exground 23: Hirokazu Kore-edas „Air Doll“ (2009) – Von Aufblaspuppen und anderen Menschen

Ein Mann auf dem Heimweg von der Arbeit. Es ist später Abend. Erschöpft sitzt er in der Bahn. Nach einem kurzen Abstecher in einen Supermarkt läuft er im einsetzenden Regen nach Hause, schließt die Tür zu seiner Wohnung auf, ruft hinein, dass er wieder zuhause sei. Am Esstisch erzählt er seiner Lebensgefährtin die Ereignisse des Tages, bevor beider Tag mit Vollzug des Geschlechtsaktes ausklingt. Am nächsten Morgen zieht er sich an, frühstückt, verabschiedet sich und macht sich wieder auf den Weg zur Arbeit. Ganz normaler Alltag also, ob nun in Tokio oder sonst wo auf der Welt. Wäre da nicht eine ‚klitzekleine‘ Irritation: die Stumm- und Unbewegtheit der Frau, ihre merkwürdig starren Augen und Glieder. Denn: die Dame ist eine Puppe, ein Sexspielzeug – das allerdings eines Morgens plötzlich zum Leben erwacht.

Der Traum, ein künstliches Geschöpf nach seinem Bilde zu formen, diesem womöglich gar Leben einzuhauchen, begleitet den Menschen seit jeher, findet sich in unzähligen Erzählungen, Mythen und Legenden (mindestens) von der Antike bis heute. War in der griechischen Mythologie das tatsächliche Vermögen hierzu zunächst den Göttern und Halbgöttern (Prometheus , der Menschen aus Lehm formt und diesen Leben einhaucht, die goldenen Dienerinnen des Hephaistos, die Homer in der „Ilias“ beschreibt) vorbehalten, gilt Daidalos als der erste Sterbliche, dem es gelang, anthropomorphe Automaten herzustellen. Die vielgestaltigen Erzählungen von der Erschaffung künstlicher Wesen lassen sich, gemäß Helmut Swoboda, in drei Linien unterteilen: in der Linie der magisch-mythischen Erschaffung findet sich z.B. die jüdische Legende des Golem, der durch kabbalistische Rituale zum Leben erweckt wird. Die biologische Linie reicht vom alchemistisch erzeugten Homunculus (in Paracelsus‘ „De natura rerum“ von 1538 findet sich eine genaue Anleitung) bis zu den gentechnischen Retortenwesen unserer Tage, die technische vom mechanisch betriebenen Automaten bis zur computergestützten Künstlichen Intelligenz. Mit einer solch prominenten Ausnahme wie Mary Shelleys „Frankenstein“ bleiben diese Geschichten jedoch meist der Außenperspektive verhaftet, erzählen von Faszination und Schrecken der ‚echten‘ Menschen im Angesicht der künstlichen Kreatur; erzählen von der Vermessenheit der Schöpfer, den Göttern nacheifern zu wollen; erzählen viel vom ‚Wie‘ der Schaffung der künstlichen Geschöpfe (wenn deren Existenz sich nicht gerade magischen oder göttlichen Kräften verdankt) – und weniger davon, wie diesen möglicherweise zumute sein mag.

In Kore-edas „Air Doll“ (bzw. in Yoshiie Godas Manga-Vorlage "The Pneumatic Figure of a Girl"): nichts davon. Es ‚passiert‘ einfach. Eines Morgens erwacht Nozomi (ab diesem Zeitpunkt in Gestalt der koreanischen Schauspielerin Duna Bae) zum Leben, zeigt sich fasziniert von der Schönheit der Regentropfen vor ihrem Fenster – und verlässt im Dienstmädchenkostüm die Wohnung, um die Welt um sie herum zu erkunden. Mit etwas Wohlwollen ließe sich noch eine Verbindung zum Mythos des Pygmalion herstellen, dessen geliebte, von ihm selbst erschaffene Statue nach einer liebkosenden Umarmung zum Leben erwacht (bzw. von Aphrodite erweckt wird). Doch die Liebe zwischen Kellner Hideo (Itsuji Itao) und Nozomi ist offenbar ganz anderer, vorwiegend körperlicher Natur. Zudem schien Hideo ganz glücklich mit seiner leb- und willenlosen Gefährtin zu sein, der er zwar den Namen seiner einstigen Geliebten gegeben hat, die ihm allerdings niemals widerspricht, ihm jederzeit ‚zu Diensten‘ ist.

