BERLINALE 2011 – Der potentielle Goldene Bär: JODAEIYE NADER AZ SIMIN


Zwei Favoriten präsentierte das Fachblatt Screen mit seiner letzten Berlinale-Sonderausgabe. Das internationale „Kritiker-Raster“ lobt mit der höchsten Punktzahl: den filmkunstgestrengen und -beflissenen Film A TORINÓI LÓ (THE TURIN HORS) von Béla Tarr, der so von der Filmkritik gelobt wurde, dass wahrscheinlich doch der menschenherzerfreuende Bär im Mini-Auto seinen Auftritt einen einem Punkt hatte, an dem ich das Kino bereits verlassen hatte. Der zweite Renner ist Asghar Farhadi Film mit dem sperrigen Titel JODAEIYE NADER AZ SIMIN / NADER AND SIMIN, A SEPARATION – ein Film, der sowohl vom Publikum als auch der Kritik begeistert aufgenommen wurde und tatsächlich, auch weit über den etwas schwächelnden Berlinale-Wettbewerb 2011 hinaus, ungewöhnlich guten ist und der es verdient hat, den Goldenen Bären zu gewinnen. Ob sich auch die Jury dem anschließend – Publikum, Jury, Kritik, drei auf einmal, geht das, darf das? Als entsprechender Kandidat wird er am Potsdamer Platz jedenfalls gehandelt. Vielleicht aus dem Wunschdenken heraus, aber auch mehr als zu Recht und nicht nur, weil er den „Iraner-Bonus“ hat.

JODAEIYE NADER AZ SIMIN, der in den gewöhnlichen Konversationen auf den 61. internationalen Filmfestspielen Berlin schlicht zu „der iranische Film“ wurde, ist kein System-Drama, kein Film, der Verhältnisse anklagt oder Kulturen ausstellt, nichts ankreidet oder bejammert. Punktgenau und fesselnd beobachtet Farhadi, so, wie man es selten gewohnt ist, auch (und gerade) im Westen. Es ist wie ein exzellenter Iñárritu-Film, das heißt: ohne erzählexperimentellen Klimbim und bedeutungsschwangerem Pathos, fast dokumentarisch natürlich, spannend wie ein Thriller und zugleich im Sujet verblüffend bodenständig, fast alltäglich und außergewöhnlich. JODAEIYE NADER AZ SIMIN ist ernst und fokussiert, so gerade und zielstrebig, dass man sich fast nicht traut, mit Worten an ihn heranzugehen, weil er solchen Firlefanz irgendwie links liegen lassen würde, der Film drängt, er hat keine Mission, aber eine umso größere Energie und gelassene Aufrichtigkeit. Das, was gezeigt wird – so hat man stets den Eindruck – würde auch ohne uns, ohne den Kamerablick stattfinden – eine Handlung, die in ihrer Lebensechtheit, ihren Figuren, ihren Schicksalswendungen ganz natürlich und existenziell ist.



Eigentlich geht es nur am Rande oder im Hintergrund im Nader und Simin. Beide – etwa Mitte, Ende dreißig – haben sich getrennt, und der Film beginnt unmittelbar: Mutter und Ehefrau Simin (Leila Hatami) erklärt dem Richter und zugleich uns, dem Zuschauer, die Situation: die Ausreise ist genehmigt, doch Nader (Peyman Moaadi) will nicht mit ihr kommen. Denn sein Vater ist dement, braucht den Sohn; zugleich braucht Simin die Scheidung, sonst kann sie nicht los – doch beide wollen auch nicht auf ihre gemeinsame, jugendliche Tochter Termeh (Sarina Farhadi) verzichten. Der Richter entscheidet salomonisch, in dem er nicht entscheidet.

