Filmfest München: Eine Klaus-Lemke-Hommage

Man kann ja an die hundert Jahre Filmgeschichte nur so ganz allmählich nachholen.

Ich hatte noch nie einen Klaus-Lemke-Film gesehen; aber natürlich wusste ich, dass dies ganz obligatorisch anstehen muss in meinen Filmerfahrungen. Dass das Filmfest München eine kleine Lemke-Hommage im Programm hatte, konnte ich daher natürlich nur als aufforderndes Zeichen des lieben Filmgotts begreifen.

„Wir zeigen jeden Film nur einmal, und Lemke ist dabei“, schreibt Christoph Gröner im Programmkatalog: „Nur so geht es. Entweder man ist da – oder eben nicht, und verpasst alles in diesen Nächten in Schwabing, jenem Ort, an dem der Filmemacher immer noch lebt, wenn er nicht filmt.“ Es hieß also, im persönlichen Filmmarathon Platz zu schaffen für ein paar Lemke-Filme im Kino Münchner Freiheit – und dabei zudem noch das Gespräch mit ihm nicht zu verpassen, mit Lemke, dem radikalen, bissigen, eloquenten, klugen, alten, jungen Filmemacher.

(c) Filmfest München
Ein Gespräch vor den Filmen. Ein Gespräch, dessen Regeln Lemke zuvor schon klar gemacht hatte: Dies ist keine Volkshochschule. Keine vorbereiteten Fragen, keine vorgefertigten Antworten. Sondern zunächst Anlass für einen viertelstündigen Monolog, einen Rundumschlag gegen das deutsche Kino der Gegenwart, gegen die Goetheinstituts- und Volksbildungs-Filme, die sich zurücklehnen ins Kissen staatlicher Förderung, um dann überhaupt nicht Neues zu erzählen.

Lemke sprach von zwei Modellen in der Filmgeschichte: Erstens das, in dem von 1945 bis ’60/65 der Film als Dienstleistung gesehen worden sein, der sich dem freien Markt zu stellen habe, und zweitens das SPD-Modell, Film als Kulturgut zu begreifen und ihn mit staatlichen Mitteln zu päppeln. „Vollkommener Unsinn“, so Lemke, „so wird Film zur aussterbenden Tierart“. Vom Freihandelsabkommen zwischen EU und USA („Der freie Markt ist die letzte Möglichkeit für den Film“) über die Förderanstalten („mehr Geld – beschissenere Filme“) bis zu den zeitgenössischen Regisseuren („Wichser, die den Förderern gefallen wollen“) geht seine Hasspredigt auf den Zustand des Films, in der er freilich derzeit kleine Lichtblicke sieht, die Lass-Brüder, Axel Ranisch, Nico Sommer (die Bernd Zywietz in Ansichtssache unter dem Label „German Mumblecore“ porträtiert) – freilich würden auch die inzwischen nach Förderung schielen und deshalb notwendig uninteressant werden.

Lemke hat dies alles in seinem Hamburger Manifest von 2010 schlagwortartig zusammengefasst – und wenn man die Reihe der deutschen Kinofilme sich ansieht, die dieses Jahr in München lief, kann man ihm nur beipflichten (der werte Verfasser hat das Neue Deutsche Kino des Filmfests für kino-zeit.de begleitet…) Die Künstlichkeit der Ausstattung! Die Geziertheit des Spiels! Die Konstruiertheit der Dramaturgie! Die Funktionalität der Figuren und ihrer Psychologien! Die Vorhersehbarkeit von Handlungen und Konflikten! Die Unfähigkeit, einfach mal filmisch zu erzählen!

Lemke ließ sich von Christoph Gröner dann ein bisschen lenken auf die eigene Biographie, etwa auf Anekdoten zum Umfeld der jungen Filmemacher im München in den 1960ern – mit Wenders, bevor er größenwahnsinnig wurde, mit den Radikalen – Andreas Baader, der Mädchen, Autos, Alkohol und Filme im Sinn hatte, mit dem späteren Kaufhausbrandstifter Horst Söhnlein, „ein Franke, und die Franken können nie was mit Mädchen anfangen.“

Und seine eigene Radikalisierung, freilich im Bereich des Filmemachens, nachdem er mit „48 Stunden nach Acapulco“ und „Negresco“ in den Jetset-Bereich des Reichtums gekommen war und dann nach Hamburg ging, alles zurückließ, und dort das Raue der Straße und die Rohheit der Menschen in sich aufnahm und filmisch ausdrückte – kurz: als er unter die „Rocker“ ging.

