Im Kino: ICH - EINFACH UNVERBESSERLICH - Sympathy for the Evil

„Despicable Me“ (USA 2010). Regie: Chris Renaud & Pierre Coffin. Kinostart: 30.09.10


Seien wir doch mal ehrlich: Was wären Filme ohne Schurken? „Der Zauberer von Oz“ ohne die böse Hexe des Westens? „Das Schweigen der Lämmer“ ohne Hannibal Lecter? „Star Wars“ ohne Darth Vader? „Goldfinger“ ohne Goldfinger? Sie geben Superhelden eine Existenzberechtigung. Schauspieler wie Gary Oldman, Christopher Walken oder Alfred Molina wären ohne sie arbeitslos. Sie schenken jedem Disneyfilm erst die richtige Würze.

Schurken sind in. Es ist kein Zufall, dass dieses Jahr zum dritten Mal in Folge der Oscar für die beste männliche Nebenrolle an die Darstellung eines Bösewichts ging (Christoph Waltz für seine Rolle als Hans Landa in „Inglourious Basterds“, davor: Heath Ledger als Joker in „The Dark Knight“ und Javier Bardem als Anton Chigurh in „No Country for Old Men“). Das Böse fasziniert. Schurken haben eine besondere Ausstrahlung, über die Helden nicht verfügen. Denn das Böse ist übermenschlich. Im Bösen liegt eine außergewöhnliche Freiheit, das zutun, was man will – ohne Rücksicht auf andere, ohne Kompromisse. Einfach dem nächsten Impuls nachgeben. Schurken sind äußerste Individualisten: Sie sind ziemlich kreativ, sie schaffen sich eine eigene Welt nach ihren Regeln und überschreiten zur größtmöglichen Entfaltung ihrer Persönlichkeit alle herrschenden Grenzen. Einmal so böse sein wie sie- das wär‘s doch! Das Böse ist nur allzu menschlich. Manchmal fällt es einem leichter, sich mit Schurken zu identifizieren, als mit Helden. Denn als eigensinniger Träumer lebt der Schurke im ständigen Konflikt mit der Ordnung. Im Bestreben, eine völlige Autonomie zu entwickeln, zerreibt er sich schließlich an der alles subsumierenden Gesellschaft – Seine wilden Träume, die Macht in seine eigenen Hände zu bekommen und somit frei über sein Leben bestimmen zu können, sind zum Scheitern verurteilt. Am Ende ist er machtlos, bleibt ein Außenseiter. Doch statt in Verzweiflung zu verfallen, richtet er seine Wut nach außen: Er tut böses.

Diese Strategie der Superschurken wird adaptiert – böse sein ist das neue "gut". Dabei geht es weniger darum, anderen Leuten wirklich böses anzutun, als vielmehr ironisch mit dem filmisch kodierten Böse-sein zu spielen. So werteten „Pinky und der Brain“, Warner Bros. ambitionierte Labormäuse, das Streben nach Weltherrschaft zum respektierten Karrierewunsch auf jedem StudiVZ-Profil auf. Dr. Evil aus „Austin Powers“ machte die Schurkenlache („Wuhahaha!“) salonfähig. Und „Sweeney Todd“ zeigte schließlich, dass Rache ein Gericht ist, „best served sung“.



In seinem unterirdischen Reich des Bösen bastelt das evil genius Gru (Steve Carrell, deutsch: Oliver Rohrbeck) an seinen neuesten Plänen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Unterstützt wird er dabei von dem genialen wie senilen mad scientist Dr Nefario (Russell Brand, deutsch: Peter Groeger) und einer Schar getreuer Minions, gelbe Winzlinge mit der Form einer Kartoffel und dem Verstand einer solchen. Doch der Weg zum Thron des Bezwingers der Welt ist mit vielen Steinen versehen. Angefangen bei der eigenen Mutter (Julie Andrews, deutsch: Kerstin Sanders-Dornseif), die keine Sekunde ungenutzt lässt, ihrem Sohn zu vermitteln, für was für einen großen Versager sie ihn doch hält und selbst seine übelsten Errungenschaften nicht zu schätzen weiß. Außerdem schläft die Konkurrenz nicht.