Schon hier am Anfang wird der Ton festgesetzt, das Tempo, und es wird mit den Klischees aufgeräumt. Simin ist keine unterwürfige, ausgelieferte Gattin, streitet gern und gut; Nader wiederum ist kein herrschsüchtiger Patriarch, sondern einer, der sich um einen alten Mann, seinen Vater kümmert und sorgt, leidet, wie dieser Mensch immer mehr geistig verfällt. Es ist ein Paar der gehobenen Mittelschicht; beide können sie noch miteinander reden, auch wenn die Spannungen und Reibereien stets da sind, auch in ihrer Vernunft. Die große Kluft ist eine andere: Eine Haushälterin muss her; die gläubige Razieh (Sareh Bayat) aus der Unterschicht übernimmt widerwillig den Job. Sie wie ihre Auftraggeber haben ein Leben, Probleme, und Razieh ist erstmal überfordert mit dem Alzeimer-Großvater, der sich einzunässen beginnt. Raziehs Mann soll übernehmen, kann nicht, tut’s nicht, sie kommt stattdessen wieder. Verfolgt den Alten auf die Straße. Muss ihn festbinden. So findet ihn Nadir, es kommt zum Streit, Nasser wirft sie aus der Wohnung, heißt sie eine Diebin…



Wie natürlich läuft alles auf diesen Punkt hin und weiter, alles entwickelt sich mit erstaunlicher Beiläufigkeit, Zufälligkeit, aber auch mit Konsequenz. Das wahre Drama, eines, das nichts mit der Trennung zu tun hat: Razieh, bislang Neben- oder Parallelfigur, verliert ihr Kind, beschuldigt Nader, der sie geschubst hat und ihr Mann will Vergeltung. Streit, Konflikte, Anwürfe, Wut und der Versuch, doch immer wieder vernünftig miteinander umzugehen. Spätestens hier zeigt sich JODAEIYE NADER AZ SIMIN als das Courtroom-Drama, das es ist, doch als ein ganz besonderes: Der Richter sitzt in einem kleinen Büro in dieser iranischen Alltagsbürokratie, ist Beamter und Entscheider zugleich. Es entspinnt sich eine Frage nach Schuld und Sühne, Wissen und Vergeltung, in der letztlich niemand, nicht mal die Töchter unschuldig bleiben, weil auch sie Entscheidung fällen müssen. Anderseits gibt es keine einfachen Lösungen in diesem Film. Und wenn zunächst darum ermittelt wird, ob Nader wusste, dass Razieh schwanger ist, kann man sicher sein – er kann darüber ehrlich selbst keine Auskunft geben; vielleicht ja, vielleicht nein, wahrscheinlich aber beiden zugleich.



In allein zweierlei Hinsicht besticht JODAEIYE NADER AZ SIMIN ungemein: Durch die Figuren und ihre Führung. Nie geraten die vielen, schnellen Dialogzeile zu viel oder zu wenig. Die Figuren selbst bleiben ungekünstelt, werden einem nicht aufgedrängt. Sie wachsen einem nicht ans Herz, aber gerade in der wachen Distanz des Films kommen sie unheimlich nahe. Was nicht zuletzt an den rundum wunderbaren Schauspielern liegt und der „internationalen“, wohl geführten Handkamera, die endgültig beweist, dass es so etwas wie eine nationale Filmsprache nicht mehr gibt – was aber nur bedingt ein Verlust ist, dem der Gewinn der Vergleichbarkeit und einer Verständigung entgegensteht.

