Hofer Filmtage: Mehr Krimskrams - diesmal bemerkenswert; oder: Zum Schluss ein Happy End

Stanislaw Muchas "Die Wahrheit über Dracula";
Peter Kerns "King Kongs Tränen";
Isabelle Stevers "Glückliche Fügung";
Nicole Moslehs "Nemesis";
und Mark Romaneks "Never Let Me Go"


Um die Sehnsucht nach der starken Hand, die für Sicherheit sorgt – sprich: Kriminelle und Ausländer fertigmacht – ging es mit völlig unzulänglichen Mitteln in „Todespolka“. Dasselbe Thema geht Stanislaw Mucha an, obwohl oder gerade weil es ihm primär um etwas anderes geht: „Die Wahrheit über Dracula“ ist vom Konzept her seinem erfolgreichen Dokumentarfilm „Absolut Warhola“ von 2001 ähnlich, nur dass es nicht um das ruthenische Dreieck zwischen Polen, Slowenien und Ukraine geht, aus dem Andy Warhol stammt, sondern um Siebenbürgen, die Heimat von Vlad dem Pfähler, und um den Mythos, der aus ihm hervorging: Dracula.

Mucha umkreist den Vlad-Dracula-Komplex, ein Graphologe soll psychologische Auskunft geben, ein Vampirforscher und ein selbsternannter Werwolf kommen zu Wort, die Kirche, Kommunalpolitiker, Museumsleiter und viele ganz normale, meist alte Leute. Dabei wird sowohl Vlad Tepes, der Pfähler, porträtiert, der im 15. Jahrhundert rumänischer Herrscher war, an der Front Europas gegen die anstürmenden Türken harte Kämpfe ausfocht, der innenpolitisch Kriminelle und Sünder (vermutlich lustvoll sadistisch) pfählen ließ, zu tausenden; der durchreisende Händler schröpfte – der damit das damalige Rumänien zu Reichtum und Sicherheit führte. Der wegen seiner sprichwörtlichen Grausamkeit der Ursprung wurde für Vampir- und Draculamythen, was Historikern heute ein Dorn im Auge ist und dem Tourismus in diesem elendsreichen und bettelarmen Landstrich gut tut.

Mit der ihm eigenen Art beschreibt Mucha dabei weniger den Gegenstand seines Films als die Leute, die darüber interviewt werden – ruhig und wie selbstverständlich schleicht sich Ironie ein, wenn er auch die zeigt, die nichts zu sagen haben, die nichts sagen wollen; und stets behält er einen zwar zugeneigten, aber auch distanzierten Blick des Fremden bei, der beobachtet, der wissen will, ohne zu nahe zu treten. Und der vor allem eines konstatiert: dass beinahe jeder sich gerade in der heutigen Zeit einen neuen Vlad wünscht, der gegen die Kriminellen hart vorgeht. Weshalb auch etwa die rumänisch-orthodoxe Kirche sehr gut mit Ceaucescu zurechtkam, dem Despoten, der sich in der Nachfolge von Vlad Tepes sah... Nostalgie und die Sehnsucht nach autoritärer Führung vermischen sich her; und Mucha verurteilt das nicht, sondern zeigt es als Symptom einer tiefsitzenden Verzweiflung.

Um Neo-Nazis geht es auch in Peter Kerns „King Kongs Tränen“, den ich hier vor allem deshalb beschreibe, weil Kern sich – etwas eitel-prätentiös – in einem Monolog vor dem Film beschwerte, dass sich die Kritiker mit ihm nicht oder nur in höchster Verachtung beschäftigen. Verachtenswert ist sein Film nicht; rein ästhetisch ist er zwar mit „Todespolka“ (was soll ich machen: meine Nemesis auf diesem Festival) vergleichbar: doch Kern weiß um die Beschränkungen, die ihm auferliegen, und geht damit offensiv um.
Zu Beginn jedenfalls überfährt ein Busfahrer einen jungen Schwarzen, „ist eh egal, ein Neger weniger“ – das ist der Beginn einer kruden Handlung, Peter Kern, der einen Menschen namens Peter Gläubiger spielt, nimmt den nun gelähmten Jungen bei sich auf; was allerdings wenig damit zu tun hat, dass er dann zu einem Casting geht am Theater für die Rolle des Gorilla; was auch wenig damit zu tun hat, dass ihm dort eine Lehrerin mit ihrer Schulklasse begegnet, nein: die Lehrerin ist eine Kritikerin, die er auf der Bühne zu erhängen droht. Dann sind sie auf einem Rapsfeld in Österreich, dann im Wald, verfolgt von einem Jäger, dann flieht die Kritikerin vor Kern, auf einem Bauernhof dann will sie ihn umbringen, er findet sich dann in Afrika wieder, der früher gelähmte Junge mit seinen Eltern pflegen ihn mit Wiener Würstchen, und er schneidet der Kritikerin den Schädel auf und isst ihr Gehirn. Zwischendurch eine Neubausiedlung mit vergitterten Balkonen, hinter denen die Bürger wie Zootiere betrachtet werden.