Im Haus, in dem sie drehten und wohnten, damals, 1971, wohnte unten die Baader-Meinhof-Gang,
im ersten Stock die Drogendealer, und unterm Dach, als Schutzmacht, die Rocker. Die waren Lemke von Iris Berben in den Kopf gesetzt worden, die von den richtig harten Jungs in Hamburg schwärmte, die die Münchner Möchtegernfilmer locker in die Tasche stecken würden… Lemke ging nach Hamburg: „München, das waren Küsse im Dunkeln. Hamburg, das war in die Fresse kriegen.“

Lemke drehte mit den Rockern und für die Rocker, für ein Gefühl unbedingter Freiheit, völliger Losgelöstheit von Normen, er drehte auf der Straße, mit all denen, die sich selbst spielten, die sprachen, wie sie sprachen, die taten, was sie taten, die nicht gelenkt werden konnten und der Filmhandlung nur soweit folgten, wie sie sie selbst leben konnten. Eine Handlung, der kein Drehbuch als Grundlage diente, ein Prinzip, dem Lemke bis heute folgt, ein Film, der seine Kraft und seine Gewalt aus den Geschichten zog, die Lemke bei seinen Laien-Protagonisten selbst vorfand: „Film ist reiner Diebstahl. Ich treffe auf Leute, die was haben, was ich nicht habe, und wenn ich einen Film mache, kann ich das klauen“, so erklärt Lemke sein Prinzip. „Ich nehme ihnen die Persönlichkeit, ihr Herz, und lege es in den Film hinein. Andererseits gebe ich ihnen dann auch etwas, etwas von mit selbst, und wenn es nur die halbe Stunde Ruhm im Film ist.“

„Rocker“, das sind eigentlich zwei Geschichten: Gerd wird aus dem Gefängnis entlassen, sucht seine Freundin Sonja, muss sich eine neue Maschine besorgen und will damit dem Milieu eigentlich auch den Rücken kehren – wenn er auch seine Rocker-Haltung nicht aufgeben will. Und Uli, Untermieter und vermutlich auch Liebelei von Sonja, versucht, Autos zu klauen und zu verticken, wird aber von einem Kölner Lackaffen verarscht. Beklaut daher seine Schwester, seinen Bruder; und wird diesen, den 15jährigen Mark, der sich ihn so verehrt, nicht wieder los.

Diese zweite Story hat sich in den Filmdreh hineingeschlichen, Lemke hat zufällig auf der Straße den jungen Hans-Jürgen Modschiedler gesehen, verfolgt und für seinen Film engagiert – einen rotzfrechen Jungen, der sich nichts sagen ließ, der damit perfekt in Atmosphäre und Thema von „Rocker“ passt. Modschiedler spielt Mark – und nennt sich gegenüber Gerd und seinen Lederjackenkumpels auch mal bei seinem richtigen Namen, die Durchlässigkeit zwischen Leben und Film ist groß.

Eine tolle Szene, wie sich die Handlungsstränge treffen: Wie Mark, desillusioniert und in Trauer um seinen totgeschlagenen Bruder, in der Bushaltestelle schläft, während Sonja an ihm vorbeiläuft zu Gerd. Fortan nimmt sich der Rocker des Jungen an, rotzig, trotzig, herzlos und zugleich voller Wärme, ja fast schon Zärtlichkeit…

