Hofer Filmtage: Kurzer "Carlos"

"Carlos", Olivier Assayas' grandioses Bio-Epos über den legendären Terroristen, feierte in der vollen Fassung seine Deutschlandpremiere auf dem Filmfest München im Sommer. Jetzt, in Hof, hatte die gekürzte Kinofassung, die extra für Deutschland erstellt wurde, seine Uraufführung: fünfeinhalb Stunden heruntergekürzt auf drei Stunden. Und nein: so richtig etwas Anhaben kann das Fehlen von zweieinhalb Stunden dem Film nicht.

Die Langfassung ist brillant; die kürzere Fassung sehr gut. Denn natürlich fehlt einiges - über die genaueren historischen Hintergründe kann (und wird vielleicht) unser Terrorismusexperte Bernd Zywietz genauere Analysen treffen; was das Filmische angeht, ist klar, dass einige Szenen fehlen. Doch auch die Charakterisierung der Figuren ist eine andere.

Dabei ist es durchaus anerkennenswert, dass Assayas nicht an einigen seiner meisterhaft komponierten Szenen hängt; eitel darf man nicht sein, wenn es ans Kürzen geht. Ein Angriffsversuch auf eine El-Al-Maschine auf dem Flughafen Orly, mit Panzerfäusten vom Parkdeck, dann gar von der Touristen-Aussichtsplattform aus - grandios durchgezogen, dieser terroristische Fehlschlag, aber natürlich für die Story nicht wichtig. Ebenfalls herausgeschnitten ist ein brillanter Dialog, in dem Carlos und Magdalena Kopp deren Freund Johannes Weinrich klarmachen, dass er jetzt beziehungsmäßig abgemeldet ist - und Weinrich hält die Treue, wird bis zum Schluss Carlos Weggefährte sein, obwohl der ihm die Frau ausgespannt hat.

In diesen Details findet sich bezeichnend die Tendenz der Kürzungen: Einmal legt die Dreistundenfassung weniger Augenmerk auf die reine Darstellung des terroristischen Handwerks: es ist eben nicht leicht, mit einer Panzerfaust ein Flugzeug zu treffen; und natürlich entfallen viele kleine Nebenbeobachtungen, die den Berufsalltag des professionellen Terroristen betreffen: Das Knüpfen von Kontakten, das Verhandeln mit Geheimdiensten "befreundeter" Staaten über Aufenthalt und Unterstützung, das Pitchen von Angriffsplänen bei den Geldgebern, das Buhlen um Aufträge in Konkurrenz zu anderen terroristischen Vereinigungen... Dieses organisatorische Tun bestimmt in der Langfassung den Mittelteil, wenn Carlos von seinem Ruf lebt und verschiedene Projekte auf die Beine zu stellen.

Im Subtext getragen wird diese Phase der aktiven Inaktivität durch die Dreiecksbeziehung Carlos-Kopp-Weinrich, die nun, gekürzt, eben auch wegfällt: eine Art Beziehungsdrama im Subtext, das zusätzliche emotionale Spannung bietet. Denn das ist das Zweite, das weggekürzt wurde und nur noch in Andeutungen weiterlebt: Carlos, der Frauenheld, der Verführer, der eitle Geck, der sich selbst gerne reden hört, der die Frauen umgarnt und sich ihm gefügig macht. Dieser Zug von Carlos' Persönlichkeit ist eher fragmentarisch erhalten, denn natürlich muss bei zweieinhalb herausgeschnittenen Stunden erstmal Wert auf die Handlung, auf das reine Tun gelegt werden.

Dass Hintergründe, charakterisierende Details, bestimmte Aspekte unter den Tisch fallen, ist selbstverständlich. Und soll hier auch gar nicht kritisiert werden. Figuren werden (noch mehr als in der Langfassung) nur noch kurz angerissen, manche tauchen kurz auf und verschwinden wieder, denen in der vollen Fassung eine eigene Geschichte gegönnt ist; das macht die 190-Minuten-Kinoversion vielleicht zuweilen gar etwas verwirrend. Aber dennoch lohnt auch sie sich, spannend ist sie allemal, und weit besser als der Versuch, ein akkurates historisches Re-Enactment der RAF-Geschichte zu inszenieren ist "Carlos" auf alle Fälle: weil er keine Angst hat, auch legendenhaft von der Legende zu erzählen, es geht mindestens so sehr wie um das tatsächliche Geschehen auch um den Mythos, der da entstanden ist, mit dem Carlos auch immer spielt.

Die allesamt herausragenden Darsteller, allen voran Edgar Ramirez als Carlos, aber auch insbesondere die deutschen Schauspieler Nora von Waldstätten, Alexander Scheer, Christoph Bach, Julia Hummer etc.; die detailreiche Ausstattung, die eine Welt der 70er und 80er wiederherstellt; der Flow, der den Film trägt, trotz oder gerade wegen der harten Schnitte, der Zeitsprünge, der vielen Personen um Carlos herum: das alles ist auch in der deutschen Kinofassung enthalten.
Schade nur ist, dass die deutschen Kinozuschauer nach der Dreistundenfassung der Meinung sein werden, alles gesehen zu haben, was es zu sehen gab. Das eben ist nicht der Fall. Die Fünfeinhalb-Stunden-Version ist reicher, detaillierter und näher am Subjekt; sie ist die Alternative, die man vorziehen sollte.

Harald Mühlbeyer