Kinoseminar Filmpropaganda: „Jud Süß“, das Original

„Jud Süß“, D 1940, Regie: Veit Harlan, am 14. Oktober 2010 im Wiesbadener Murnau-Kino


Es ist wohl der Reiz des Verbotenen, der so viele Zuschauer ins Kino lockte. Das Murnau-Kino war jedenfalls ausverkauft bei der Vorführung des berühmtesten Vorbehaltsfilm „Jud Süß“ von Veit Harlan, Deutschland 1940. Und das Publikum wurde mit einem hervorragend gemachten Film belohnt, der sich in Inszenierung, Darstellung, Ausstattung vor dem Hollywood der damaligen Zeit nicht zu verstecken braucht: das macht ihn so wirkungsvoll, diesen von Dr. J. Goebbels gepriesenen „antisemitischen Film, wie wir ihn uns nur wünschen können“.

Seit die Alliierten nach dem Krieg die deutschen Filmproduktionen der Nazizeit begutachtet haben, gilt „Jud Süß“ – zusammen mit einigen anderen Filmen – als Vorbehaltsfilm. Das bedeutet nicht, dass der Film verboten ist – aber er darf nur mit Einleitung, Analyse und Diskussion gezeigt werden. Was sich zunächst sehr dröge anhört, wie ein weiterer dieser Vorträge zur staatsbürgerlichen Bildung, der sehr pädagogisch den bösen Antisemitismus der Nazizeit anprangert; was man halt schon zur Genüge seit der Schulzeit kennt. Man kann aber auch den Film mit einer kleinen Lehrstunde in Filmanalyse und Propaganda begleiten, die gar nichts Trocken-Didaktisches an sich hat. Horst Walther vom Wiesbadener Institut für Kino und Filmkultur kann das: In freiem Vortrag alles Wichtige über den Film sagen, dabei Bögen spannen zur Filmrezeption in der heutigen Gesellschaft, zu propagandistischen Tendenzen in aktuellen Produktionen; und auf lockere Art mit ironischem Touch „Jud Süß“ an kleinen Details und am großen Ganzen als das charakterisieren, was er ist: hervorragendes Unterhaltungskino, das auch heute noch faszinieren kann, wenn man versucht, den ganzen Denkballast von „Jud Süß“-Mythos und Holocaust für den Moment abzulegen; wenn man sich hineinversetzt in die Situation der Kinobesucher in den 40ern – und von daher dann, im Nachhinein, die Propagandabotschaften betrachtet. Das kann natürlich nicht hundertprozentig, vielleicht nicht mal achtzigprozentig gelingen: aber dass es überhaupt gelingt, das spricht für die durchaus zeitlose, emotionalisierende Inszenierungskunst von Veit Harlan.

Harlan ist einer der besten Filmemacher, die Deutschland je hervorgebracht hat. In jeder Szene manifestiert sich das, in dem perfekt konzipierten Zusammenspiel von Mise en Scene, Schauspiel, Kamera und Bildkomposition, Ausstattung, Musik. Horst Walther hob, völlig zurecht, besonders zwei Szenen hervor:
Das genau durchkomponierte Schlussbild, in dem der böse Jude Süß Oppenheimer hoch über die Häupter des empörten Volkes in einer Käfig-Erhängungsvorrichtung emporgehoben wird, Schneeflocken wirbeln, Fackelträger, eine Frau wendet sich ab, der Hauptleidtragende der Oppenheimerschen Ränkespiele mit erhobenem Haupt, und das gewaltige Schlusswort, beinahe direkt in die Kamera gesprochen, das all die nachfolgenden Generationen vor der Verjudung warnt, zur Reinhaltung des deutschen Blutes und zur Aufrechterhaltung des ehernen Judenbannes mahnt… Hochemotionalisiert wird der Zuschauer so aus dem Film entlassen, und er darf sich mit dem ganzen antisemitischen Diskurs, den der Film vehement führt, beschäftigen (und soll ihn natürlich bekräftigen): ein Diskurs, der ihm an vielen Stellen gar nicht so richtig bewusst wurde, eben genau wegen der melodramatisch-gefühlsüberladenen Inszenierung.
Und dann die zweite Szene, in der ganz nonchalant in der dritten Minute des Films eine Nackte vorkommt. Tatsächlich ging bei dem Anblick der entblößten Brüste ein Raunen durch das Kinopublikum: das hätte man nicht erwartet, zumal man von der allgemeingültigen Filmgeschichtsschreibung konditioniert ist, dass Filme aus der NS-Zeit prüde seien, sinnenfeindlich, der Erotik gegenüber höchst verschlossen und durchweg auf sittliche Bilder bedacht. Ein Irrtum. Denn solches war erst in den 1950ern gegeben, als die hohen Moralwächter von Kirche und FSK ihre subtile Zensur ausübten; zuvor, in den 30ern und 40ern, war zwar durchaus genau vorgeschrieben, was den Zuschauern wie zugemutet werden durfte. Gelegentliche Nacktheit, ob in Melodram oder Komödie, fiel nicht darunter, da gibt es äußerst frivole Szenen, die in Hollywood oder BRD erst 30 Jahre später, im Rahmen von Kulturrevolte, erlaubt werden würde… Harlan also zeigt Titten, und Horst Walther weiß auch, warum: der Anfang ist an sich schlicht langweilig, und irgendwie muss man die Zuschauer packen. Der Herzog von Württemberg wird vereidigt, fährt in der Kutsche durch die Menge des jubelnden Volkes: das hat nur Pepp, weil zufällig eine Bluse zerreißt. Was zudem dazu dient, den Herzog zu charakterisieren: der nicht indigniert wegschaut, sondern schenkelklopfend, lachend hinstarrt.

