exground 23: Auftakt mit Todd Solondz’ “Life during Wartime”
“I try to forgive. I try to forget.
Try not to relive what makes me upset.
We all make mistakes. So why not admit them?
I made a mistake. It's just like the end now.”
(aus dem Song “Life during Wartime“, interpretiert von Devendra Banhart und Beck, Lyrics: Todd Solondz)
Wie das vergessen, was nicht vergessen werden kann, vergessen werden darf? Ist es möglich, einem ‚Monster‘ zu vergeben? Ist es möglich, alles zu vergeben, wirklich ALLES? Und inwieweit steht es dem Menschen überhaupt zu, seinem Mitmenschen zu vergeben? Ist dies nicht Aufgabe, Privileg Gottes? Und ist nicht die Bitte um Vergebung eine vergleichbare Anmaßung, die nur alte Wunden aufreißt und das Opfer mit dieser ‚göttlichen Aufgabe‘ überfordert? Und: sind Pädophile Terroristen? Oder anders gefragt: wer lädt die größere Schuld auf sich? Der, der einem unstillbaren, inneren (biologischen)Trieb folgt, oder der, der aus Überzeugung, eigenem Entschluss handelt – und zudem die uramerikanischen Werte von „Freiheit“ und „Demokratie“ mit Füßen tritt?
Todd Solondz ist zurück und immer noch bestrebt, es seinem Publikum nicht allzu einfach zu machen, oder wie es in dem ebenfalls „Life during Wartime“ betitelten Song der Talking Heads heißt: „This ain't no party, this ain't no disco / this ain't no fooling around / No time for dancing, or lovey dovey / I ain't got time for that now“. Solondz kehrt in „Life during Wartime“ zu den Figuren aus seinem Film „Happiness“ von 1998 zurück, ähnlich wie Denys Arcand, der in „Die Invasion der Barbaren“ seinen Protagonisten aus „Der Untergang des amerikanischen Imperiums“ (1986) einen erneuten Besuch abstattet. „Life during Wartime“ ist einerseits eine Art Sequel zu „Happiness“, andererseits eine Art Remake, das die gleichen unbequemen Fragen neu stellt, neu formuliert, zuspitzt und/oder Fragesteller und Adressaten munter wechselt. So ist schon die Eröffnungsszene eine unschwer als solche erkennbare Reprise des zermürbenden Prologs aus „Happiness“ – und sorgt bereits für die ersten Irritationen. Unter anderem dadurch, dass Solondz – der ‚Kniff‘ in seinen Film „Palindromes“ (2004) – zwar die zentralen Figuren aus „Happiness“ beibehält, diese aber durch andere Schauspieler verkörpert werden.
Während Allison Janney, Shirley Henderson und Ally Sheedy in gewissem Sinne die Charaktere ihrer Vorgängerinnen (die drei Schwestern Trich, Joy und Helen) konsequent weiterentwickeln, ergeben sich vor allem in den Nebenfiguren interessante Verschiebungen, eröffnen sich zusätzliche Bedeutungsebenen. So etwa wenn er den jungenhaft-unscheinbaren Dylan Baker durch den grobkantigen Ciarán Hinds ersetzt, dem alles Weiche, ja fast Feminine Bakers abgeht und dessen Bill Maplewood merkwürdig abgekämpft erscheint. Oder wenn er den in „Happiness“ von Jon Lovitz verkörperten Andy in der Gestalt von Paul „Pee-wee Herman“ Reubens wieder auferstehen lässt, dessen illustre Geschichte zumindest in USA den meisten präsent sein dürfte: eine medial breitgetretene Anklage wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ 1991 und ein Jahrzehnt später wegen Pornografiebesitzes (darunter angeblich Aufnahmen von Minderjährigen, laut Reubens unbedenkliche historische Sammlerstücke) ließ für viele hinter der unschuldig-naiven Oberfläche des Stars aus Tim Burtons „Pee-wee’s Big Adventure“ (1986) und „Pee-wee's Playhouse“ (TV) Abgründe erahnen.
