Das Imperium schlägt zurück oder die 36 Kammern des "Jade Empire"
von Andreas Rauscher
„Jade Empire“
Systeme: PC, Xbox
Entwickler: Bioware
Vertrieb: 2K Games
FSK: 16
Veröffentlichungsdatum: 2005 (Xbox), 2007 (PC)
Spätestens nach den ersten einführenden Aufgaben von „Jade Empire“ stellt man sich zwangsläufig die Frage, weshalb nicht schon viel früher die Welt der asiatischen Wu Xia-Epen für ein Rollenspiel genutzt wurde. Diese Kombination aus spektakulären Kämpfen und phantastischen Motiven lässt sich auf eine Jahrhunderte umfassende literarische Tradition, vergleichbar den westlichen Rittergeschichten, zurückverfolgen. Die in einer märchenhaften Variante des mittelalterlichen Chinas voller Geister und Dämonen angesiedelten Abenteuergeschichten lieferten die Grundlage für zahlreiche Klassiker des Hongkong-Kinos der 1980er und 1990er Jahre. Regisseure wie Tsui Hark und Ching Siu-Tung verstanden es die mythischen Figuren mit den Schauwerten des modernen Actionkinos zu verbinden. Mit Hilfe von Drahtseiltricks realisierte Kampfszenen verliehen den Filmen, in denen die Kamera kaum stillstand, eine Dynamik wie man sie sonst nur aus Videospielen kennt.
Während andere asiatische Arthouse-Favoriten asketische Meditationen über die schönsten Bahnstrecken Tokios schufen oder darüber sinnierten, in wie vielen Varianten man eine Teeküche im Rahmen einer Plansequenz durchqueren kann, verschrieb sich das neue Hongkong-Kino in Filmen wie „Zu – Warriors of the Magic Mountain“ (1983) und „A Chinese Ghost Story“ (1987) ganz dem Kino der Attraktionen. Die bildgewaltigen und ebenso actionreichen wie melodramatischen Produktionen weckten sowohl das Interesse aufgeschlossener Cineasten, als auch obsessiver Genrefans. Mit internationalen Erfolgen wie Ang Lees „Tiger and Dragon“ (2000) fand das Wu Xia-Genre schließlich den Weg in die gehobeneren Multiplexe und weckte plötzlich das Interesse von Regisseuren wie Zhang Yimou und Chen Kaige, die sich zuvor eher auf traditionelle Dramen über das ländliche China spezialisiert hatten.
Offensichtlich konnten sich aber die Gamedesigner des kanadischen Studios Bioware noch an die Höhepunkte der Hongkong-New Wave erinnern, bevor sie zur filmisch soliden, aber zugleich auch verkrampft um hochkulturelle Anerkennung bemühten Tradition der Qualität erstarrte. Das in sieben Kapitel unterteilte „Jade Empire“ nutzt die phantasievollen Martial Arts-Stile und magischen Gefechte der Wu Xia-Epen als Inspirationsquelle, wie zuvor das „Dungeons and Dragons“-Spielsystem für die beiden „Baldur’s Gate“-Teile (1998, 2000) und die berühmt-berüchtigte weit, weit entfernte Galaxis für „Knights of the Old Republic“ (2003) als kreatives Spielfeld herangezogen wurden. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Lizenzproduktionen entwickelte Bioware auf der Grundlage dieser fiktionalen Welten ganz eigene Ansätze im Gameplay und der spielerischen Dramaturgie. Im Lauf der Jahre hat sich daraus eine eigene spielgestalterische Handschrift entwickelt. Der Hang zu raffinierten Plots, die mit zahlreichen Background Storys versehene fiktionale Welt, Begegnungen mit interessanten Charakteren und die freie Wahl des Spielers, ob er oder sie sich auf die gute oder böse Seite schlagen will, setzten innovative Akzente und markieren bis heute einen wesentlichen Unterschied zwischen den Bioware-Spielen und Hack-and-Slay-Rundläufen in der Tradition von Diablo und Titan Quest.
