Hofer Filmtage 2015: Retrospektive Christopher Petit – "Chinese Boxes" (1984)
Will Patton, der ein Amerikaner in Berlin spielt, hört im
Autoradio einen Deutschkurs. Ein Wagen versucht ihn abzudrängen, ein Soldat
schießt auf seine Reifen – ein paar schnelle Schnitte, aber den Unfall selbst
sehen wir nicht. Später im Film: Patton ist mit Adelheid Arndt unterwegs,
schnell, auf der Flucht, über Landstraßen – Schnitt: Ein anderes Auto biegt auf
einen Wohnwagenparkplatz ein, kurz sind wir irritiert: sind das jetzt
diesselben? – nein, sind sie nicht, eine Szene mit Gottfried John und Robbie
Coltrane schließt sich an; und erst danach schalten wir wieder um zu Patton,
der nun in einem überschlagenen Auto sitzt, kopfüber, die beiden können sich
mit einigem Gewurschtel befreien. Der Unfall selbst wurde nicht gezeigt. Noch
später: Patton und Arndt sind umstellt von vier, fünf Bösewichtern, die
erfahren wollen, wo Gottfried John ist. Ein Betonboden-Halle, so etwas wie ein
Maschinenraum ohne Maschinen, weiter oben, hinter einem Geländer: Da ist John
mit seiner kleinen, feinen Pistole, er feuert ein paar Schüsse ab. Schüsse,
deren Konsequenzen wir nicht sehen. Erstmal ein Dialog zwischen John und
Patton, und erst, als letzterer niedergeschlagen wird und zu Boden geht, sehen
wir in einem Top Shot die erschossenen Gangster.
Mit "Chinese Boxes" drehte Christopher Petit einen
Actionfilm, in dem er die Action konsequent
rausschneidet. Das ist einerseits
dem Mangel an Geld geschuldet; andererseits aber – insbesondere, wenn man die
vorherigen drei Spielfilme Petits gesehen hat – ein Kennzeichen seiner
inszenatorischen Entwicklung, seines kinematographischen Willens: Nicht das
tun, was erwartet wird. Die Handlung bis aufs Äußerste ausreizen, um dann die
Höhepunkte einfach wegzulassen. Die Erwartungen lustvoll durchkreuzen, das
Übliche ignorieren, die Dramaturgie kicken. "Chinese Boxes" ist eine
Art Agententhriller, mit Agenten, aber ohne herkömmlichen Thrill – so, wie
"Flight to Berlin" ein Kriminaldrama war, in dem weder Kriminalfall
noch Drama sich zu einer kohärenten Spannung finden sollten, so, wie "An
Unsuitable Job for a Woman" ein Whodunnit war, bei dem es wurscht ist, wer
es denn nun war (und wer was war); so, wie das Debüt "Radio On"
ohnehin Handlung zugunsten von Atmosphäre austauschte. Seine Protagonisten
befänden sich in einer "mental departure lounge", erklärte Petit.
Figuren im Transit, im Übergang, mit einer Handlung, die lediglich als
Katalysator fungiert, der beschleunigt, ohne Teil des Endprodukts zu sein; mit
einer Handlung, die nur der Form nach, nur in ihrer reinen Funktion genommen
wird, um letztendlich keine Konsequenzen zu haben.
"Chinese Boxes": Hier steckt Patton in Berlin
fest, sein Kumpel Gottfried John ist Kneipenwirt und der Mann für alle Fälle.