Solondz verlegt die Handlung von New Jersey in den Sonnenstaat Florida, wohin Trish (früher Cynthia Stevenson, nun Allison Janney) mit ihren Kindern ‚flüchtet‘, um mit ihrer Familie fernab der dunklen Vergangenheit (ihr Mann Bill wurde wegen Pädophilie zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt) ein neues Leben zu beginnen. Zentrale Figur ist ihr 13-jähriger Sohn Timmy (Dylan Snyder), der sich angesichts seiner kurz bevor stehenden Bar Mitzwa Gedanken macht, was es bedeutet, ein Mann zu werden/sein – in seiner Mischung aus selbstbewusst-bestimmtem Auftreten nach außen hin und völliger Verunsicherung im Inneren eine typische Solondz’sche Kinder-Figur. Seine Angewohnheit, beharrlich die denkbar ungeschminktesten Fragen zu stellen, macht ihn im Grunde zu einer Art Alter Ego des Regisseurs.
Zwischen den Ereignissen in „Happiness“ und denen in „Life during Wartime“ liegen aber auch die Ereignisse von 9/11 und acht Jahre Bush-Regierung – das Amerika von heute ist nicht mehr das Amerika von damals, oder (je nach Blickwinkel): das Amerika von damals war niemals das Amerika, für das viele es hielten, oder: Amerika bleibt Amerika, nur sehen wir es heute mit anderen Augen. Solondz nannte den Film in einem Interview selbst einen ‚post-9/11 film‘: „I think we all can remember, after the catastrophe, one of the beautiful things that happened is that people really came together and were so earnest in wanting to do good: 'What can we do? How can we help?' It was a unique moment that was very beautiful. And then Giuliani answered the question, ‘Go shopping.’“ (http://www.villagevoice.com/2010-07-20/film/todd-solondz-snowbird). Ein Umstand, der eine erkennbar politische Ebene in die mitunter introvertiert-solipsistisch anmutende Welt von Solondz einzieht, jede Handlung, jedes Wort (implizit oder explizit) zum Politikum macht und das innerfamiliäre Trauma der pädophilen Verfehlungen des Bill Maplewood mit dem nationalen Trauma von 9/11 verzahnt: eine Familie/Gesellschaft im Kriegszustand, gezeichnet von Misstrauen und Paranoia.
Solondz gelingt es immer noch, mit oft nur wenigen Dialogzeilen die tiefsten Abgründe aufzureißen, mit einer Fingerbewegung die sorgfältig errichteten Fassaden aus Selbstbetrug und Heuchelei niederzureißen. Auf beunruhigende Art und Weise verwischen dabei erneut die Grenzen zwischen Täter und Opfer, stellt sich wieder und wieder die Frage, wer nun die wahren Unmenschen, die wahren ‚Monster‘ sind (eine Vokabel, mit der Charlotte Rampling in einem großartigen Gastauftritt sich selbst beschreibt, um sich damit von den vergebungssüchtigen ‚Losern‘ abzugrenzen). Wer sich von „Life during Wartime“ auf solche und die eingangs gestellten Fragen eine Antwort erhofft, wird sich enttäuscht sehen, vielmehr noch verunsicherter und irritierter den Kinosaal verlassen. Sicher scheint zumindest, dass Solondz nichts mehr verachtet als jede Form von Heuchelei, ob nun anderen oder auch (unbewusst) sich selbst gegenüber.
Die Schonungslosigkeit seinen Figuren gegenüber, zu der ihn diese Grundhaltung zwingt, machen seine Filme nicht wirklich zu einem ‚Genuss‘. Solondz-Filme sind Filme, die man schwerlich ‚lieben‘ kann, genauso wie seine Figuren – was ihm auch immer wieder zum Vorwurf gemacht wurde. Inwieweit „Life during Wartime“ nun als eigenständiges Werk oder lediglich als (für den einen oder anderen vielleicht unnötige) Coda zu „Happiness“ seine Daseinsberechtigung haben mag, liegt sicherlich im Auge des Betrachters. Dass die Macher von exground diesen unbequemen Film als Eröffnungsfilm der 23. Ausgabe des komplett ehrenamtlich organisierten Festivals ausgewählt haben, zeugt jedenfalls schon jetzt von der in den Eröffnungsreden versprochenen Devise, dem Publikum keine ‚lauen‘ oder ‚seichten‘ vorsetzen zu wollen. Man darf also auf das weitere Programm gespannt sein.
Christian Moises