Gru wird herausgefordert von dem jungen, aufsteigenden supernerd-gone-supervillain namens Vector (Jason Segel, deutsch: Jan Delay), der eine Vorliebe dafür zu hat, Waffen zu entwickeln, die arglose Meeresbewohner abfeuern. Während dieser es neuerdings fertig gebracht hat, die Pyramide von Gizeh zu stehlen, hatte es Gru gerade mal geschafft, die Miniaturversion der Freiheitstatue aus Las Vegas zu mopsen. Wie gut, dass Gru im Wettkampf um die Weltherrschaft, wie es sich für jeden guten Schurken gehört, ein Ass im Ärmel hat in Form eines gewaltigen Planes: Er hat nichts Geringeres vor als den Diebstahl des Mondes! Wäre da nicht dieses ewige Dilemma mit dem Geld. Da Grus letzte Projekte nicht gerade vom Erfolg gekrönt waren, will sein Geldgeber, der ungehaltene Mr. Perkins (Will Arnett, deutsch: Axel Lutter), seines Zeichens Kreditmanager der Bank of Evil („formerly known as Lehman Brothers“), Gru erst das Geld geben, wenn dieser den Schrumpfstrahl, das zentrale Werkzeug in Grus finstrem Plan, in seine Gewalt gebracht hat. Ansonsten dreht ihm die Bank nicht nur den Geldhahn, sondern gleich auch noch den Hals um. Dumm nur, dass sich ebenbesagter Schrumpfstrahl in den Händen seines Erzfeindes Vector befindet.

So bleibt Gru keine andere Wahl, als in Vectors uneinnehmbare Festung einzudringen. Nach etlichen Versuchen, die alle in einem spy vs spy–Fiasko à la Mad Magazine endeten, wird Gru Zeuge, wie drei kleine Waisenmädchen unbehelligt in Vectors Versteck spazieren, um ihn seine Lieblingscookies zu verkaufen. Das bringt Gru auf eine geniale Idee: Er benutzt die zu diesem Zweck frisch adoptierten Mädchen und ihren Bollerwagen voller Cookies als trojanisches Pferd für seine Keksroboter, mit deren Hilfe er an den Schrumpfstrahl gelangen will. Doch in all seinen Plänen hat Gru eines nicht bedacht: Dass die aufgeweckte Margo (Miranda Cosgrove, deutsch: Friedel Morgenstern), die freche Edith (Dana Gaier, deutsch: Derya Flechtner) und die von Süßigkeiten und Einhörnern träumende Agnes (Elsie Fisher, deutsch: Sarah Kunze) bald seine gesamte Welt auf den Kopf stellen werden. Sie konfrontieren in schließlich mit seiner schlimmsten Seite: seiner Menschlichkeit.




James Bond meets „The Addams Family“

„Ich – Einfach Unverbesserlich“ ist der erste Film von Universal Pictures neu gegründeten Abteilung für Familien- und Animationsfilm, der Produktionsfirma Illumination Entertainment. Gründer ist kein geringerer als Produzent Chris Meledandri, der zuvor 13 Jahre lang für 20th Century Fox das Animationsdepartment leitete und für Erfolge wie die „Ice Age“-Franchise, „Robots“, „Horton hört ein Hu“ oder den „Simpsons“-Film verantwortlich war. Als Animationsstudio für Illumination Entertainments ersten Filmstreich suchte sich Meledandri das französische Studio Mac Guff aus. Unter der Leitung der beiden Regisseure Chris Renaud und Pierre Coffin kreierten die Animationskünstler eine liebevoll ausstaffierte Welt des Bösen, in der es nur so von Filmzitaten und Genrekarikaturen wimmelt.

Für die Außenwelt wählten die Künstler einen suburban gothic-Stil à la Tim Burton. Ebenso wie der ehemalige Disneyzeichner arbeiteten die Künstler auch hier mit einem klaren Kontrast von angenehm-düster und schrecklich-bunt. Nur, dass sich Grus dunkles, viktorianisches Anwesen, das auf Universals Horrorfilmgeschichte der 30er Jahre verweist, sich nicht wie Edwards romantisch-schauriges Spukschloss aus „Edward mit den Scherenhänden“ auf einem abgelegen Berg befindet, sondern gleich Haus an Haus mitten in der aufdringlich farbenfrohen Kulisse einer zeitlich irgendwo zwischen den 50ern und 60ern gefangenen Vorstadtidylle.



