BERLINALE 2011: Schaffe, schaffe...

Thomas Gottschalk hört auf, Screenshot Online fängt an – dabei muss der Autor dieser Zeilen sich eigentlich schämen: Jeden Morgen finden sich tagesaktuelle Berlinale-Sonderausgaben von Screen, The Hollywood Reporter oder Variety druckfrisch in den Presseanlaufstationen. Die Filme des letzten Tages oder die neuesten Deals werden in diesen fein redigierten und gelayouteten Heften bekanntgegeben. Von einem solchen Redaktionsoutput eingeschüchtert, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Branchenpostillen nebst den Freiexemplaren der SZ oder der FAZ einzusacken und mich ins Kino zu trollen, zu den ersten Pressevorstellungen, die im Berlinale Palast um 9.00 Uhr starten.

Dort kann man sich – da sind auch die Internationalen Filmfestspiele Berlin keine Ausnahme – direkt hinter die Jury setzen, im Dunklen dreist sein und an Isabella Rossellinis Haar schnuppern oder Aamir Khan mit kleinen Papierkügelchen bewerfen, ohne dass einem seine indischen Bodyguards oder sonst wer von seiner Entourage einem Arges tun kann. Aber wer will das schon, schnuppern oder werfen. Die Schönen oder zumindest Berühmten aus nächster Nähe beim Tuscheln, Nasebohren oder Einnicken zu beobachten (was im Gegensatz zu mir Isabella Rossellini oder Aamir Khan keineswegs getan haben, na, vielleicht mal tuscheln), ist schon Spaß genug und überhaupt, noch spannender ist es, dem Geschehen noch weiter vorne, auf der Leinwand zu folgen. Oftmals zumindest.

MARGIN CALL von J.C. Chandor startete das Wettrennen um den Goldenen Bären, aber wahrscheinlich haben Sie in Ihrer Tageszeitung oder sonstwo schon genug Geschwärme von diesem Finanzthrillerdrama gehört. Weshalb an dieser Stelle einfach nur gesagt sein soll: Es stimmt! Ok, ein wenig genauer dann doch: MARGIN CALL – der Terminus bezeichnet die Deckung von Buchschulden – ist nicht nur mit Kevin Spacey, Stanley Tucci, Paul Bettany, Jeremy Irons und Demi Moore hochkarätig besetzt, dazu noch mit glänzendem Nachwuchs wie „Mr. Spock“- (aus JJ Abrams STAR TREK) und Heros-Darsteller Zachary Quinto (der auch koporoduzierte) bestückt, sondern formale wie inhaltlich ein Glanzstück, bei dem man WALL STREET getrost vergessen kann. Brillant ist die Idee, das dialoglastige, aber nicht -überfrachtete, famos in Szene gesetzte Stück in rund eineinhalb Tage "stattfinden" zu lassen, wobei zwei Drittel der Erzählzeit auf eine schicksalhafte Nacht fallen, in der die kleinen und großen Geldmacher und -vernichter in ihrem Kammerspiel in und auf ihrem Hochhaus (samt kleineren Abstechern in das entleerte, entseelte Manhattan drumherum) eine existenzielle Konfrontation meistern müssen. Einer, bei der nicht nur ihre Firma oder das gesamte Finanzsystem am Abgrund steht.



Vieles kann man an MARGIN CALL beklatschen und bestaunen, die Dialoge, die Schauspielkünste oder allein die Produktion selbst: Drehbuchautor und Regisseur Chandor hatte zuvor nur Kurzfilme und Werbeclips gedreht; die erste Finanzierung für den Stoff ging den Berg runter, und unabhängig stemmte er das Projekt im zweiten Anlauf, wobei eine New Yorker Hochhausetage zugleich Set und Unterkünfte abgab. Bemerkenswert ist aber auch das Gefühl für die Wirtschaftskrise als eine Art Schicksalsmacht, die hier allerdings – mit Anlehnung an die Lehman-Pleite – einen dezidierten menschengemachten und aus der Not geborenen Ausgangspunkt zugeschrieben bekommt. MARGIN CALL erinnert ein wenig an einen Katastrophenfilm, nur, dass es eine "zweite" Natur ist, deren Heimsuchung am Horizont erscheint, und dass die Herren im feinen Zwirn entscheiden müssen, ob sie diese selbst und bewusst von der Leine lassen, um selbst noch einmal davon zu kommen, oder gerade stehen und mit dem Schiff untergehen. Jeremy Irons konnte in der anschließenden Pressekonferenz noch so sehr von Moralität schwadronieren: die Manager, inklusive dem bedenkenträgerischen Trading-Chef, gespielt von Spacey, der um seinen Hund trauert, sind in MARGIN CALL zu Recht nur Leute, die ihren Job machen, so gut sie es können, und für die Geld nur mehr abstrakte Zahlen sind - Menschen, die auch nur in einer sozial- und arbeitsteiligen Welt leben. Amoralisch? Ja. Unmoralisch? Nein. Schlicht weil sie einem ganz eignen Ethos und einer ganz eigenen Logik folgen. Irons Figur verachtet die Armen, da unten, da draußen, doch er weiß auch: Es hat immer schon Reiche gegeben (und Wirtschaftskrisen), und sie hier, in der Bank, machen den Wohlhabenden die Drecksarbeit, geben für sie den Sündenbock. Das klingt zynisch. MARGIN CALL aber stellt Broker und Dealer, Manager und Analysten als ebenso entfremdet aus wie den kleinen Fabrikarbeiter, der täglich nur das Fließband vor Augen hat - und immerhin noch etwas produziert. Aber selbst wenn sie mit ihrem Panoramablick im zigsten Stock hoch über der Stadt mal etwas mehr Weitsicht auf das große Ganze haben, bezahlen diese Geldmenschen gerade für diesen einen immensen inneren Preis.

