Hofer Filmtage 2014: Folter, Vergewaltigung und Mord
Die Kamera streicht in sanftem Lichtschein über den schönen
Frauenkörper, mit halbverhangenen Augen blickt die junge Frau den Zuschauer an,
und erst langsam merken wir, dass die Hände, die über ihre Haut streifen, nicht
sehr zärtlich sind. Dass Angst im Blick der Frau steht. Dass ihr Mund geknebelt
ist. Auftakt zu einem kleinen thematischen Schwerpunkt bei den diesjährigen
Hofer Filmtagen, der mit Entführung, Vergewaltigung und Tötung die düsteren
Seiten des Lebens bebildert.
Alsbald werden ein paar handliche Pakete gefunden werden, im
Kofferraum eines Autos, in Mülltonnen, auf einem Friedhof verteilt: „A Walk
Among the Tombstones“, der am 13. November in die Kinos kommt, schwelgt im
ganz, ganz Bösen, und lässt Liam Neeson als privater Ermittler ohne Lizenz in
Abgründe schauen. Neesons Figur Scudder ist das ziemlich gewohnt, hat sich
seine eigene private Psychohölle gebaut, weil Neeson eben immer wieder
Ex-Alkoholiker, Ex-Brutalos spielt, die von der Vergangenheit eingeholt werden.
Regisseur Scott Frank schafft es dabei tatsächlich, über den
Standard-Neeson-Faktor hinaus eine hardboiled-Atmosphäre zu schaffen, in der
jeder des anderen Wolf ist, oder sein kann, in der keiner unschuldig ist, und
wenn doch, dann ist er – besser: sie – alsbald tot. Scudder wird von einem
Drogenboss beauftragt, dessen Frau entführt und zerstückelt wurde; bald merkt
er, dass hier Serientäter ihr Unwesen treiben, und bald wissen wir auch, wer
diese sind – kein Whodunnit ist das, andererseits: auch kein Suspense-Thriller,
weil Scudder selbst über weite Strecken kaum bedroht ist; sondern ein Blick auf
das Böse an sich, auf das, wonach die übrigen Verbrechen einigermaßen normal
erscheinen; auf das, woran sich der traumatisierte Scudder wieder einigermaßen
aufrichten kann.
Ja, die Bösewichter: Die sind wirklich ganz konsequent
gezeichnet, sadistische Soziopathen, gewalttätig und gefühllos – und das bis
ins Ultimative hinein: Wie geht es eigentlich bei einer Partnerschaft zweier
irren Serienkillern so zu? Leider kann Frank seinen Film nicht wirklich
ausbalancieren – vor allem die Figur des jugendlichen TJ nervt in seiner
penetranten Sidekickhaftigkeit, ein Straßenkid, das sich dem unwilligen Scudder
anschließt, damit der nicht ganz alleine durch die Düsternis der Stadt wandeln
muss – sehr überflüssig und dem Flow des Films stromabwärts ziemlich im Wege.
Keine Angst vor Klischees, vor Trashmomenten hat der kleine
deutsche Thriller „True Love Ways“ von Mathieu Seiler, und genau
deshalb, weil er diese Elemente bewusst einsetzt oder zumindest in Kauf nimmt,
passt hier der etwas billige Look hinter der Schwarz-Weiß-Fassade der Bilder, das
zuweilen etwas unterkomplexe Spiel der Darsteller, die Orientierungslosigkeit
der Film-Topologie in labyrinthischen Kellergängen und die Überambitioniertheit
von Beginn und Ende, die das Ganze in eine merkwürdige Traumstimmung versetzen,
in der die Ebenen des Films mehrfach verschwimmen.
Séverine will sich von ihrem Freund trennen, weil sie von
einem schönen Mann geträumt hat. Und sie fühlt sich beobachtet, durchs Fenster,
durch die merkwürdigen men in black im Park, durch diese starrende
Rollstuhlfahrerin… während Freund Tom in der Kneipe von einem eleganten Herrn
angesprochen wird mit tollem Ratschlag, die Freundin wiederzugewinnen: ein
fingierter Überfall, sie dann als Held des Tages erretten…
Im Fernsehen die Übertragung einer Schönheitskönigin-Wahl
sowie eine Diskussion über Snuff-Videos, und schon sind die Pole abgesteckt:
Bösewichter verfolgen Séverine im Wald, sie flieht in ein Landgut,eine
schlossähnliche Villa, dort wird sie Zeuge von Folter, Vergewaltigung und Mord an der
Schönheitskönigin, aufgezeichnet mit der Kamera zum Verkauf an zahlungskräftige
Home-Entertainment-Sadisten. Flucht, Versteck, Zurückschlagen: Séverine ist
sowieso tatkräftig und selbstbewusst, sie weiß sich zu wehren; und der Film
weiß in diesem Mittelteil auch sehr genau, die richtigen Akzente zu setzen: Der
Tonmann des Snuff-Filmteams, der mittels seines empfindlichen Mikrophons nach
akustischen Spuren Séverines lauscht; der verwunschene Märchenbrunnen im Wald;
und der Retro-Charme mit Wählscheibentelefon und VW-Käfer im
Schwarz-Weiß-Ambiente, durch den Seiler einen zeitlosen Rahmen schafft…
Ein ziemlich guter Film in seiner bewussten Entscheidung, in
der C-Klasse zu spielen, der lediglich gegen Ende seine Dramaturgie allzu sehr
ins Schlingern bringt; der aber über weite Strecken schönen Spaß bereitet.