Die Inneneinrichtung von Grus Haus borgt sich einiges von dem schwarzen Humor des Zeichners Charles Addams – Gru erinnert selbst von seinem äußeren Erscheinungsbild, eine gelungene Mischung aus Ernst Stavro Blofeld und Graf Orlok aus Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“, stark an Onkel Fester aus der „Addams Family“. So hängt an der Wand ein Raubtier als Beute im Maul eines noch größeren Raubtiers im Maul eines noch noch größeren Raubtiers. Der Teufel steckt eben im Detail. Überhaupt ist das Haus praktisch übersät mit etlichen Todesfallen. Der ideale Spielplatz für Kinder also. Doch ein geheimer Zugang in klassischer Batman-Manier verschafft Zugang in Grus unterirdisches Versteck, bei dessen Anblick jeder James Bond-Superschurke nur vor Neid erblassen würde. Grus in doppelter Hinsicht charmant altmodisches Reich des Bösen – Außen Maniac Mansion, Innen 60er Jahre spy thriller-Ambiente – steht allerdings im klaren Widerspruch zu Vectors neumodischer Technikhochburg. Statt gruselig-heimischer Atmosphäre versprüht seine Unterkunft den kühl-futuristischen Charme einer X-Box. Seine „Fortress of Vectortude“ erweist sich als die einsame Festung eines verwöhnten Jungen, in deren leeren Hallen er den ganzen Tag im Trainingsanzug gelangweilt Wii zockt.


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Wie beim Design bezieht auch die Story ihren größten Reiz durch den Kontrast aus Grus Welt des filmischen Bösen und der überzeichneten Alltagswelt. So muss Gru den Gesetzen seiner Figurenzeichnung gehorchend stets seine sadistische Ader zum Vorschein bringen – selbst in den banalsten Alltagssituationen. Auch wenn es darum geht, beim Einparken des eigenen Ungetüms von einem Auto so viele Vehikel wie möglich zu demolieren oder beim Anstellen in einem Caféladen sich nach vorne zu drängeln, indem man die Leute aus der Warteschlange mit einem Gefrierstrahl malträtiert. Es sind halt doch die kleinen Dingen im Leben, an denen man sich am meisten erfreut.

Interessanterweise ist ein sadistischer Tick, mit dem Gru im Film eingeführt wird, gleichzeitig überaus vielsagend für seinen Charakter: Er liebt es, kleinen Jungs die Luftballons zu zerstören. Zu seinem Leidwesen muss dies auch ein ahnungsloser Junge in der Exposition feststellen. Er hat gerade sein Eis auf den Boden fallen lassen und ist darüber natürlich todtraurig. Gru entdeckt ihn, erkennt seine niedergeschlagene Situation und schenkt ihm prompt zur Aufheiterung einen selbst gezwirbelten Luftballonpudel. Der Kleine ist überglücklich, sein Tag ist gerettet – Doch plötzlich lässt der gezielte Stich einer spitzen Nadel den Luftballon und somit die Freude des Jungen zerplatzen. Gru grinst zufrieden, wirft die Nadel aus der Hand und schiebt den erschütternden Jungen beiseite.



Es ist, als wollte Gru dem kleinen Jungen eine Lektion fürs Leben erteilen: Wenn man am Boden ist, bauen Hoffnungen und Träume einen nur so lange wieder auf, bis sie wie ein Ballon mit einem Mal explodieren und einen nur noch weiter in die Verzweiflung treiben. Der verbitterte Erwachsene kommuniziert hier mit seinem damaligen, kindlichen Ich. Auch Gru hatte einmal einen Ballon voller Träume, er wollte zum Mond fliegen, wie seine Helden Armstrong und Co aus dem Fernsehen. Doch mit einem gezielten Stich in Herz brachte seine ablehnende Mutter seine Träume zum Platzen:

Klein-Gru: „Mom, someday, I'm going to go to the moon!“
Grus Mutter: „I'm afraid you're too late, son. NASA isn't sending the monkeys anymore.“



Seither wurde der Kampf um die Aufmerksamkeit der Mutter zur Triebfeder seines bösen Schaffens – bis hin zu seinem gigantomanischen Plan, den Mond zu stehlen. Seine Bösartigkeit und Sadismus ist nur der Versuch, über ein verletztes Herz hinweg zu täuschen. Gru war eigentlich nie richtig böse. Genauso wie Vector. Die wirklich Bösen sind andere: Die Institutionen. Vertreter der Ordnung. Da wäre zum Einen die patente Miss Hattie (Kristen Wiig, deutsch: Nana Spier), die Leiterin des Waisenhauses. Hinter ihrer scheinbaren Freundlichkeit steckt eine rigorose Despotin, die über ihr Mädchenwaisenhaus (und das damit verbundene Cookie-Imperium) mit eiserner Faust regiert. Wer aus der Reihe tanzt, kommt in die „Ich schäme mich“-Kiste. Dann gibt es natürlich noch die Bank of Evil. Klar, dass in der heutigen von Finanzkrisen und maßlos wie korrupten Managern gebeutelten Zeit die Bank als wahrer Nucleus des Bösen herhalten muss. Ihre erdrückende Macht wird wunderbar in der Architektur ihrer Eingangshalle visualisiert: Dort erblickt Gru eine Reihe von Säulen, unter deren Bürde die stützenden Menschenstatuen regelrecht zerquetscht werden. Doch unter all den bösen Autoritäten entpuppen sich ausgerechnet die Eltern als Wurzel allen Übels.

