Grindhouse-Nachlese September 2015: Westliche und östliche Kriege
Samstag, 26. September 2015, Grindhouse-Doppelnacht im
Mannheimer Cinema Quadrat:
"Der Mann mit der Stahlkralle" / "Rolling
Thunder", Regie: John Flynn, USA 1977.
"Das Todeslied des Shaolin" / "Shen quan da
zhan kuai qiang shou", Regie: Yu Wang, Hongkong 1977.
Man hat ein bisschen ein Problem, wenn man in Zeitnot ist.
Und erst Wochen später dazu kommt, die stets wunderbaren und heftigst
inspirierenden Grindhouse-Nächte schreiberisch zu würdigen. "Das Todeslied
des Shaolin", der zweite Film des Abends: Das ist halt so ein Eastern, und
da hab ich sowieso eine Schwierigkeit, die ihm Gedächtnis zu behalten. Kämpfe
in verschiedenen Martial-Arts-Arten, die ich nicht kenne; Geschichten in einer Kultur,
in der ich nicht heimisch bin, vor einer Historie, über die ich kaum Bescheid
weiß; Gesichter mit Schlitzaugen, die ich nicht auseinanderhalten kann (alter
Rassist, der ich bin)…
Jetzt hat aber das Shaolin-Todeslied durchaus ein paar
Momente, die so cool sind, dass sie im Gedächtnis bleiben. Das Setting: Im
japanisch-chinesischen Krieg, es gibt Eisenbahnen und Maschinengewehre – wenn
auch etwas seltsam geformte, mit einer Menge Gewehrläufen, die vor sich hin
ballern –, und
dann aber gibt es diese archaische Welt der so ehren- wie mannhaften
Einzelkämpfer, die in guter alter Kung-Fu-Tradition für das kämpfen, wovon sie
überzeugt sind; einfach, weil sie Helden sind. So auch der von Regisseur Yu Wang
persönlich gespielte Hauptprotagonist, der Meister in allen Kampfeskünsten ist.
Mit der kleinen Einschränkung, dass Yu Wang selbst keineswegs Kampfsportmeister
war, sondern Schwimmwettkämpfer; und dass deshalb bei ihm ein besonderer Wert
auf das Posen gelegt wird, auf die großspurige körperliche Aktion, die
vielleicht nach Maßgaben der Wirklichkeit nicht richtig effektiv ist, aber
dafür super aussieht. Mit geschickten Filmschnitten kommen wir hin zum
Martial-Arts-Artisten.
Er kann Wände hochlaufen, senkrecht, wenn er herausgefordert
ist. Kann gegen magische Kämpfer angehen, gegen Pistolenschützen, die schneller
schießen als ihr Salat. Hat tausend Tricks drauf – beispielsweise bei besagtem
Gunman, der eine kleine Referenz des Hongkong- an das Westernkino ist, dem er
einen Gänsestall voll aufblasbarer Puppen hinstellt, um eine Art "Lady von
Shanghai"-Effekt zu erzielen, nicht mit Spiegeln, sondern mit Atavaren
seiner selbst. Wenn auf die geschossen wird, pufft die Luft raus, und der
Revolverheld ist dann eben der Gelackmeierte. Auch – und das ist ein besonders
schöner Einfall – bekommt es unser Held mit Kung-Fu-Zombies zu tun, denn die
Feinde des chinesischen Reiches kennen kein Pardon, wenn es darum geht, die
Heimat an die japanischen Invasoren zu verraten. Zombies, die mittels
nächtlichen Ritualen aus ihren Gräbern heraufbeschworen werden, das ist
natürlich besonders perfide, weil ihnen die herkömmliche Kampfkunst nichts
anhaben kann. Nur Dynamit, zufällig im Handgepäck, kann da helfen.
Zwischendurch – damit der Film erstens nicht langweilig,
zweitens nicht zu kurz wird – gibt es eine länger Erzählung in der Erzählung,
die eigentlich nichts mit dem Rest zu tun hat: Eine Geschichte von einem
Todesturnier, in dem in diversen Duellen diverse Kämpfer bis zum Tod
gegeneinander antreten. Clou ist, dass der letzte Sieger, also der einzige Überlebende,
der sein soll, der Yu Wang entgegentreten wird im Sinne der projapanischen
Intrige wider den Kaiser von China. Da haben wir den schon genannten
Pistolenschützen (ha!: gespoilert, wer der Sieger wird!), einen mit einer
explodierenden Kugel an einer Kette, Messerwerfer, Lanzen und Sensen und einer
mit scharfen Metallkrallen in den Händen.
