu sehen) in 10 Wochen Drehpause auf ein furchterregendes Gewicht heruntergehungert. Der Film betastet diesen Leidenskörper mit der Kamera wie Sands selbst in einer Einstellung seine hervorspringenden Rippen befühlt: etwas gänzlich Fremdes, Staunenswertes. Ein Arzt erklärt den Eltern, wie und was alles in seinem Körper versagen wird; Blut in der Toilettenschüssel, nachdem sich Sands übergeben hat, Blut- und Eiterflecken auf der Gummimatratze, Dekubitusstellen in Großaufnahme, die ein Pfleger salbt. Einige Visionen vor seinem Tod; Jugenderinnerungen – er als Junge, als Läufer, im Wald.
Schließlich ist Sands tot, ein weißer, fast marmorner Leichnam. Noch eine Texttafel über Opfer auf beiden Seiten, Verhungerte, ermordete Wärter, was geschichtlich noch passierte. Und dann ist HUNGER aus.
Keine Frage, Steve McQueen hat ein immens eindringliches und im besten Sinne stilwollendes suggestives Kunst- und darüber Meisterwerk geschaffen. Und doch bereitet es ein kleinwenig Magengrimmen, zumindest wenn man es nicht von seinem politisch-historischen Gegenstand so abstrahieren will und kann, wie es dem Film zwar durchaus zusteht, wie es aber andererseits darüber zu entscheiden allein seine Sache nun mal nicht ist.
Es ist nicht ganz einfach, den Finger drauf zu legen. Verglichen mit den konventionelleren Hungerstreik-Dramen wie SOME MOTHER’S SON (IRL/USA 1996) oder Les Blairs H 3 (IRL 2001) beschreibt HUNGER gerade wegen seiner Anti-Dramaturgie das Verfangen und Zermahlen von einzelnen Individuen in politischen Machstrukturen und ihren Kämpfen besser, weil er gleich noch die passende nachgerade archetypische Symbolik mitdenkt, die gar nicht so tut, als könne sie aus „unterdrückten“, bärtigen, ausgemergelten Revolutionären anderes als Christusfiguren machen (ein Thema, das der lange Dialog des Films boshaft punktgenau aufgreift). Der marmorbleiche Sands im Film ist so gesehen bereits Denkmal seiner selbst.
Vielleicht ist es entsprechend auch einmal mehr die eher „pro-republikanische“ Sicht. Der zu entgehen ist freilich schwer wenn es um nackte, idealistisch entschlossene Männer geht, die physisch Uniformierten mit Schlüsseln und Knüppeln gegenüberstehen und unterliegen müssen. Hier zeigt sich einmal mehr, dass Reduktion wie überhaupt jeder Schritt hin zu einer bestimmten Perspektive, sogar und besonders der einer wie auch immer gearteten Neutralität, eine Positionierung im Spektrum Pro und Contra bedeutet. Allein schon, weil eine Seite in einem Konflikt wie jenem in Nordirland immer auf einer abstrakteren Ebene operiert und appelliert als die andere. Der Gefängniswärter und sein Schicksal, der dem Film mittendrin wegfällt oder der kurze Rückgriff auf den Prügelpolizisten helfen ab, schmecken aber auch nach Alibi für die vehemente Gewalt von Staatsseite, die sich hier stets ins Unrecht setzt sowie dem Ausstellen der Wunden, ob aktiv oder passiv zugefügt. Dass und wie es anders geht und trotzdem eine Position behauptet werden kann, zeigt der erwähnte H 3, dem es freilich auch nicht derart ums Opfertum geht wie HUNGER. Doch nicht zu erklären, warum Sands im Gefängnis, ob er vielleicht wirklich ein Terrorist ist, ist eben etwas anderes, als nichts über die Hintergründe eines Polizisten oder Wärters auszusagen, die ihre Rolle qua Uniform auf dem Leib tragen. HUNGER ist nicht zu letzt ein Film über Körperpolitik in verschiedenster Hinsicht - nicht der erste, wenn es um Terrorismus geht.
Wenn der labile Sands in der Badewanne liegt, wird seine engagierter Pfleger durch einen anderen, bulligeren abgelöst. Der setzt sich rittlings auf den Stuhl, auf den Fingern eintätowiert sind die Buchstaben UDA – Kürzel der antirepublikanische protestantische Ulster Defence Association (auch hier braucht es ein bisschen Background, den eine kurze Doku oder wenigstens Texttafeln als Bonus hätten auf der DVD liefern können). Sands rappelt sich stolz aus dem Wasser, steht, wankt, bricht zusammen. Der Mann schaut zu. Zwar trägt er Sands anschließend in sein Krankenzimmer – und doch hätte es diesen Seitenhieb hier nicht (mehr) gebraucht, im Gegenteil.
So gesehen geht McQueen mit seiner Reduktion und Fokussierung womöglich nicht weit genug, um seiner Ästhetisierung den Weg so frei zu machen, wie sie es verdient hätte. Zu sehr bleiben denn auch sperrige Elemente der Realität, erscheint das Material so spürbar dem versunkenem Blick mit – nun ja – Gewalt untergeordnet oder von diesem ausgeklammert (wie Sands Eltern, denen Stimmung und Perspektive von HUNGER nur ein stoisches Leiden Sohnes zugestehen kann und auch sonst und generell kein wie auch immer geartetes privates Rütteln an der Positionierung als Widerständler erlaubt).
Überspitzt gesagt: HUNGER romantisiert das Blut der Helden und lädt die Scheiße an der Wand magisch auf – wie z.B. der Kot-Schmierkreis in der Zelle, der den Reinigungsmann praktisch hypnotisiert, ehe dieser mit dem Wasserstrahler drangeht. Ob und wie hier wer und was einfach nur banal und falsch sein könnte, wird damit unhinterfragbar, und ein derart mythisierend formal stilisierter Konflikt um verhärtete Fronten und Forderungen gewährt eben diesen eine fragwürdige Gewichtigkeit und Stabilität.
Wenn also HUNGER mit seinem Thema erstaunlich wenig Kontroversen in seiner Heimat ausgelöst hat, dann ist das nicht nur ein Zeichen für die Entspannung der Lage und die künstlerische transzendierende Güte des Films.
Es ist auch ein bisschen schade.
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