Das bezaubernde Wesen von Grus Mutter haben wir ja schon kennengelernt – Grus Verhältnis zu ihr steht den verhängnisvollen Beziehungen von großen Bösewichtern wie Norman Bates oder Tony Soprano zu ihren Müttern in nichts nach. Umso ironischer erscheint dabei die Besetzung von „Mary Poppins“-Darstellerin Julie Andrews als Grus nicht liebende Mutter. Doch auch Vector hat Probleme mit seinem Vater, der sich als kein geringerer als der unbarmherzige Mr. Perkins, Vorsitzender der Bank of Evil, erweist. Auch Vector kämpft mit seinen Verbrechen letztlich nur um die Anerkennung seines Vaters und versucht, dem Bild des kleinen, nichtsnutzigen Verlierers zu entkommen, das ihm Vater weiterhin auferlegt: „I’m not Victor anymore, I’m Vector!“




Superbad. Superdad.

Als seine Ersatzfamilie, die er sich mit seinen Minions und dem (Groß-)Vaterersatz Dr. Nefario aufgebaut hat, durch die drei kleinen Mädchen erweitert wird, entdeckt Gru sein Bedürfnis für Zuwendung und – ausgerechnet – seine Talente als Vater. Es stellt sich das heraus, was man schon die ganze Zeit vermutet (und befürchtet) hatte: Gru ist kein Schurke, sondern nur ein Antiheld, oder besser, ein reluctant hero, ein Held wider Willen. Denn ein Schurke kann kein Happy End haben. Trotz aller Subversion darf man nämlich nicht vergessen, dass „Ich – Einfach Unverbesserlich“ ein unterhaltsamer Familienfilm ist, der vor allem, wie soll‘s auch anders sein bei einem Animationsfilm, durch seine Bilder überzeugt. Neben dem detailverliebten Design ist dafür auch nicht zuletzt die beeindruckende 3D-Optik verantwortlich, die eine Achterbahnfahrt im „Super Silly Fun Land“-Vergnügungspark zu einem atemberaubenden Kinoerlebnis macht. Doch leider lässt der Film bei allem Oberflächenrausch die Tiefe der Erzählung vermissen, die Konkurrent Pixar zuweilen noch gekonnt in das Bildvergnügen einzuverleiben weiß. So überschattet die gelegentlich in Kitsch abzurutschen drohende Sentimentalität des Films die angedeutete Tragik, die der Stoff um das Leben eines Superschurken nunmal innehat. Die große Versöhnung am Ende lässt keine dunklen Trübungen mehr zu, der Film kehrt zu altgewohnten Konventionen zurück. Die Ordnung hat wieder gewonnen. So ein Mist.

Simon Born


DESPICABLE ME

Regie: Chris Renaud, Pierre Coffin
Drehbuch: Cinco Paul, Ken Daurio, Sergio Pablos (Story)
Produzenten: Chris Meledandri, Janet Healy, John Cohen, Sergio Pablos, Nina Rowan
Produktionsdesign: Yarrow Cheney
Musik: Pharrell Williams, Heitor Pereira
Sprecher: Steve Carell (Gru, deutsch: Oliver Rohrbeck), Jason Segel (Vector, deutsch: Jan Delay),
Russell Brand (Dr. Nefario, deutsch: Peter Groeger), Kristen Wiig (Miss Hattie, deutsch: Nana Spier), Miranda Cosgrove (Margo, deutsch: Friedel Morgenstern), Will Arnett (Mr. Perkins, deutsch: Axel Lutter), Danny McBride (Fred McDade, deutsch: Hans-Jürgen Dittberner), Dana Gaier (Edith, deutsch: Derya Flechtner), Elsie Fisher (Agnes, deutsch: Sarah Kunze), Julie Andrews (Grus Mutter, deutsch: Kerstin Sanders-Dornseif)
Verleih: Universal Pictures
Laufzeit: 95 Min.
Kinostart Deutschland: 30.09.2010