Kore-eda erzählt seine Geschichte konsequent aus der Perspektive seiner ‚Plastikprotagonistin‘, die plötzlich – wie sie selbst es formuliert – eines Morgens in sich ein Herz (vor)findet, dort, wo eigentlich keines sein sollte: im Innern einer Liebespuppe, Modell „Candy“, 5980 Yen. Mit kindlich-naivem Blick schickt er sie hinaus in die Welt, ohne sich weiter mit den Fragen nach dem ‚Warum‘ und dem ‚Wie‘ ihres Erwachens zu beschäftigen. Alle die, die möglicherweise befürchtet hatten, dass Kore-eda sich untreu geworden wäre, in den Bereich des Fantastischen oder gar der Science-Fiction gewechselt wäre, können somit beruhigt aufatmen. Denn so wie die Erzählungen und Legenden von den künstlichen Geschöpfen immer auch, ja vor allem vom Menschen selbst erzählen, von seinen Träumen und Ängsten, von der besonderen Beschaffenheit der ‚Conditia humana‘, oder kurz: davon, was es bedeutet, eine Mensch zu sein: So nutzt auch Kore-eda die illustre Figur der Nozomi vorwiegend als erzählerisches Mittel, um erneut mit bewundernswertem Feingefühl von Liebe, Einsamkeit, Vergänglichkeit und Tod zu erzählen – Themen, die ihn seit seinen Anfängen als Dokumentarfilmer beschäftigen. (Andererseits fanden sich ja bereits in „Afterlife“ (1998) durchaus fantastische Elemente. Kore-eda siedelte die Geschichte in einem merkwürdig diesseitig, bürokratisch anmutenden Zwischenreich an, zwischen dieser und der jenseitigen Welt, wo diejenigen, die ein gutes Leben geführt hatten, mittels der Magie des Films ihr ‚Nachleben‘, ihre Ewigkeit auf der Grundlage ihrer schönsten Erinnerungen ausgestalten durften.)

Nozomi wird zunehmend sicherer in ihren Bewegungen, fügt sich mehr und mehr (doch nie ganz) in die Welt der Menschen ein, findet gar einen Job (im „Cinema Circus“, einer benachbarten Videothek) und dazu noch die Liebe (in Gestalt des dort angestellten Junichi) – und muss feststellen, dass ein Herz zu haben auch bedeutet, dass dieses jederzeit gebrochen werden kann. Zudem findet sie sich offenbar zunehmend mit der ihr zugedachten Aufgabe/Rolle ab, nur Ersatz, Substitut für andere(s) zu sein. Dadurch, dass Kore-eda ins Zentrum seiner im Grunde märchenhaften Geschichte (im Film finden sich u.a. direkte Verweise auf „Arielle“, die ‚disneyfizierte‘ Version von Andersens „Kleiner Meerjungfrau“) eine ‚Lovedoll‘ stellt, macht den Film ob seiner Ungeschminktheit doch eher zu einem Märchen für Erwachsene – allerdings der tieftraurigen Sorte. Wie Andersens Meerjungfrau wünscht sich Nozomi nichts sehnlicher als ein Mensch wie alle anderen zu sein, etwa wie diese altern zu können (mit einem Lächeln wirft sie darob z.B. ihren Blasebalg weg). Immer wieder fragt sie sich und andere, ob sie die einzige ihrer Art ist, macht sich, um dieser Frage auf den Grund zu gehen, sogar auf den Weg zu ihrem Schöpfer, einem jungen Sexpuppenkonstrukteur (eine Szene, die stark an diejenige aus Spielbergs „A.I.“ erinnert). Doch auch dieser zeigt sich ratlos, möchte allerdings eines von ihr wissen: ob sie in ihrem kurzen Leben bislang wenigstens nicht nur Trauriges, sondern auch Schönes gesehen, erlebt habe.

Kore-eda ist sicherlich jemand, der an die Schönheit(en) der Welt glaubt, an die Schönheit in und hinter den Dingen; daran, dass das Leben voller Wunder und Magie ist – oder zumindest (oft entgegen allem Anschein) sein kann. Kein Fatalist, aber auch kein hoffnungsloser Romantiker, der blauäugig die Allmacht der Liebe propagiert oder uns ein „Bis ans Ende aller Tage“ vorgaukelt. Vielmehr: einer der großen Humanisten des Gegenwartskinos, der neugierig, präzise und voller Empathie auf die Menschen blickt , rührend aber nie rührselig von ihnen erzählt, ohne dabei zu beschönigen oder zu idealisieren. Folglich beschenkt Kore-eda (dessen meisterhafter „Still Walking“ von 2008 gerade bei uns im Kino angelaufen ist) uns in „Air Doll“ einerseits zwar mit einer der zweifellos originellsten und amüsantesten, andererseits aber auch makabersten und bittersten Liebesszenen der jüngeren Filmgeschichte.

Fernab von Klischees, mit leisem Humor anstatt schlüpfrigem Klamauk (aber auch ohne Ironie, die immer auch Distanzierung vom Gegenstand der Erzählung bedeutet) führt er die Geschichte konsequent an ihr Ende, läuft aber zuvor ab und an Gefahr, die Grundidee der gerade mal 20-seitigen Vorlage zu lange und zuweilen etwas arg oberflächlich oder gar pathetisch auszubreiten, wodurch auch die Dramaturgie mitunter etwas fahrig wirkt, manche Nebenfigur etwas zu sehr auf einen reinen ‚Bedeutungsträger‘ reduziert scheint. Am Ende holt er die Geschichte allerdings wieder geschickt (und durchaus blutig) auf den harten Boden der Realität zurück, lässt es sich aber dennoch nicht nehmen, den Film mit einem Ausruf des Entzückens einer jungen Frau ausklingen zu lassen (der sich durchaus, trotz mancher inhaltlicher wie qualitativer Irritation, auch auf den vom Taiwanesen Pin Bing Lee wunderbar fotografierten Film anwenden ließe), die zum ersten Mal nach langer Zeit wieder – wie zu Beginn Nozomi selbst – den Blick nach draußen in die Welt richtet: „Beautiful!“


Christian Moises


KUKI NINGYO [AIR DOLL]
R: Hirokazu Kore-eda
D: Duna Bae, Itsuji Itao, Arata, u.a.
Japan 2009
116 Min.
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