Aber, wie gesagt: Von all dem weiß ich kaum mehr etwas. Viel
mehr im Gedächtnis blieb der erste Film des Abends.
Und wenn man zunächst nichts von ihm weiß, dann ist er
irgendwie noch cooler. "Rolling Thunder" – man weiß noch nicht, dass
der deutsche Titel "Der Mann mit der Stahlkralle" lautet, und man
kennt auch das Produktionsjahr nicht. Man sieht: 70er Jahre, Heimkehrer aus
Vietnam. Und man liest: Drehbuch Paul Schrader. Boah: Eine Blaupause für
"Taxi Driver" – wir erleben, wie sich Major Charles Rane nicht
zurechtfindet in der Gesellschaft, in die er nach Jahren von
Vietcong-Gefangenschaft heimgekehrt ist. Die Ehefrau: nett, zuvorkommend, und
ganz bestimmt in ihrer Aussage, dass sie inzwischen mit dem netten Herrn
Polizisten eine gewisse Freundschaft geschlossen hat. Dieser Hausfreund
versucht sich anzubiedern, im Schuppen, in dem Rane vor sich hinbrütet, und er
kann dabei gar nicht ab, wenn Rane tatsächlich und handgreiflich von seinen
alptraumhaften Erlebnissen von Folter und Sadismus berichtet. Eine nette,
blonde, freizügig aufgeschlossene junge Dame hat in den Jahren seiner
Abwesenheit eine groupiehafte Obsession entwickelt, doch ist sie bereit, mit
Rane enger und länger zusammenzusein?
In seinem Schuppen hat Rane einige Jagdwaffen hängen, eine
ganze Menge Pistolen, wir befinden uns schließlich in den Südstaaten – das
Schießen und das Baseball sind die Grundlagen, auf denen er die Bekanntschaft
mit seinem Sohn erneuern will, der vor Jahren, als Einjähriger, den Vater gen
Dschungel verabschiedet hat. Doch wie kann ein neues Leben, ein neues
Miteinander aussehen, wenn man innerlich zerstört ist, wenn der Mitmensch stets
der Feind war, jahrelang?
William Devane, der die Hauptfigur darstellt, hat das
All-American-Face. Ein stets sehr selbstbewusstes, zupackendes Lächeln umspielt
seine Lippen, die Falten in seinem Gesicht sprechen von größtem Optimismus,
gelebter Pursuit of Happiness, der ganze Mann eine einzige manifest destiny. Blitzend weiße Zähne, gesund gebräunte Haut,
volles Haupthaar, ein zupackender Körper – den kann nichts erschüttern.
Äußerlich. Doch wenn es dann zum Schlimmsten kommt – dann wird irgendwo auch
klar, dass er dieses Schlimmste ohnehin schon längst hinter sich hat, dass jede
Katastrophe wie ein zartes Streicheln für ihn ist. Wenn alles verloren ist, ist
eh alles wurscht. Und wenn dann drei barbarische, verrohte Fuzzis in sein Heim eindringen,
weil er ein paar Goldmünzen bekommen hat als Auszeichnung für seine heldenhaften
Dienste fürs Vaterland – die darin bestanden, die Hölle zu überleben: Dann
schweigt er. Wo das Gold ist? Er spricht nicht. Das hat er sich in Vietnam
angewöhnt. Keinen Schmerz, keine Regung zeigen. Auch nicht, wenn die Hand in
den Müllzerkleinerer im Abfluss der Spüle gesteckt wird. Erst, wenn Frau und
Sohn – das einzig geliebte Wesen! – als Geiseln in die Hände der Banditen
fallen: Dann redet er. Vergeblich. Die Familie wird erschossen. Er auch. Aber
er überlebt, weil er das Überleben gewohnt ist, weil das das einzige ist, was
er kann.
Und er hat zwar seine Familie schon lange vorher verloren.