Seltsam, nicht? Und gewiss zu willkürlich als pauschaler Rundumschlag. Aber in gewisser Weise dadurch gerechtfertigt, dass der Film nie einen Hehl daraus macht, dass er eine Art filmischer Monolog Peter Kerns ist, absichtlich unanständig, absichtlich aggressiv, absichtlich widerborstig. Weil Kern sich schamlos auskotzt: über arrogante, ignorante Kunstkritiker, über Österreich, über die Konsumgesellschaft, über das Mittelmaß, das uns überall umgibt, dem wir niemals entkommen können. Mittelmaß: das ist „King Kongs Tränen“ mit Sicherheit nicht; ob der Film aber nach oben oder nach unten ausschlägt...

Im Übrigen bin ich wegen des letzten Hof-Tages versöhnt mit dem Filmprogramm. Isabelle Stevers „Glückliche Fügung“ nämlich war eine Überraschung. „Erste Ehe“ hatte ich gesehen, ihr Debüt von 2002 über eine völlig aus dem Ruder laufende Hochzeitsfeier, lauter kaputte Typen, höchste Aggressionsstufe, und auch der Film war höchst aggressiv. Und nun: ein Film über das Glück. Eine Frau, wir kennen sie nicht, zeigt keinerlei mimische Regung, glücklich ist sie sicher nicht, in einer Disco lernt sie einen kennen, verbringt die Nacht mit ihm. Das sind die ersten Einstellungen, distanziert gefilmt, mit kalten, verblassten Farben, eine Studio sozialer Einsamkeit und Verzweiflung. Die Frau ist schwanger, trifft zufällig den Mann wieder, „Sind wir jetzt ein Paar?“, fragt sie auf einem Waldspaziergang, sie kaufen sich ein Haus, der Bauch wird immer dicker, nur eines fehlt: ein Rasenmäher. Manchmal lächelt sie, es ist eher ein gequältes Mundwinkelverziehen, sie sagt, sie sei glücklich, sie liebe ihn; doch ihr Körper, ihre Haltung, ihr Gesicht verraten das nicht.

Sie trifft Herbert – wer ist das, dieser Typ mit grusligem Vollbart? Kennt sie ihn von früher? Was will er von ihr? Sie beobachtet sauer die Nachbarin, die ihren Mann anspricht – wird es gleich zum Eifersuchtsdrama kommen? Ist sie vielleicht eine psychopathische Serienmörderin? Er arbeitet als Krankenpfleger, ist immer lieb, fürsorglich zu ihr – ist das ein krankhaftes Helfersyndrom? Oder ist sie psychisch krank, braucht sie seine Pflege? Noch immer wissen wir nichts über die beiden, die miteinander leben, denn Blicke in ihr Inneres verweigert Isabelle Stever konsequent. Einmal mäht die Frau symbolbehaftet mit einer Sense den Rasen!

Stets erzählt Stever eine doppelte Geschichte: die Handlung, die das perfekte Glück eines Paares zeigt, beißt sich dabei mit der Art der Umsetzung, die distanziert, kalt, ganz Berliner Schule in vielen kleinen Momenten das immer mögliche Kippen in die Katastrophe andeutet. Je größer der Bauch der Frau wächst, umso unheilschwangerer wird der Film. Eine Fahrradfahrt den Berg hoch, lautes Schnaufen – dann eine Hoppelpiste herunter, ein Sturz! Herbert, der in einer Regennacht auftaucht, sich bei der Frau aufwärmen will: warum legt er ein Liebeslied auf dem Plattenspieler auf? Warum schließt sich die Frau im Bad ein? Was ist mit der Nachbarin: will sie etwas mit dem Mann anfangen?

Immerhin erfahren wir irgendwann beiläufig ihre Namen; und noch immer ist nichts geschehen außer dem reinen Glück. Kann das wahr sein? Kann das Unfassbare, das Unbegreifliche dieses völlig glücklichen, ganz perfekten Paares möglich sein?

Perfekt und glücklich sind Ulrich Mühe und Susanne Lothar in Nicole Moslehs „Nemesis“ nicht. Niemals gewesen, wahrscheinlich. Das Ehedrama wird zu Krimi und Psychothriller, sie spielen ein Ehepaar in Trauer, die Schwester der Frau wurde grausam ermordet, er hatte ein Verhältnis mit ihr gehabt, nun, Monate später, will er sie endlich verlassen, die ihre Trauer nie überwunden hat, das Haus soll verkauft werden; doch sie kommen nicht voneinander los, sie sind nicht frei: der Mörder wurde nie gefasst, die Vergangenheit nie bewältigt, so kann es keinen Weg in die Zukunft geben.

