Alexander Gajic auf seinem Blog „Real Virtuality“ hat angesprochen, was
ich hier noch vertiefen möchte, etwas, das ihn – wie mich – eminent gewurmt hat
und Anlass bietet für eine generelle Reflexion zu einem Phänomen, das gerne den
Zuschauer und mehr noch die Erzähltheorie umtreibt: den Plottwist, also die
überraschende Wendung, die die Lesart eines Films auf den Kopf stellt.
Naturgemäß spoilert dieser Text im Folgenden (wenn auch sehr diffus), und
wer meint, die entsprechenden Filme (namentlich unter anderem DIE UNFASSBAREN /
NOW YOU SEE ME oder THE TOURIST) „unbeleckt“ sehen zu müssen, sollte hier
aufhören zu lesen. Andererseits kann dieser Text ärgerliche dramaturgische Möchtegern-Überraschungen
ersparen, unerfreuliche Meta-Plottwists, sozusagen (die Überraschung, wie
überraschend schlecht die Überraschung ist). Ist vielleicht auch was wert...
Stein des Anstoßes ist der in den USA zum Publikumserfolg avancierte NOW
YOU SEE ME, der tatsächlich – und das ist das unerfreuliche – bis zum letzten
Drittel tatsächliche flotte und sympathische Unterhaltung unter der Regie des
schwungvollen Franzosen Louis Leterrier bietet. Michael Caine spielt hier mit –
und kein Film mit Michael Caine kann eigentlich, wegen Michael Caine, schlecht
sein!
Jesse Eisenberg, Woody Harrelson, Isla Fisher und Dave Franco geben in
NOW YOU SEE ME vier Schmalspurzauberkünstler, die von einem mysteriösen
Mastermind zu den „Vier Reitern“ verschworen werden, die schließlich in Las
Vegas, New Orleans und New York eine Wahnsinnsshow abziehen – eine, in der eine
Bank ausgeraubt wird, ein Versicherungsfinanzier für die Hochwasseropfer von Louisiana
bluten muss etc. David Copperfields als Robin Hood; eine starke Idee, und man
ertappt sich dabei (einmal mehr und ein merkwürdiges Phänomen), sich den Film
als eine neue Quality-TV-Serie der Marke LOST, BREAKING BAD oder THE KILLING zu
wünschen, einfach, um den Einfallsreichtum und das Potenzial der Figuren in
eine Mehr von Erzählzeit und Spannungsbögen aufgefangen und zur Geltung
gebracht zu sehen.
Zweierlei macht NOW YOU SEE ME aber letztlich kaputt.
Der eine Punkt hat schon kunst- oder medientheoretische, wenn nicht gar -philosophische
Gründe bzw. Dimensionen. So sind Zaubershows live auf der Bühne ein Erlebnis,
auf der Leinwand aber nur Behauptung, nicht mal Abklatsch. Das heißt, dass der
echte Illusionist mit Kaninchen im Hut und durchgesägter Frau enorm dann von
seiner Faszination einbüßt, wenn der Kinematograf mit seiner ganz eigenen Magie
auftritt und diese im zuwiderläuft. Georges Méliès zauberte etwa mit
Stopptricks, DER STUDENT VON PRAG beunruhigte qua Doppelbelichtung und damit
der Evokation eines „Doppelgängers“.
Wenn nun aber Zaubertricks gefilmt und filmfiktional behauptet werden,
heben sich die „Magien“ der unterschiedlichen Medien, der Live-Bühne und des
Kinos, auf; die schwebende Isla Fisher in einer Seifenblase fesselt in NOW YOU
SEE ME vielleicht das Publikum auf den Sitzen innerhalb der erfundenen Welt des
Films, weniger aber uns jenseits dieses „Show-Rooms“ weil im Zweifelsfall doch
nur läppische filmische Illusionsmittel, vom simplen Schnitt bis zur digitalen
Bildretusche uns den Sense of Wonder zumindest im Kinosessel austreiben oder
wenigstens nur erzählte Behauptung sein lassen.
Ein anderer, schwerwiegender „Fehler“ hängt eng damit zusammen. In NOW
YOU SEE ME wird zwischen Magie, Zauberei und letztlich Gaunerei ein Unterschied
gemacht, die ganze Philosophie und Botschaft des Films beruht bzw. zielt
darauf. Das Problem ist jedoch, dass NOW YOU SEE ME selbst letztlich auf nichts
anderem beruht als auf simplem, gemeinem und läppischen Betrug. Er verrät seine
eigene Figuren und seine narrative Ethik, zudem: das Publikum. Er versetzt es
am Ende nicht in Staunen oder betört es zumindest mit seiner Fingerfertigkeit,
sondern führt es ganz unelegant in Irre, lügt ihm ins Gesicht. NOW YOU SEE ME
ist letztlich zauberhaft wie ein Taschendieb.