Im Gegensatz zu einem anderen deutschen Film, in dem alles
falsch und dumm ist, in dem sich der Wille zur Satire vollständig auflöst im
Unvermögen an Dramaturgie, Figurenzeichnung und Erzählperspektive. Andreas
Arnstedt, der zuvor den reichlich entbehrlichen Hartz-4-Porno „Die
Entbehrlichen“ gedreht hat, lässt nun in „Der Kuckuck und der Esel“
einen durchgeknallten Hinterwäldler, der als Identifikationsfigur herhalten
soll, einen arrogant-schleimigen TV-Redakteur entführen, um diesen endlich für das
Drehbuch zu begeistern, an dem er schon so lange rumdoktert. Jetzt ist das
ganze schon mal grundsätzlich eine recht larmoyante Konstellation: Ein
Drehbuchautor und Regisseur, der ungefördert und ohne TV-Anstalt einen Film
dreht über einen Drehbuchautor, der bei den Redaktionen der
Öffentlich-Rechtlichen regelmäßig aufläuft und keinen Fuß in die Tür kriegt…
Eine Haltung von beleidigtem Trotz scheint den Film zu durchziehen, im Hintergrund
– aber das eigentlich Schlimme ist das, was offen in den Bildern zur Schau
getragen wird.
Da haben wir Conrad, den zögerlichen, naiven Drehbuchautor,
der mit seiner Familie in einem Wohnwagen im Wald wohnt und der seit Jahren an
seinem Drehbuch „Der Orangenhain“ laboriert, seit Jahren hingehalten wird vom
TV-Redakteur; da haben wir Stuckradt Halmer, gespielt von Jan Hendrik
Stahlberg, rückratloser Schleimer und Opportunist des öffentlich-rechtlichen
Systems; und, vor allem, Papa Ephraim, der seinen Sohn Conrad zur Entführung
von Halmer antreibt und dessen Willen mit allen Mitteln bricht. Ihm einen Zahn
zieht, mit der Beißzange; einen Wanderer, mit dem Halmer aus seiner
Gefangenschaft heraus Kontakt aufgenommen hat, kurzerhand erschießt – und
Halmer die Leiche entsorgen lässt, ihm auch vorher nochmal genüsslich klar
macht, dass dieser Tote ein liebevoller Familienvater war… Später dann, in
einer ekelerregenden Szene, wird Halmer vom degenierten Knecht des Nachbarhofes
in den Arsch gefickt.
Conrad macht das alles mit, diesen ganzen väterlichen
Faschismus von Ephraim, der allzeit sein Judentum raushängen lässt und vom
Holocaust-Verbrechen brabbelt; während das Drehbuch, das Conrad geschrieben
hat, halt wirklich scheiße ist, eine Liebesschmonzette zwischen Hardliner-Jüdin
und Hamas-Aktivisten: im Grunde genau das, wonach sich die TV-Redaktionen die
Finger lecken, in der Behauptung des Films aber viel zu anspruchsvoll für die
Fernsehlandschaft – und ein Beispiel für die wilde, beliebige Verteilung von
Spott, die Arnstedt betreibt, der sich über alles soweit lustig macht, bis
nichts mehr übrig bleibt, keine Haltung, keine Perspektive. Der dieses
lächerliche Drehbuch von Conrad als lächerlich behauptet, zugleich aber die
TV-Redaktion-Bürokratie karikiert und ganz haltlos Salven wider die deutsche
Filmkultur loslässt, die an sich nicht unrichtig sind (der kulturelle Bruch
durch das Naziregime, der bis heute spürbar ist) – dies aber dem sadistischen
Protofaschisten Ephraim in den Mund legt, bei dem alles, was er sagt und tut,
falsch ist – eben außer seiner Schelte auf Kino und TV, die sich so ziemlich mit
Arnstedts Meinung decken dürfte…
Ein erbärmliches Schauspiel, dieser Film; gedreht von einem
Regisseur, der sein Handwerk nicht versteht, der wirre Ansichten wirren Figuren
in den Mund legt und das als Kommentar zur Kulturlosigkeit verstanden wissen will.