1733. Herzog Karl Alexander (Heinrich George) ist ein Schwächling auf dem Thron, der gerade dadurch seinem Land gefährlich wird, weil er durch außerordentliche Machtausübung Stärke beweisen zu müssen glaubt. Seine Prunksucht und seine Sexsucht – Verführung minderjähriger Mädels ist ein Hobby von ihm – kostet Geld; Geld, das er sich bei dem Frankfurter Josef Süß Oppenheimer (Ferdinand Marian) beschafft, der schlauerweise die Rückzahlung erstmal aufschiebt, unter der Voraussetzung, trotz Judenbann nach Stuttgart reisen zu dürfen. Dort macht er sich für den Herzog unentbehrlich, wird sein Finanzminister und Geldbeschaffer, presst aus der Bevölkerung Steuern heraus, um sich zu finanzieren – und arbeitet an dem Ziel, seine jüdischen Brüder nicht nur hoffähig, sondern mächtig, allmächtig gar zu machen. Privat begehrt er Dorothea (Kristina Söderbaum), Tochter des Vorsitzenden der Landstände (Eugen Klöpfer), eine Art Bundesrat gegenüber dem herzöglichen Souverän. Süß wiegelt den Herzog gegen die Landstände auf, rät ihm zu Verfassungsbruch und Staatsstreich, um als absoluter Herrscher zu regieren – und lässt Dorotheas Bräutigam Faber (Malte Jaeger) foltern, macht sich dadurch die Begehrte zu Willen und vergewaltigt sie. Sie geht, Reichswasserleiche, die sie ist, in den Neckar, Faber und das Volk empören sich gegen den Juden; und als der Herzog stirbt, hängt er am Galgen.

Wie Horst Walther sagt: eigentlich ist das ein Plot, wie er immer schon und auch heute noch üblich ist. Der Böse geht den Guten an, bis der am Boden liegt, und wenn alles verloren scheint, steht das Gute wieder auf und Happy End. Das sei der Unterhaltungsfaktor, der dem Zuschauer den Film angenehm macht, weil er Gefühle erweckt. Dem beigefügt ist dann die Propaganda; und auch die funktioniere damals wie heute ähnlich: die Bösen kommen – überspitzt formuliert – mit 20 Mann, immer von hinten, machen den Guten, die Identifikationsfigur, nieder, schänden die Frauen der Guten, und wenn ein Kind im Weg ist, wird es gemetzelt. Solche Geschichten emotionalisieren und schweißen zusammen gegen den Feind. Der Unterschied zwischen dem damaligen Filmbösewicht und den heutigen: dass das Böse nicht aus individueller psychischer Perversion stammt, sondern aus der Ethnie, der der Schurke angehört: Oppenheimer ist Jude, Jude Jude Jude, und er ist böse als solcher; und wie er sind sie alle.

„Jud Süß“ ist die perfekte Verbindung von Propaganda und Entertainment. Da werden einerseits – wenig subtil, für jeden verständlich – die (angeblichen) Judeneigenschaften verdeutlicht. Auf der einen Seite besonders durch die von Werner Krauss in einer Mehrfachrolle dargestellten unterschiedlichen Emanationen des jüdischen Prinzips. So kommentiert er die Kreditvergabe des Oppenheimer an den Herzog wohlwollend: „Soller ihm gäbn, gäbn, gäbn, damit wie kännen nähmen, nähmen, nähmen“; und als sterndeutender Rabbi raunt er von der Verstreuung der Juden über die Welt mit dem Ziel, im Geheimen Macht und Herrschaft über die Völker auszuüben.
Auf der anderen Seite: Eugen Klöpfer und Malte Jaeger, der alte und der junge Judenspäher, die wissen, welche Gefahr von den Juden ausgeht, sie drohen mit dem Pfoten: die Vorfahren haben’s verboten! Und natürlich haben sie recht mit ihren stetigen Warnungen.