Dass die Zaubertricks auf der Bühne der fiktionalen Welt für den
Zuschauer vor der Kinoleinwand noch halbwegs interessant sind, mag noch
angehen, insofern sie aufgeklärt und entlarvt werden. Wobei freilich die
Realisierung dieser Tricks, die Vorbereitung, der Ablauf samt Timing,
wundersamer anmuten als wenn man es mit echter, übersinnlicher Magie zu tun
hätte. Geschenkt. Auch, dass der letzte Auftritt der „vier Reiter“ (deren Charaktere
der Film schmerzlich zu kurz kommen lässt), den dramaturgischen Steigerungsbedingungen
sehr lasch ausfällt und in Panorama-Shots belanglos gerät – sei’s drum.
Zum wahren Ärgernis wird NOW YOU SEE ME, wenn sich am Ende die für den
Zuschauer qua emotionaler Anbindung und Erzählzeit unzweifelhafte Haupt- und
Identifikationsfigur als geheimer Hintermann und Strippenzieher entpuppt, der
hier nicht nur einen wackeligen Racheplan entwickelt, sondern diesen auch
hanebüchen exekutiert sieht.
Ist das aber nicht auch Magie? Zauberei? Oder: Ablenkung hier,
Fingerfertigkeit da? Nein. Denn die „Erzählpositionen“ bei jeder
Magie-Vorführung sind klar verteilt, damit ein Vertrag geschlossen zwischen
Zauberkünstler und Publikum. Ihr da unten, ich da oben – ich mit meinen Wunderstücken,
ihr mit eurem skeptischem Blick. Die Frage hinter jeder Nummer, die beklatsch
wird, lautet ja schließlich nicht: Wie kann es sein, dass da tatsächlich ein
Hase aus dem Hut kommt? Wie ist es möglich, dass eine Frau entzweigesägt wird
oder in einer Kiste verschwindet? Sondern: Warum schafft es der Illusionist, offenkundig,
was rational unmöglich ist, so aussehen zu lassen, als würde es tatsächlich
geschehen? WAS genau das ist, ist letztlich gar unerheblich.
NOW YOU SEE ME kündigt nun diesen Vertrag (der auch der klassische
Erzählvertrag ist) einseitig auf, um sich hernach gleichsam – tataaa! – zu verbeugen,
als habe er eine Leistung, das Staunen, der Kunst geliefert, eine, die er
versprochen hat.
NOW YOU SEE ME hält sich nicht an die Regeln des eigene Showbiz,
präsentiert einen unbefriedigenden Plottwist wie zuvor schon
THE TOURIST von
Florian Henckel von Donnersmark (der freilich dieses Thrillerwrack nur „geerbt“
hat). In beiden Filmen ist die (Haupt-)Figur (in NOW YOU SEE ME noch mehr als
in THE TOURIST) nicht der, für den wir ihn halten. Das ist deshalb problematisch,
weil wir schlichtweg ja nur jene Informationen über den Charakter erhalten, den
der Film uns liefert! Wir investieren Emotionen in ihn/sie, kognitiven Aufwand,
um ihre/seine Position, den Wissensstand, die Beurteilung der Lage
nachzuvollziehen. Schließlich heißt es aber: ätschebätsch, die (fiktionale)
Figur, der ihr folgtet, dachte, fühlte anders, wusste mehr, dann ist das
schlicht unredlich, betrügerisch – vor allem aber: dumm.
Unredlich, weil uns der Film u.a. die Figur zeigt, wie sie gemäß unseres
mentalen Bilds von ihr handelt – unbeobachtet, außer von uns (damit: nur für
uns). Das ist Schlimmer als der von Gajic angeführte Traum in „Dallas“, der einfach
die Serien-Geschichte von und Bobby Ewings Tod negierte, denn immerhin verwies
der Zug auf eine, wenn auch ad hoc, eingefügte Erzähl- bzw.
Interpretationsperspektive. So etwas wäre in NOW YOU SEE ME auch ohne Weiteres
möglich gewesen – einfach, in dem man die reizende Interpol-Beamtin Alma alias Mélanie
Laurent (INGLOURIOUS BASTERDS) zur Zentral- und Reflektorfigur gemacht hätte und
nicht den sympathisch knautschigen Marc Grüffelo äh, Ruffalo, der am Ende des
Film nicht mal die Größe hat, sich vor uns zu Verbeugen oder Schimäre (wie
Keyer Soze).
Dumm deshalb, weil die Filmgeschichte zeigt, wie man durchaus, mit erzählerische
Lauterkeit und Finesse verblüffen kann, auch, was die Hauptfigur als
Erlebnisträger und handlungserschließenden Stellvertreter des Publikum
anbelangt. THE SIXTH SENSE von M. Night Shyamalan ist so ein Fall, den ich
nicht nur deshalb liebe, weil der Film letztlich gar ohne finalen Plottwist ein
würdiger, eigenständiger Film gewesen wären, sondern auch, da wir stets über
den selben Wissensstand wie die Figur verfügen. Erst und nur zusammen mit dem
Protagonisten erfahren, erleben wir, dass er ein Geist ist; wir sind mit seiner
Verwirrung kurzgeschlossen, und die humanistische Botschaft erfährt ihre
Doppelung hin auf die narrative, die strukturelle Ebene. Der
Überraschungsfaktor hebt darauf ab, wie eng wir tatsächlich die ganze Zeit über
mit dem Helden verknüpft waren – und: wie subjektiv.