Obwohl mit der Wahl unterschiedlicher Charakterklassen und der Herausbildung von besonderen Talenten Rollenspielkonventionen deutlich das Spielgeschehen dominieren, integriert das Spiel auf geschickte Weise zugleich Adventure- und Action-Elemente. In den meisten Fällen beschränkten sich Spiele, die vom Hongkong-Kino beeinflusst wurden, auf die vielfach bewährte Turnier-Dramaturgie eines Beat’em-Up-Spiels wie „Mortal Kombat“ oder „Dead or Alive“. „Jade Empire“ bezieht hingegen nahezu alle Facetten des asiatischen Actionkinos ein und überträgt sie kongenial in eine fesselnde Geschichte, die zugleich spielerisch reizvolle Herausforderungen bietet. Das echtzeitbasierte Kampfsystem erinnert nicht von ungefähr an klassische Beat’em-Up-Spiele. Neben den durch Talentpunkte ausgebauten Fähigkeiten kommt es auf die präzise Kombination der einzelnen Kampfstile an. Der Wettkampf und Aufstieg in einer exklusiven Arena der Kaiserstadt bezieht sich sogar unmittelbar auf die Levelstruktur von „Street Fighter“, „Tekken“ und deren Epigonen. Um die feindlichen Lotus-Assassinen zu unterwandern, muss der Protagonist in einer Reihe von zunehmend schwierigeren Duellen deren Anwerber beeindrucken. Obwohl das Gameplay alle Register eines Beat’em-Up-Spiels zieht, muss man sich zwischen den Kämpfen entscheiden, ob man sich auf ein Angebot einlässt, das man nach Einschätzung des örtlichen Verbrecherclans gar nicht ablehnen kann. Spieler, die einen weniger actionorientierten Lösungsweg bevorzugen, können die Aufnahme in den Lotus-Orden auch alternativ durch rhetorische Taktiken und das Lösen von Rätselaufgaben erreichen.
Die exotische Spielwelt lässt sich wie in einem Adventure erkunden. Die Interaktion mit der Umgebung beschränkt sich nicht auf die geradlinigen Sammelaktionen und Monster-Parcours anderer Rollenspiele. Durch optionale Gespräche mit Charakteren erschließt sich die Mythologie des mittelalterlichen Martial Arts-Universums. In einem Garten der Philosophen erhält man Einblicke in die verschiedenen Glaubensrichtungen des Kaiserreichs, eine Subquest ermöglicht die Teilnahme an einer politisch brisanten Theateraufführung und die Stadt der Toten konfrontiert die Spieler wie die asiatische Variante eines Tim Burton-Films mit dem Alltag des Übernatürlichen. Immer wieder wird, nachdem durch ein heimtückisches Verbrechen das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod aus der Balance gebracht wurde, die Schwelle in die Parallelwelt der Geister überschritten. Zu den besonderen Finessen von „Jade Empire“ gehört aber auch, dass sich trotz dieses in phantastischen Erzählungen immer wieder gerne bemühten Themas die Entwicklung des Plots alles andere als berechenbar gestaltet.
Die Plot Twists der Bioware-Spiele gehören zu den dramaturgisch raffiniertesten Einfällen der neueren Videospielgeschichte und können sich mühelos mit ihren filmischen Gegenstücken messen. Spielerische und dramaturgische Standardsituationen wiegen den Spieler in Sicherheit und locken ihn oder sie bewusst auf falsche Fährten. Die in einer entlegenen Kung Fu-Schule angesiedelte Exposition erfüllt die zu erwartenden Standards, sowohl in spieltechnischer, als auch dramaturgischer Hinsicht. Ein nach Bedarf erweiterbarer Trainingskampf macht die Spieler mit der Steuerung vertraut, während die Konfrontation mit einem überambitionierten Mitschüler und die Ratschläge des weisen alten Meisters den pünktlich zum Ende des ersten Aktes einsetzenden Konflikt vorbereiten. Natürlich entführt der aggressive Widersacher die engste Vertraute seit Kindertagen als Ablenkungsmanöver und Vorspiel zur eigentlichen Katastrophe. Die Schule wird von Lotus-Assassinen unter dem Kommando eines maskierten Schurken, der an eine Wu Xia-Variante von Darth Vader erinnert, zerstört und der Lehrmeister, der sich kurz darauf als Bruder des Kaisers im Exil erweist, wird in die Kaiserstadt verschleppt. Bis dahin folgt „Jade Empire“ dem in Drehbuch-Ratgebern gerne bemühten Modell der archetypischen Heldenreise. Der Held oder die Heldin (das Geschlecht lässt sich zu Beginn des Spiels frei wählen) wagt den ersten Schritt über die Schwelle ins Abenteuer und begibt sich nach dem Verlust des Ziehvaters auf die Suche nach dessen Entführern. Doch die Verhältnisse gestalten sich längst nicht so eindeutig, wie sie zu Beginn erscheinen. Situationen, die auf den ersten Blick eindeutig erscheinen, erfahren unerwartete Auflösungen und die eigene Biographie gestaltet sich längst nicht so harmonisch, wie man anfangs vermuten würde.