Andererseits, abseits der offensichtlichen Slogans, geht der Film höchst subtil vor: nämlich, was die Hauptfiguren betrifft, nicht mit bloßer Schwarz-Weiß-Malerei, sondern mit ausgesprochen feiner Psychologisierung. Herzog Karl Alexander ist dick, luxussüchtig, egomanisch und sinnenfroh – sprich: er fickt gerne mannbare Jungfrauen. Und: er weiß, dass er nicht auf seinen jüdischen Berater hören sollte, der immer neue Privilegien für sein jüdisches Volk von ihm verlangt, der ihn zu Verfassungsbruch, zur Revolution von oben treibt – und er lässt ihn trotzdem gewähren, wider besseres Wissen, weil ihm so sein verschwenderischer Lebensstil garantiert wird. Er vernachlässigt die Pflicht zugunsten der Lust.
Neben ihm: Süß Oppenheimer, der ihm zu Diensten ist, der ihm schmeichelt (weil’s dem Herzog so gefällt), der ihm zuarbeitet, ihm eine Ballettschule mit hübschen Tänzerinnen einrichtet, der einen Jungfrauenball organisiert; dem dabei – eine Win-Win-Situation – auch selbst einiges an Luxus und Macht zufällt; und der dabei doch stets seine Agenda verfolgt, der sozusagen – im Gegensatz zum Herzog – Rückgrat beweist: denn alles, was er tut, tut er für sein Volk, für die Juden, die nach Anerkennung streben. Ferdinand Marian spielt ihn auf geradezu sensationelle Weise: in seiner Darstellung läuft alles zusammen, schmeichelnder Schleimer und gieriger Opportunist, getarnter Jude und Kämpfer für ein großes Ganzes, Wollust, Charmeur und Verführer, ja: auch ein Frauenversteher ist er.

Und im Grunde, hier gelangt Harlan auf den Höhepunkt seiner filmischen, seiner psychologischen Könnerschaft: im Grunde hat Oppenheimer die eine böse Tat, die der Film als Höhepunkt seiner jüdischen Schurkenschaft darstellt, nämlich die Vergewaltigung der jungfräulichen Söderbaum, nur bei seinem Herzog abgeguckt, der ja die ganze Zeit nichts anderes macht. Dass wir dennoch empört sind: das eben liegt an der Propaganda-Ideologie, die Harlan fein ziseliert einbaut, indem die Juden nie als Individuen, sondern als Teil der gemeinsten aller Menschenrassen charakterisiert werden. Eben als Parasiten: aber als schlaue Parasiten, die lernen, sich an ihre Umgebung anzupassen, sie für sich zu nutzen. Weshalb auch die Vergewaltigung durch den Juden viel schlimmer ist als jede gewaltsame Verführung durch den Herzog: denn dieser ist als Person ein Schwächling, ein verführter Führer, jener aber ist als Teil des feindlichen Volkes zugange: er vermischt Juden- und Schwabenblut, pflanzt also das Jüdisch-Böse fort; deshalb muss er hängen. Und wie gut Marian ist: bei der Gerichts-Aburteilung und bei der Hinrichtung selbst zerfließt er in jammerndem Selbstmitleid, so herzzereißend klagt er, dass auch der Zuschauer durchaus schon wieder Sympathie empfindet.

Muss dieser Film auch 65 Jahre nach dem Dritten Reich, nach institutionalisiertem Judenhass und -mord auch heute noch unter Vorbehalt stehen? Klar ist: dieser Film ist sehr gut, und deshalb ist er sehr perfide. Und auch wenn die Gefahr, dass es wegen dieses Filmes zu massenhaften antisemitischen Ausbrüchen kommen könnte (die für die Zuschauer der 40er Jahre durchaus nachweisbar sind), ist heute eher gering. Doch andererseits: An einem Film wie diesem eine kleine Lehrstunde in Filmanalyse und Filmpropaganda zu exerzieren, ist sicherlich nichts Schlechtes. Man kann nicht genug lernen, hinter die offensichtlichen Bilder auf der Leinwand zu schauen.

Am Dienstag, den 26.10., wird eine weitere „Jud Süß“-Vorführung im Wiesbadener Murnau-Kino mit Horst Walther als Referenten stattfinden.

Harald Mühlbeyer