Beispielsweise den Fall, dass im Pattons Wohnung eine durchgeknallte
minderjährige Junkie-Teenagerin sich einnistet und schließlich tot im
Badezimmer liegt. Sie hatte offenbar für den alten Bekannten Frank gearbeitet –
oder arbeiten wollen; der ist inzwischen – vor der Filmhandlung – auch schon
tot, ein Drogendealer größeren Ausmaßes, nervig, weil deshalb immer wieder die
Polizei bei Patton auf der Matte steht. Mit einer Toten auf dem Badboden ist
aber erstmal die Kacke am Dampfen, Gottfried John will sich kümmern, doch die
Polizei – bzw. der Zoll – bzw. wohl eher die CIA greift Patton auf. Er soll als
Lockvogel für ein paar Gangster herhalten, auf einem Müllplatz, dort aber
Schießerei. Wer zu ihm hält, ist Adelheid Arndt, die Deutsche, die eigentlich
an Gottfried Johns Seite stand – doch wo der steht, weiß keiner mehr genau, um
was es eigentlich geht, auch nicht. Um mit Christopher Petit zu sprechen:
"Unverständlicher Plot, weitere sinnlose Intrigen, Jukebox-Romantik,
Drogen aus dem Osten, Kinde als Drogenschmuggler, ein schottischer Darsteller,
der einen US-Agenten gibt. Ich wollte etwas richtig Billiges machen, wie ein
Fassbinder auf Ketamintrip, gleichzeitig glaubwürdig und unglaubwürdig, gut und
böse, und zwar mehr noch als in jedem B-Movie, schnell gedreht."
Als Co-Autor wurde L. M. Kit Carson hinzugezogen, "to
polish the dialogue", wie Petit süffisant bemerkt, sprich: Um irgendwo
Struktur reinzubringen, tatsächlich, um – wie Petit es sieht – um die Vision
des Regisseurs zu entschärfen. Immerhin für einen Monolog gibt Petit Carson credit: Frühlingszeit in Berlin,
auftauen der Beziehungen zwischen Ost und West, Anbahnung einer möglichen
Wiedervereinigung: da sind die einschlägigen Dienste erstmal und im Vorfeld
damit beschäftigt, all die Gangster aus Ost und West zusammenzuführen, erstmal
die verschiedenen Unterwelt-Kulturen wiedervereinigen, denn wenn die Gangster
zusammen auf einem Haufen sind, dann lassen sie sich kontrollieren, auch
wegputzen. Das ist so etwas wie der Hintergrund der ganzen Story – wird aber erst
gegen Ende aufgedeckt, und ist zu diesem Zeitpunkt auch schon egal. Als Gedanke
aber natürlich nicht schlecht… Carson hatte zuvor bei Wenders' "Paris
Texas" mitgearbeitet, sein nächstes Drehbuch sollte "Texas Chainsaw
Massacre 2" werden… Chris Sievernich, ebenfalls von Wenders kommend,
produzierte Petits beide Berlin Filme – "Flight to Berlin" und
"Chinese Boxes", im Gegenzug hatte Petit für Sievernich den Kontakt
zu Channel 4 hergestellt, zur Finanzierung von "Paris Texas" – die
Story hinter dem Film ist fast so verworren wie die im Film; weil Petit als
Cutter nicht Peter Przygodda bekam, der nämlich an "Paris Texas"
arbeitete, nahm er dessen Lehrmeister Alfred Srp – und Przygodda bewunderte
dessen Arbeit an "Chinese Boxes": Der macht alles falsch – das ist
perfekt! Wie Petit erklärt: Srp schneidet im Dialog nicht am Ende eines Wortes
oder in einem langen Vokal, sondern im möglichst unbetonten Konsonant –
wahrscheinlich, um seinem Nachnamen Ehre zu geben.
Ja, es ist alles falsch in "Chinese Boxes", und das
macht den Film so faszinierend: Eine Quatsch-Story, "but the actors looked
as if they believed it", so Petit zufrieden. Es war dies einer seiner
letzten Spielfilme – ein Miss Marple-TV-Krimi folgte noch 1988, der aus
rechtlichen Gründen auf der Hofer Retrospektive nicht lief –; was folgte, war
eine Phase von Dokus, die dann ins Experimentale von Audio- und
Videoinstallationen überging.
Die titelgebenden chinesischen Schachteln haben natürlich
nur in ihrer Verschachtelung, im Ineinander von immer kleineren Boxes etwas mit
der verwirrenden Handlung zu tun; ansonsten taucht eben immer wieder dieses
kleine metallene Kästchen auf, das der CIA (oder Zoll)-Agent in einen Gipsarm
reinbandagieren ließ, mit dem Patton eine Zeitlang herumlaufen muss. Darin, im
inneren Kern, nach chinesischer Tradition das Abbild des Erzfeindes. Dreimal
dürfen sie raten, wer das ist in diesem Film.
Harald Mühlbeyer