Auch von EL PREMIO, zu Deutsch „Der Preis“, die mexikanisch-französisch-polnische-deutsche Koproduktion von Paula Markovitch haben Sie garantiert schon gehört oder gelesen. Hier aber vielleicht ein paar „Fakten“ mehr dazu: Statt der 115 Minuten hätten es 60 ebenfalls getan. Auch die politische Parabel, die in Rezensionen gerne in den Vordergrund rückt, ist eher eine unkonkrete Sache. Dass (oder ob) es sich um Argentinien zur Zeit der Junta als Schauplatz handelt, ist praktisch wurscht, man sieht es EL PREMIO mit seinen reduzierten Kulissen eigentlich auch nicht an, und überhaupt ist es eine zeit- und ortlose Geschichte, die von der Mutter und Tochter in der windgebeutelten Bude am Meer handelt, davon, dass Mama Furcht und Abscheu vor und auf die Polizei oder das Militär hat, dass die Tochter, die in die Schule geht, nichts erzählen darf, dann aber bei einem Aufsatz, von der Armee ausgeschrieben vom Leder zieht… usw.



Fast symbolistisch geraten einige Bilder, karg und geduldig ist der Blick. Was den Film aber wirklich und wahrlich und unabhängig von seiner Story, Botschaft oder was auch immer sehenswert macht, ist die kleine Paula Galinelli Hertzog mit ihrem roten widerspenstigen Schopf, den Sommersprosse und der Zahnlücke im frechen Grinsen. Man kann sich gar nicht sattsehen an der Göre, halb Wildfang, halb Kobold: wenn sie mit ihrer Freundin spielt, durch die Dünen kugelt oder bei ihrer Mutter ihren Dickkopf durchzusetzen versucht. All die Vielfalt und Facettenreichtum an Kichern, Glucksen, Kieksen und Schreien, dem Schmollen, Granteln oder einfach ganz mit sich selbst Beschäftigt-Sein ist so echt und unvermittelt, so freimütig und unverstellt, so sehr Spiel als wäre die – in dieser Hinsicht kongeniale – Kamera gar nicht da. Für die Lebendigkeit sind die 115 Minuten doch wiederum viel zu wenig.

Was aber gab es noch? Natürlich die große Galavorstellung von OFFSIDE zu Ehren von Jafar Panahi: Während in Ägypten Mubarak am Freitag zurücktrat, versammelte sich die Hautevolee im Berlinale Palast, um ihre Solidarität mit dem Iran inhaftierten und mit einem Berufsverbot belegten Regisseur zu demonstrieren. Sein Film, 2006 mit dem Silbernen Bären prämiert, war aber selbst ein Erlebnis: Ein Nachmittag in Teheran, in dem unterschiedliche Mädchen, die sich ins WM-Qualifikationsspiel Iran gegen Bahrain schmuggeln wollen (Frauen ist der Zutritt verboten), fliegen auf. Sie werden und am Rande des Stadions eingepfercht, wo wiederum die armen Polizisten ihre liebe Not mit ihnen haben.

Es ist ein schlichter, ebenso wie schlauer, witziger, lebendiger und hintersinniger Film, den Panahi damals für extrem wenig Geld hingezaubert hat; einer, der die gestrengen Sitten vorführt, jedoch warmherzig mit denen umspringt, die sie durchzusetzen haben. Eine hysterische oder islamo-faschistische Diktatur sieht anders aus, fühlt sich anders an - so einen Iran gibt es also auch? OFFSIDE stellt die absurden Moral- und Geschlechtervorstellungen bloß und bietet im Gegenzug eine patriotisches Gemeinschafts-, ein „Wir“-Gefühl an, eines ohne Geifer, sondern Freude. OFFSIDE ist ein Film, der so elegant und charmant kritisiert, dass man ihm eigentlich nicht böse sein kann. Außer man will es partout.