2006 schon gedreht, ist dies der letzte Film mit Ulrich Mühe, der herauskommt – und noch einmal zeigt sich sein unglaubliches Können, vor der Kamera völlig natürlich, unprätentiös, vollkommen glaubwürdig zu agieren. Was auch für Susanne Lothar gilt, die ihm in nichts nachsteht – weder als Schauspielerin noch in ihrer Rolle. Ein Kammerspiel für diese beiden, die mit größter Sensibilität und größter Intensität spielen. Und Nicole Mosleh weiß auch dramaturgisch Spannung und Atmosphäre zu schaffen und zu erhalten, verschachtelte assoziative Rückblenden tragen zur Suspense ebenso bei wie das Haus, in dem der Film spielt, wie auch die Musik, die sich einfügt, die Akzente setzt.
Leider ergeht sich der Film etwas zu sehr in der Verzweiflung wegen des unaufgeklärten Kriminalfalles; so dass er in seinem letzten Drittel eben doch zu vorhersehbar wird, was die Handlung angeht. Was das Spiel der Darsteller betrifft oder die subtilen Regieeinfälle: da bleibt es spannend bis zum Schluss.

Dass die Hofer Filmtage für mich versöhnlich endeten, liegt auch an Peter Romaneks „Never Let Me Go“, seinem zweiten Spielfilm seit dem sehr atmosphärischen Psychoporträt „One Hour Photo“.

„Never Let Me Go“ führt den Zuschauer in eine Parallelwelt, das wird durch zwei Einblendungen zu Beginn etabliert: Im Jahr 1952 erlebte die Welt einen medizinischen Durchbruch; seit 1967 hat die durchschnittliche Lebenserwartung 100 Jahre überschritten. Mit diesen Vorgaben führt Romanek uns dann in ein Internat des Jahres 1978; und alles sieht aus, wie es in Internatsfilmen aussieht. Strenge Lehrer, die nicht böse sind, Vorschriften, die eingehalten werden müssen, Nickligkeiten und Streit, Freundschaft und Gemeinschaft unter den Schülern. Hier entwickelt Kathy, die Hauptfigur, Zuneigung, ja Liebe zu Tommy, das ist der Kern der Filmhandlung; und nur weniges ist so richtig seltsam, erinnert uns, dass dies vor dem Hintergrund einer Parallelwelt spielt: Rollenspiele über die gesellschaftlich korrekte Bestellung in einem Café; der Schwerpunkt auf Gemälden und Gedichten, die für eine ominöse Galerie gesammelt werden; ein Flohmarkt für die Kinder, wo sie altes, halbkaputtes Kinderspielzeug kaufen können.
Und dann wird es gesagt: die Kinder sind etwas Besonderes, sie sollen später nämlich die Krankheiten der Welt bekämpfen helfen. Indem sie hier herangezüchtet werden als künftige Organspender, als lebende Vorratskammern für lebenswichtige Organe: sie sollen ausgebeutet werden, ausgeschlachtet für die Volksgesundheit.

Und die Kinder, die zu jungen Leuten werden – nun werden sie von Carey Mulligan, Andrew Garfield und Keira Knightley gespielt – leben in diesem System, kennen nichts anderes, waren immer abgeschlossen in ihrer kleinen Welt, in einer isolierten Blase, in denen es ihnen gut ging: eine behütete Kindheit im Internat, dann ein Leben auf dem Bauernhof. So erzählt der Film seine Dreiecks-Liebesgeschichte: Kathy, die Tommy liebt, hat ihn nicht abbekommen, er ist mit Ruth zusammen; doch nein: keine Rivalität, sondern noch immer Freundschaft verbindet die drei, und da geht der Film sehr, sehr geschickt vor: indem er die Zuschauererwartungen unterwandert, eben keinen Konflikt zeigt, sondern ein Zusammenleben. Das macht alles noch unheilvoller, noch abgründiger; und ist zugleich begründet mit der Erziehung: ihre kurze Lebensspanne als Opferlämmer für die Medizin sollen sie so voll und reich leben wie es geht, das ist der untergründig (pseudo)humane Aspekt des grausamen Systems.

Vor diesem System behandelt der Film die Gefühle der drei Menschen für- und miteinander, und im großen Ganzen doppelt sich hier das, was sich im Beziehungsgeflecht der drei im Kleinen abspielt: Ruth hat, indem sie Tommy von Kathy „gestohlen“ hat, ihr das Glück des Lebens, der Liebe geraubt; das System geht gegen alle genauso vor, es stiehlt ihr Leben für andere. Auch dramaturgisch geht Romanek intelligent vor: indem er eben auch im Ganzen nicht das Erwartbare, das Konventionelle präsentiert: niemand rebelliert gegen das System, alle fügen sich in ihr Schicksal, es gibt nichts anderes, kein Ausweg ist vorgesehen. So, wie Kathy akzeptiert, dass Tommy mit Ruth zusammen ist.

Und so packt Romanek den Zuschauer viel mehr, als wenn er eine Abenteuergeschichte von Ausbruch und Glücksuche zeigen würde; die Liebe in Zeiten der Ausweglosigkeit ist weit spannender, viel intensiver als alles andere, was vorstellbar wäre. Denn alles andere wäre Hollywood, wäre Dreiakt-Struktur, wäre künstlich und unrealistisch. Das Fehlen von Aufbegehren, das Akzeptieren des Unmenschlichen, das reine Erzählen eines kleinen Liebesmelodrams vor dem Hintergrund ethischer Erosion: das macht den Film höchst wahrhaftig. Und ergreifend, melancholisch, dramatisch, verstörend, berührend. Perfekt.


Harald Mühlbeyer