Und er hat sich zwar nie etwas aus dem Gold gemacht. Und er hat statt einer
Hand nur einen blutigen Stumpf. Aber er hat jetzt auch etwas zu tun. Weil ein
solches Verbrechen nicht ungesühnt bleiben darf. Und weil die Aktion das
einzige ist, was ihn von einem Toten unterscheidet. Er handelt. Und schärft
sich am Schleifstein den Metallhaken, der ihm als Handprothese dient (eine
Metallkralle – das hört sich – siehe deutscher Verleihtitel – weit reißerischer
an, als es der Film tatsächlich präsentiert). Lädt Linda, sein Groupie, ein zu
einer Spritztour. Und fährt nach Mexiko, auf den Spuren der Gangster.
Es geht dabei nicht um die tote Frau. Und nur bedingt um den
toten Sohn. Es geht darum, etwas zu tun, egal was, das einigermaßen Sinn
ergibt. Und dieser Sinn: Das ist aus Ermangelung jeder Empathie für die Menschen,
aus Ermangelung jeder Fähigkeit, sich wiedereinzufinden in die Menschheit, die
archaische Formel, Rache zu nehmen. Da wird der Hand-Haken in Hände gerammt, um
den Aufenthaltsort der Gangster herauszufinden; es geht über die Grenze und
wieder zurück, eine Verfolgungsjagd durch eine Rinderfarm mit all den kleinen
Ställen; Linda wird immer wieder als Lockvogel eingesetzt, und rohe Gewalt ist
die Sprache, die auch mexikanische Angreifer verstehen. In einem großen,
altehrwürdigen, verfallenen Farmhaus wird er beschossen, doch er behält die
Oberhand. Und als die Spur nach El Paso führt, ist klar, wer helfen kann: Tommy
Lee Jones (in den Anfängen seiner Karriere), sein Mit-Leidender aus Good Old
’Nam, dem er nicht als Offizier, sondern als Freund im Leid begegnet. Der bei
seiner Familie sitzt, ohne Regung, bis Rane auftaucht. Und dieses Blitzen in
den Augen. Und dieses Lächeln in seinen Mundwinkeln. Und diese Bereitschaft zu handeln.
Endlich wieder etwas zu tun! Endlich wieder lebendig sein! Und wenn es durch
ein Himmelfahrtskommando in die Höhle des Löwen ist, sprich: durch einen
bewaffneten Angriff auf ein Hurenhaus, wo die Bösewichter ihr Hauptquartier
haben.
Massaker im Bordell – kommt einem bekannt vor? Nein: Dies
ist keine "Taxi Driver"-Vorstudie, sondern ein Abklatsch.
"Rolling Thunder" stammt von 1977, ein Jahr nach Travis Bickle geht
Major Rane auf seinen Feldzug. Ein Vietnamveteran nach dem Vietnamveteran, der
den Vietnamveteranen überhaupt definierte. Aber vielleicht muss man es anders
sehen: Als Schrader den "Taxi Driver" schrieb, hat er nur geübt. Major
Rane ist kein paranoider Verrückter, der tapsigerweise beim Date ins Pornokino
ausführt, der ziellose Aggressionen in sich spürt, die sich dann eher zufällig
in der "Rettungsaktion" für die minderjährige Jodie Foster entlädt.
Rane weiß genau, was er will. Wohin er geht. Und er weiß, warum: Weil ihm
nichts sonst bleibt im Leben. Wo Bickle eine Zeitbombe ist, die jederzeit und
an jedem Ort explodieren kann, hat Rane seinen Zünder sehr genau eingestellt. Es
geht bei seinem Feldzug freilich nicht darum, Gerechtigkeit herzustellen. Oder
Rache für Frau und Sohn zu nehmen. Es geht darum, das zu tun, was sich richtig
anfühlt. In seinem Fall: Killer killen. Hätte aber auch ganz anders laufen
können: Könnte sich auch gegen all die nervigen rechtschaffenen Bürger richten,
die ihn betütteln, wie es kein Mann aushalten kann. Wenn man den Film sieht,
wird irgendwo klar: Dass sich die zielgerichtete Aggression gegen Bösewichter
richtet, ist eher Zufall. Und Glück für alle anderen im Film. Posttraumatische
Belastungsstörung – wie man das ja so schön in Schubladen steckt –: Die lässt
sich nicht kanalisieren. Sie bricht aus. Ob mit Paranoia und Psychopathie –
siehe Bickle – oder eben ohne.
Harald Mühlbeyer