Tim Burtons „Alice im Wunderland“: Unterirdisch
Alice im Wunderland / Alice in Wonderland, USA 2010, Kinostart: 4.3.2010.
Als die Rückkehr des ‚verlorenen Sohnes’ wurde die Zusammenarbeit von Tim Burton mit seinem alten Arbeitgeber Disney bezeichnet – wenn auch vornehmlich von den PR-Firmen, die sich für Disney verdingen. Der unterschwellige Stolz, mit dem diese Aussage in den Äther geschossen wurde, schien berechtigt zu sein, denn die Zutaten ließen auf ein großes Kinoereignis hoffen: eine facettenreiche Vorlage, die nur darauf wartete, mit einer variierten Lesart interpretiert zu werden, zusammen mit dem „Allstar-Cast“, den Burton schon seit langem mitschleppt.
Allerdings gibt es auch einige eklatante Änderungen: Teile des zweiten Buches werden in diesen Film mit eingewoben, und das Ganze wird mit einer aktualisierten Genderpolitik überzogen, die mehr kaputt macht, als dass sie dem Stoff zu neuen Höhen verhelfen würde. Dies beginnt bereits im Prolog. Alice ist ein filigranes Mädchen am Ende seiner Teenagerjahre, das bei einer Festivität mit der Karikatur eines Aristokraten verheiratet werden soll. Dieser Mann, besser: dieses Männchen mit rotem Flaum und fliehendem Kinn ist ein Aushängeschild steifer Monarchen, die die Etikette höher schätzen als die Emotion, die aus Liebenden ein Ehepaar formt. Gesteigert wird dieses Schreckbild eines Mannes noch mit dem Hinweis, dass er Verdauungsprobleme habe: ein Scherz, der den Jüngsten im Publikum zweifelsohne zur Heiterkeit gereichen wird. Bevor Alice öffentlich ihr Ja-Wort verkünden soll, entflieht sie der Gesellschaft; folgt dem gehetzten, stets unter Zeitmangel leidenden Kaninchen in den Bau und fällt in die Parallelwelt. Sie fällt, so stellt sich bald heraus, ein zweites Mal. Denn bereits als junges Mädchen besuchte sie die „Unterwelt“ und deutete fälschlicherweise ihre Erlebnisse als die Albträume eines Kindes.
In der Unterwelt regiert die rote Königin, was die Bewohner offensichtlich um den Schlaf zu bringen scheint, denn alle - selbst die ätherische weiße Königin - haben tiefe Schatten unter ihren Augen. Die Abgründigkeit der Szenerie und ihrer Figuren ist dabei eine Konstante Burtons, die er hier weiter kultiviert. Johnny Depp als der Hutmacher, der dereinst im Dienste der weißen Königin stand, ist dabei eine ebenso verstörende Figur wie die Grinsekatze, die hier, einem aufgeputschten Garfield ähnelnd, Alices Weg begleitet – interessant, dass die Computergestalt die Einzige ist, die über die für Disney typischen großen Augen verfügt, was sie weit unheimlicher als angenehm erscheinen lässt.
Das Terrorregime der roten Herzkönigin versetzt die skurrilen Bewohner in Angst und Schrecken. Bonham Carter als künstlich kleine Person mit einem exaltierten Kugelkopf ist hier eine unsichere Frau, die um Liebe und Zuneigung buhlt, und jede Zuwiderhandlung ihrer Befehle mit dem Köpfen der Zuwiderhandelnden ahndet. Doch auch ihre Schwester, die weiße Königin, ist keine wirkliche Lichtgestalt. Sie scheint stets etwas neben sich zu stehen, spielt permanent mit ihren Fingern und wirkt im Kern wie eine ironisch konzipierte Version eines Gutmenschen. Sie wirkt so eindimensional wie die Heldin Alice selbst, die im Grunde taumelnd die verschiedenen Stationen der Geschichte durchläuft. So ist der Hutmacher - eigentlich eine Nebenfigur - die interessanteste Gestalt des Films, denn er kämpft mit Gefühlen wie Reue, Schuld und Verlust. Natürlich ist Depp in dieser Rolle großartig, die ihm wie auf den Leib geschneidert zu sein scheint – was wahrscheinlich auch der Fall ist. Zwar ist es schön, dass Burton um die berufliche Qualität seines Freundes (Depp) und seiner Frau (Bonham Carter) weiß, doch erscheinen die anderen Figuren neben ihnen seltsam blass und unnahbar.