Zweitens ist es der Ansatz, der Blick auf den Alltag und sogar das Extraordinäre, der für den Film einnimmt und der sich nicht mit irgendeiner politischen Agenda gemeinmacht. JODAEIYE NADER AZ SIMIN ist ein vielschichtiges und komplexes Sozial- und Beziehungsdrama (im weiteren Sinne), das nicht das Theokratische der Mullahs kritisiert oder irgendwelchen rigiden „traditionellen“ Zustände anklagt. So gut Jafar Panahis OFFSIDE auch ist, es ist doch einen Film, der dem Westen mit seiner Haltung arg entgegenkommt. Leicht ist es, das zu feiern, die Zeichnung des Fremden als solches zu genießen, um nur bestätigt zu bekommen, was man ohnehin schon wusste. Hach, das Religiöse im Staatlichen, Säkularen, ist das nicht gestrig, ergebnislos? JODAEIYE NADER AZ SIMIN hat eine Szene, in dem die Zugehfrau Razieh in ihrem kleinen Adressheftlein blättert, um eine Telefonnummer herauszusuchen: die der Glaubenshotline. Sie ruft an und erkundigt sich: Ob es der Islam erlaube, dass sie den alten Mann, der sich beschmutzt hat, säubert – schließlich sei niemand sonst da. Ein für uns natürlich Akt der Nächstenliebe muss hier erlaubt werden. Lachhaft! Aber wir uns eine solche Telefonnummer nicht manchmal auch wünschen, vielleicht nicht, um religiöse Alltagsfragen zu klären, sondern um uns Beistand zu holen, wenn wir nicht mehr wissen, was zu tun, was richtig und was falsch ist, hinsichtlich auch und gerade ganz konkreter Anliegen, für die wir eine Absolution wünschen?



Doch da ist mehr noch: JODAEIYE NADER AZ SIMIN zeigt auch, welche Lebendigkeit in diesem „gestrigen“ Justiz-, Glaubens- und Gerechtigkeitssystem herrscht. Der Beamtenrichter ist kein Unmensch, sondern um Aufklärung und Gerechtigkeit bemüht. Dass sich der der Fall wie die Figuren nicht einfach in Richtig und Falsch auseinanderdividieren lässt, ehrt den Film, verunglimpft aber auch nicht die Figur des Richters selbst. Ein selten gelungener Spagat. Und schließlich zeigt JODAEIYE NADER AZ SIMIN eine archaisch anmutende, letztlich aber weitaus zivilere Grauzone und „Ersatzgerechtigkeit“: Das Blutgeld, das Aushandeln einer Entschädigung auf privater, nicht jedoch persönlicher Ebene. Im Grunde – und das ist der größte Affront gegenüber der steifen Verfahrensgerechtigkeit des Westens, in der Recht vor allem nach dem bemessen wird, was am Ende eines avisierten idealen Prozesses herauskommt – zeigt der Film eine Eigenjustiz der Menschen und des Glaubens, die ihren Figuren und damit den Menschen noch innere Werte und Aufrichtigkeit zubemisst. Verpflichtungen, die jenseits von Justiz liegen, die mit persönlicher Ehre und Verantwortung zu tun haben. „Moderne“ Gerechtigkeit geschieht in JODAEIYE NADER AZ SIMIN in einem zentralen Punkt nur, weil unspektakulär auf „archaische“ Verpflichtungen verwiesen wird – was unser „aufgeklärtes“ Selbstverständnis peinlich unterläuft. Das funktioniert nur, weil Farhadi seine Figuren – und den Menschen – Gutes zutraut; es ist ein letztlich sehr humanes, überhaupt nicht zynisches Bild, dass der Iraner zeichnet, und daraus gerade seine „Thriller-Spannung“ zu ziehen versteht.

Zuletzt aber entscheidet auch JODAEIYE NADER AZ SIMIN gar nicht, bleibt am Ende provokant neutral – und wirft den Zuschauer auf sich selbst zurück, bietet ihm kein Angebot, nicht mal eines, an dem er sich abkämpfen könnte, weil er selbst andere Meinung ist. Letztes Jahr hat Asghar Farhadi für DARBAREYE ELLY den Silbernen Bären bekommen. JODAEIYE NADER AZ SIMIN hätte dieses Jahr nicht nur den Goldenen verdient, weil er in perfektem Maß, drängend und unwiderstehlich mitreißend, dabei spröde und packend eine wie gewachsene Geschichte erzählt. Sondern weil diese Geschichte uns von einem fremden Land erzählt und gerade damit uns den Spiegel vorhält, der schwer macht, sich kulturell, gesellschaftlich und politisch zu distanzieren – oder überlegen zu fühlen. Und einer, der uns ganz sachlich ins Herz trifft und darüber leise, nachhaltig: bis ins Mark.

Bernd Zywietz