Ein anderes Beispiel: THE USUAL SUSPECTS / DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN, in
dem sich die (wohlgemerkt: Binnen-)Erzählung als derart unzuverlässig entpuppt,
dass wir gar nicht mehr entscheiden können, was „erfunden“ ist und was wahr
(innerhalb der fiktionalen Welt). Gerade dieser Film liefert genau das Gefühl
eines magischen Tricks, denn NOW YOU SEE ME auf der Dialogebene feiert, selbst
aber narrativ leichthin in die Tonne tritt.
Sicher, schlechte, sprich unmotivierte, selbstzweckhafte und (sowohl
eigen- wie allgemein erzählerisch) unlogische Plottwists gab und gibt es immer
wieder. Bisweilen denke ich auch, dass FIGHT CLUB besser ohne explizite mentale
Doppelgängerei der Hauptfigur funktionierte. Schön auch, wie Anfang der 2000er
in Filmen wie
THE JACKET (2005) oder Marc Forsters
STAY (2005) derartige
Plottwists gar nicht mehr der „kognitiven“ Cleverness wegen verwendet wurden,
sondern insbesondere – oder vor allem – rein der emotionalen, humanistische
Valenz der Filme (der Effekt nicht als einer der Konstruktion, sondern des
Affekts). Und dabei auch ihre Schlüssigkeit selbstbewusst und überaus
einnehmend preisgaben. Etwas übrigens, das nur kleingeistige Ignoranten sich
über das Ende der Serie LOST beschweren lässt, die nicht verstehen, dass die größte
Überraschungswendung dieses TV-Hits eine ist/war, die letztlich (und: immer schon)
nicht das Hirn mit seinem Genrewissen etc., sondern des „Herz“ zum
Hauptzielpunkt der Narrativattacke erklärte.
Was nun NOW YOU SEE ME so fragwürdig macht, ist, dass die echten, solide
und funktionierende Storyverblüffungen nach wie vor in der Filmlandschaft möglich
und zu finden sind – wenn auch (wieder) an den Rändern oder jenseits des
Mainstreamkinos.
THE TALL MAN von Pascal Laugier, der zuvor mit MARTYRS
intelligent schockte, gaukelt gar mit den Genreerwartungen selbst – so sehr,
dass die läppischen 5,9 Wertungspunkte auf dem Idiotentummelplatz IMDB schon
wieder eine Auszeichnung sind.
Wenn aber Alexander Gajic in seinem Blogbeitrag Danny Boyle mit SHALLOW
GRAVE als Gewährsperson für die Unterwanderung der Publikumserwartungen
heranzieht, ist das zugleich unglücklich wie bezeichnend, weil Boyle selbst mit
seinem aktuellen Film
TRANCE (Buch: Joe Ahearne u. John Hodge – letzterer Autor
von SHALLOW GRAVE) bei aller visuelle Brillanz eine Erzählung vorgelegt hat,
die aufs Enttäuschendste nur auf der Oberfläche und fern, gar über Gebühr
entfernend, von den Figuren „twisted“ auf das jede der dramaturgischen Kniffe
zur freudlosen Wendungsonanie oder gar -routine verkommen. Standard. Reine
Akrobatik, ohne Herz und Hirn. Und ohne Körpergefühl. Man kann sie übrigens
auch in anderen (nicht nur) dahingehenden Fehlzündungen der letzten Zeit
beobachten: in dem erbärmlichen Untergang der ansonsten gloriosen DIE HARD-Reihe
A GOOD DAY TO DIE HARD (wobei sich der Vergleich lohnt mit dem erfolgreich
plottwistenden DIE HARD 2 – DIE HARDER). Oder dem modernen Derivat WHITE HOUSE
DOWN. Ebenfalls abgenudelt und der ästhetischen Wucht unwürdig in seinem Pointilismus. STOKER von Chan-wook Park.
Entsprechend ist NOW YOU SEE ME vielleicht ein extremes, aber kein
Ausnahme-Beispiel für den Schindluder, den man mit der Handlungsführung, dem
eigenen Sujet und Thema, wie mit dem Intellekt (etwa der qua Filmwissen
geprägten kognitiven Kompetenz) des Zuschauers derzeit in Hollywood und darüber
hinaus treibt.
Mehr Innovation, zumindest aber Besonnenheit und Respekt von und im
Umgang mit dem Plottwist tut Not – und damit auch mit dem Publikum selbst.
zyw