Während das erste Buch Carrolls mehr eine Art Bestandsaufnahme der Figuren in seinem erdachten Reich war, gibt es hier für Alice das klare Ziel, den Guten zu einem Sieg zu verhelfen. Und „Sieg“ ist wörtlich zu nehmen, denn der Schluss des Films läuft auf einen abgedroschenen Kampf zwischen den beiden Schwestern und ihrem Gefolge hinaus. Alice indes mutiert zu einer Drachentöterin. Auf einem gewaltigen Schachfeld versammeln sich die Armeen. Doch während die weiße Königin in ihrem Element zu sein scheint, ist der Ausgang wenig überraschend, schließlich hat eine Herz-Königin in einer Partie Schach wenig verloren. Der ‚Drache’ (Jabberwocky) und das Schachfeld sind Elemente des zweiten Buchs von Lewis Carroll „Alice hinter den Spiegeln“, Elemente, die hier als Zusatzmotive und optisches Beiwerk verwendet werden.
Es gibt weitere Ungereimtheiten im Plot, die vielleicht auf mehrfach umgeschriebene Skriptfassungen zurück zu führen sind: Gegen Schluss verpuppt sich die Raupe und Alice zeigt sich tief bestürzt, da sie angeblich nicht ohne ihren weisen Rat werde auskommen können. Irritierend bloß, dass die Reden des Schischa qualmenden Insektes kaum mehr Gehalt aufweisen als Sprüche auf dem Einband eines Selbsthilfebuchs.
Es ist vielleicht der Drehbuchautorin Linda Woolverton zu verdanken, dass der Film mit zunehmendem Verlauf missglückt und auf einen Schluss zurast, der Lesern von Phantasieliteratur nur allzu vertraut vorkommen wird. Der Epilog, der eine emanzipierte Alice darstellt, ist gewiss die Erfindung Woolvertons, die bereits mit dem Drehbuch zu der Disney-Version von „Die Schöne und das Biest“ auf starke und unabhängige Frauenfiguren konzentriert war. Bloß dass die Vorlage von Carroll nur wenig Spielraum für derartig verbissene Genderpolitik lässt und es dementsprechend aufgesetzt wirkt, wenn Alice in dem hastig erzählten Epilog unstandesgemäß ihren eigenen Willen formuliert und vorbehaltlos dafür gefeiert wird. Und so bleibt „Alice im Wunderland“ ein visuell ansprechendes Abenteuer, dessen erzählerische Schwächen immer dann zutage treten, wenn sich der Film von der Vorlage und der von Burton etablierten Stimmung entfernt.
Randbemerkung I: Natürlich kommt auch dieser Film, dem Trend entsprechend, in einer 3D-Fassung in dafür ausgerüstete Kinosäle. Hier entpuppt sich die Technik als zweischneidiges Schwert, denn einerseits ist der Effekt in vielen Szenen interessant und die Tiefenräumlichkeit teilweise beeindruckend. Doch in den dunkleren Szenen, und auch in Szenen, die schnelle und filigrane Strukturen beinhalten (wie die fliegenden Schaukelpferdchen oder die detaillierte Vegetation) geht der Effekt fast vollkommen verloren. In diesen Szenen macht sich zudem ein störender Nebeneffekt bemerkbar: es entsteht der Eindruck, als würde man auf einem Auge plötzlich sehr unscharf sehen, als wäre die Linse verschmiert. Rechnet man den Gewinn gegen den Verlust, so sollte man die klassische 2D-Fassung bevorzugen.
Randbemerkung II: Im Bereich der Computerspiele gab es bereits eine düstere Variante von „Alice im Wunderland“, die zum Teil psychedelischer wirkte, vor allem jedoch konsequenter erzählt wurde, als Burtons Fassung: „American McGee’s Alice“, im Jahr 2000 bei ‚Electronic Arts’ erschienen. Auch hier kämpft Alice gegen den Jabberwocky und die rote Königin. Das Spiel gilt als Meilenstein einer Interpretation klassischer Werke im Kosmos der interaktiven Unterhaltung.
von Sascha Koebner
Alice im Wunderland / Alice in Wonderland, USA 2010.
Regie: Tim Burton. Buch: Linda Woolverton. Kamera: Dariusz Wolski. Musik: Danny Elfman. Produktion: Richard D. Zanuck, Suzanne Todd, Jennifer Todd, Joe Roth.
Mit: Mia Wasikowska (Alice), Johnny Depp (Hutmacher), Helena Bonham Carter (Rote Königin), Anne Hathaway (Weiße Königin), Crispin Clover (Herzbube).
Länge: 108 Minuten.
Verleih: Disney.
Start: 4.3.2010.