„Rocker“, so Lemke, ist damals einmalig im ZDF gesendet worden. Und inzwischen einer der meistwiederholten Filme. Erst zwanzig Jahre nach Dreh wurde er in Hamburg Kult, wurde als der Hamburgfilm erkannt. Die Leute können die Dialoge mitsprechen, das lose Mundwerk ging in die Umgangssprache ein: „Dicker“, das sei zuvor weder in Film noch in Literatur je gesagt worden, und inzwischen, auch dank „Rocker“, zum Standard im Umgang geworden. Überhaupt die Sprache im Film, abgeguckt vom wirklichen Leben, und angereichert mit Sprüchen und Ausdrücken, die vor allem Paul Lyss, Darsteller von Uli und Lemke-Spieler in zwei weiteren Filmen, prägte: „Noch nie ne alte geknüppelt?“- „Geil wie Schifferscheiße!“ – „Du sitzt da wie Graf Koks aus der Gasanstalt“ – „Du Klappstuhl“ – „Du Brathuhn“ – „Du kalter Puffer“.
Und der unsterbliche Anmach-Dialog in der Straßenbahn:
„Haste schon mal gebumst?“
„Ich bumse nicht.“
„So wie du ausschaust, haste doch schon mal gebumst!“
„Hab ich auch.“
„Na siehste, wollt ich doch nur mal wissen.“
Um dann, später, mit der Torte im Kneipenklo zu verschwinden und heftig zu fummeln.

(c) Filmfest München
Sylvie“ ist etwas anderes Kaliber. Sylvie handelt von Sylvie Winter, Lemkes Freundin damals, ein Fotomodell, erstes Nacktmodell auf einem Sterntitel, Glamour, Reichtum – Lemke: „Sie hatte eigentlich grobe Bauernhände, wusste aber vor der Kamera immer, wie sie sie drehen musste, damit sie zierlich und graziös erschienen.“ Sylvie, 1972 gedreht, ist ein Rückblick auf Lemkes vergangenes Jetset-Milieu – und enthält mit Paul Lyss wieder die rohe Kraft, die Rocker ausmachte, vermengt mit einer gewissen Leichtigkeit, die zugleich eine Überspanntheit ist; das kommt von Sylvie, die sprunghaft, neurotisch, immer voll im Moment und ohne Konsequenzen lebt. Die angstvoll einen Flugzeugabsturz imaginiert, dann doch in die Maschine steigt, dort den Mann aus ihrem Traum wiedersieht, sich mit ihm verabredet, aber zuvor mit Champagner zusauft, eine Menge futtert, Zigarre raucht, sich im Edelrestaurant völlig danebenbenimmt – das Vorglühen vor dem erwarteten Heiratsantrag wird zu einem Umwerten, nein, zu einem Vergessen aller Pläne.

Sie lernt einen unfähigen Taxifahrer kennen, der eigentlich Seemann ist, Paul Lyss, der sich dämlich anstellt, aber genau weiß, was er will: nämlich zurück aufs Meer; der einerseits von Sylvie nicht loskommt – weil wiederum sie nicht loslässt –, der andererseits mit ihr gar nichts anzufangen weiß. Der großspurig Stories erzählt, Lügen und Geschichten und Anekdoten, die wahr sein können oder auch nicht; und der zugleich den Einblick, den er in Sylvies Leben hat, nutzt, um sein eigenes – recht erbärmliches, vor allem aber ganz anderes – Leben bestätigt zu sehen.

Wie direkt, wie unmittelbar Lemke auf seine Zeit reagiert, zeigt sich in zwei Details: In „Rocker“, gedreht im Herbst 1971, läuft als Filmmusik auch mal Led Zeppelins „Rock and Roll“, veröffentlicht im November 1971. Und in Sylvie, wo wir das Model bei drei Fotoshootings ausführlich beobachten – eine Präsentation der Hauptfigur vor der Film- wie vor der Fotokamera, und beide Apparate sind in sie verliebt –, fliegen wir einmal, bei einem Trip nach New York, um die Twin Tower des World Trade Centers, zwei Monate vor deren Eröffnung, und auf dem Dach tanzt Sylvie, fotografiert von Del Negro. Ich kenne keinen anderen Film, der die Macht, die Größe des World Trade Centers je so eingefangen hat wie Lemke in „Sylvie“, der als einer der wenigen überhaupt die Genehmigung erhalten hat, sich mit einer Kamera in einem Helikopter die Türme hochzuschrauben! „Ganz merkwürdige Bilder“, findet auch Lemke, der in München seinen Film zum ersten Mal seit 40 Jahren wieder gesehen hat. Und Beweis auch für die Kraft seiner filmemacherischen Leistung, spontan, aus den Protagonisten und den Möglichkeiten, die sich auftun, ganz Großes zu schaffen.

Harald Mühlbeyer