Einer, der rumwitzelt über die Obsession von Fernsehredakteuren über die
zwanghafte Ambivalenz von Figuren, der andererseits selbst turboambivalente
Figuren zeichnet vom Fascho-Juden, der in seiner Freizeit malt, oder vom
Schleimer-Redakteur mit Down-Syndrom-Tochter.
Klar trifft Arnstedt manchmal empfindliche Punkte, und
mitunter spielt er lustig mit den Klischees von Redakteuren und Drehbuchautoren
– aber eben nur punktuell, und in einem Kontext, der alles wieder zunichte
macht. Dennoch – vermutlich für diese Art satirischer Medienschelte – hat er
für seinen Film in Hof den Förderpreis deutscher Film erhalten – wobei
geflissentlich übersehen wurde, mit welch gefährlichen antisemitischen Topoi er
spielt, wenn sein Ephraim, der Sadist, das große Wort von der deutschen Schuld
im Munde führt, mit der er seine psychopathischen Aktionen rechtfertigt; und auf
welch widerwärtige, ja unmoralische Art Entführung, Folter, Vergewaltigung und
Mord durch den Holocaust legitimiert und zudem gleichgesetzt werden mit der
Ablehnung eines Drehbuchs.
Präzision in der Inszenierung, Klarheit in der filmischen
Vision, Konzentration beim Thema: Diese Tugenden exerzierte Eric Cherrière mit
seinem Langfilmdebüt „Cruel“ beispielhaft durch: Wir folgen Pierre, der
zuhause seinen alten Papa pflegt, der im Wachkoma liegt; der täglich tapfer
seinen Weg zur Arbeit geht in einer Recyclingfabrik; der gerne die
Abenteuerbücher seiner Kindheit à la „Die Schatzinsel“ liest; der in der Garage
liebevoll den alten Citroën herrichtet, einen Wagen mit Einschusslöchern im
Kofferraum, das Auto, in dem De Gaulle beim Attentat von 1962 saß. Und der im
Übrigen im hinteren Winkel seines Kellers, dort, wo Opa im Krieg Juden
versteckt hielt, eine Pritsche hingestellt hat, ein kleines Tischchen, in den
Wänden sind Ketten verankert, und hier hält er seine Entführungsopfer gefangen,
unterhält sich mit ihnen freundlich, bis er sie brutal und schnell hinmetzelt.
Pierre ist Serienkiller mit eigenem Manifest: In zehn
Punkten hat er seine Richtlinien für sich aufgelistet, keine Zeugen bei der
Entführung, keine Anhaltspunkte auf ein Verbrechen am Tatort,
Ausschlusskriterien für seine Opfer wie Geschlecht, Alter, Hautfarbe gelten
nicht, die Tötung erfolgt jedesmal mit einer anderen Waffe. Blutige Verbrechen
sind Teil seines Alltags, in dem wir ihn begleiten, eine eintönige Existenz in
Toulouse. Eine melancholische Stimmung über Leben und Film, ein Gefangensein im
Dasein in einer Stadt, in der elf Jahre lang die Killerserie nicht auffällt,
weil sowieso ständig Leute verschwinden; eine existentielle Einsamkeit, der man
nicht entfliehen kann, auch nicht, wenn man sich zeitweise Gefährten im Keller
festkettet, diese entsorgt, wieder neue findet…
Cherrière öffnet den Kopf und das Herz des Killers für den
Zuschauer, der abgestoßen ist und zugleich fasziniert von diesem Mann, der mit
klarer Überlegung und präzisem Plan vorgeht, der ganz normal ist mit einem, nun
ja, kleinen Fehler in seinem Verhalten. Erklärt wird nichts, mit der
Psychologie wird gespielt: Pierre erzählt des Öfteren Geschichten von seiner
Mutter, die seinen Irrsinn erklären könnten, doch es sind jedesmal andere, und
wahrscheinlich sind sie jedesmal gelogen. Der Vater ist menschliches Gemüse –
das dann doch irgendwann ihre wahre innere Bitterkeit offenbart, das ist einer
der wenigen Ansätze, Pierres Charakter zu erklären; ein Charakter, der völlig
menschlich ist: ein Charakter, der sich verliebt, in Laure, die nichts weiß über
Pierre und nichts wissen darf, eine Liebe, die heiß und innig ist, die still
wächst und in der sich beide, Pierre und Laure, aneinander aufrichten; eine
Liebe, die unmöglich ist, die keine Zukunft hat, die aber so lange dauern soll
wie möglich.
Zwischen Thriller, Horror, Krimi und Melodram findet
Cherrière den richtigen Weg für sein Porträt eines Serienkillers in einem Film,
der keinen ungeschoren davonkommen lässt. Auch nicht den Zuschauer.
Harald Mühlbeyer