Das zentrale Thema der Handlung spiegelt sich in der Architektur der einzelnen Levels wider und wird über die Gestaltung der Spielumgebung sorgfältig lanciert. Das ungebremste und unreflektierte Streben nach Macht durch technischen Fortschritt führt zum Rückfall in archaische Strukturen und repressive Unterdrückungsstrukturen. Bevor sich dieser Hintergrund nach den Ermittlungen in der Kaiserstadt im vierten Kapitel des Spiels umfassend erschließt, wird die Thematik bereits im Mikrokosmos der Stadt Tiens Anleger durchgespielt. Die auf der Reise der Helden als erste Station aufgesuchte Siedlung sollte als Vorzeigebeispiel für den technischen Fortschritt dienen. Durch die Öffnung eines Staudamms kommt jedoch wie in John Carpenters The Fog (1980) die verdrängte Vergangenheit des wohlhabenden Handleszentrums und ein lange verschwiegenes Unrecht zum Vorschein.
Neben den Schauplätzen tragen vor allem die Nebenfiguren, von denen eine als Begleiter frei gewählt werden kann, wesentlich zur atmosphärischen Dichte des Spiels bei. Sie unterstützen mit ihren Fähigkeiten den Protagonisten im Kampf, die originellste Variante davon bildet eine Hommage an den aus älteren Jackie Chan-Filmen bekannten „Drunken Master“-Stil. Über die Sidekick-Funktion hinaus entwickeln die Gefährten markante Persönlichkeitsprofile, die von der Comic Relief-Funktion des meistens angetrunkenen, selbsternannten „Schwarzen Wirbelwind“ bis hin zur weiblichen Zorro-Figur Silberfuchs reichen. Im Finale müssen wie in einer Parallel-Montage mehrfach auch die Begleiter des Helden, bzw. der Heldin, übernommen werden und ihre einzelnen Aufgaben innerhalb der epischen Entscheidungsschlacht erfüllen. Mit einigen der Charaktere lässt sich mit entsprechender Sensibilität sogar eine Romanze beginnen, die den Epilog zur Geschichte maßgeblich beeinflusst.
Zwar bietet „Jade Empire“ keine weitläufige, frei erkundbare Welt wie die „Gothic“ oder die „Elder Scrolls“-Serien, doch dafür erscheint das Verhältnis zwischen der Entwicklung der Handlung und dem Ambiente besonders stimmig arrangiert. Manchmal trägt der Assoziationsreichtum der spielerischen Fiktion wesentlich stärker zum positiven Gesamteindruck bei, als eine offen strukturierte Welt, in der sich das dramaturgische Potential im wahrsten Sinne des Wortes verläuft. Eine allzu lineare Abfolge der Ereignisse vermeiden die Bioware-Designer jedoch geschickt, indem sie während des Aufenthalts in der Kaiserstadt im umfangreichen Mittelteil des Spiels die Reihenfolge der einzelnen Aufgaben den Spielern überlassen. Andere Passagen wie die Reise durch das Totenreich oder der Showdown in der Festung des Kaisers steigern hingegen die dramaturgische Intensität des Geschehens durch die bewusste Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten. In dieser Hinsicht bildet „Jade Empire“ nicht nur ein Musterbeispiel für jene Spielstruktur, die der amerikanische Medienwissenschaftler Henry Jenkins als Kompromissvorschlag in der akademischen Debatte zwischen Narrativisten und Ludologen als „Narrative Architecture“ bezeichnete.
Der gezielte Verzicht auf Höhlentrolle, Hobgoblins, Hochelfen und andere überstrapazierte Fantasy-Stereotypen trägt neben dem überzeugenden Gameplay und der spannenden Handlung wesentlich dazu bei, dass „Jade Empire“ zu den innovativsten und gelungensten Rollenspielen der letzten Jahre zählt. Das 2007 von Bioware veröffentlichte Science-Fiction-Spiel „Mass Effect“ entwarf schließlich eine detailliert ausgearbeitete fiktionale Welt, deren Besonderheiten in Spin-Off-Romanen und zusätzlichen Download-Episoden ausgestaltet wurde. Nachdem Bioware mit Spielen wie „Baldur’s Gate 2“ (2000) und „Knights of the Old Republic“ (2003) einfallsreiche, neue Sektionen der lizenzierten Universen des „Dungeons and Dragons“-Spielsystems und der „Star Wars“-Saga geschaffen hat, markieren „Jade Empire“ und „Mass Effect“ die ersten Schritte zur Etablierung eigener Spielwelten mit einem ausgeprägten Potential für komplexe Games und Geschichten. Diese Tendenz wird sich hoffentlich in dem für Ende 2009 angekündigten Spiel „Dragon Age: Origins“ fortsetzen, mit dem die Gamedesigner von Bioware neun Jahre nach dem Erfolg von „Baldur’s Gate“ auf das Gebiet der High Fantasy zurückkehren.