Nach BUNGALOW (D 2002) und AM MONTAG KOMMEN DIE FENSTER (D 2006) hat „Berliner Schüler“ Ulrich Köhler mit SCHLAFKRANKHEIT am Samstagmorgen seinen neuen Spielfilm vorgestellt, der weit weniger statisch und in der Steifheit seiner Momente weniger kühl und durchkomponiert wirkt. Sinngetränkt und doch in sich selbst seltsam verschlüsselt erschienen diese gestrengen Beobachtungen, die nicht kryptisch waren, bisweilen gar aufreizend alltäglich, mit dem sezierenden, langatmigen Blick aber doch geheimnisvoll entlarvend wirkten. Vorbei der Spaß – die Hitze Kameruns hat das Eisig-Teutonische auftauen lassen, und so gerät SCHLAFKRANKHEIT schon zu Beginn regelrecht geschwätzig: Der Entwicklungsarzt Velten (glänzend: Pierre Bokma) holt mit seiner Frau (Jenny Schily) die gemeinsame Tochter vom Flughafen ab, wo sie aus Deutschland gelandet ist. Dabei wird parliert; in eine Polizeikontrolle geraten sie, danach: kleine und größere Episoden entspinnen sich um die geplante Heimkehr der Familie, wobei der Doktor, halb Kolonialherr, halb Albert Schweitzer eigentlich seinem Herzen nach hier bleiben will.

Nicht im Einzelnen, im Großen, sondern aus den Augenblicken und Begebenheiten formt sich ein Psychogramm, eine Geschichte. Und Schnitt: die zweite Hälfte des Films beginnt in Paris, von wo sich der schwarze Arzt Nzila (Jean-Christophe Folly) aufmacht, um Veltens Schlafkrankheits-Projekt für die Geldgeber zu evaluieren. Nzila ist das Land, der Kontinent trotz seiner Herkunft fremd, im Gegensatz zu Velten, der mittlerweile im Kameruner Busch eine neue einheimische Familie inklusive Frau und hausgemachten Kind (das Nzila zur Welt bringen soll, ehe es ihn krankheitsbedingt umhaut) gefunden hat. Zum Ende hin entspinnt sich etwas, das wie eine unaufgeregte unspektakuläre, eine köhler’sche Kurzvariante von Josef Conrads Heart of Darkness anmutet, der man bedeutungsmäßig etwas abgewinnen kann, nicht aber muss, ich hab’s jetzt auch nicht verstanden oder mir was drauf gereimt, sehenswert war’s trotzdem, denn irgendwie, intuitiv durchdacht erscheint alles, teil eines großen Ganzen und richtig - und ein Flusspferd spielt eine ganz ganz kleine, aber feine Rolle. Ich muss aber auch gestehen, dass ich zwischendrin, für fünf Minuten oder so, eingenickt bin, vielleicht auch nicht, ich kann’s gar nicht sagen. Geht es also um Zivilisationskritik, Lebenswege, Heimat? Etwas Mystisches hat SCHLAFKRANKHEIT zum Schluss, und ist doch rational in seiner Betrachtung zugleich.

Wach und ganz bei Sinnen sei empfohlen: DIE AUSBILDUNG, der in der Reihe Perspektive Deutsches Kino läuft. Dirk Lütters Debüt handelt von dem jungen Jan (Joseph K. Bundschuh), der in einer Softwaredienstleistungsfirma am Servicetelefon die Lehre macht. Seine Mutter arbeitet in derselben Firma, ist Betriebsrätin, derweil ihr Boss Tobias (Stefan Rudolf ) den jungen Mann beiläufig für kleine Spitzeldienste einspannen will – schließlich steht die Entscheidung über die Übernahme nach Ende der Ausbildung demnächst an. Und dann kommt noch eine junge Zeitarbeitskraft Jenny (Anke Retzlaff) in die Abteilung, in die sich Jan verliebt und sie sich in ihn.

Auch in DIE AUSBILDUNG ist es eher die Momentaufnahme, die Situation und Stimmung, die im Vordergrund steht (Köhler- und Maren-Ade-Freundin Valeska Grisebach (ALLE ANDEREN) hat das Drehbuch mitbetreut). Klar, aber auch immer leicht ironisiert sind die Aufnahmen, wortkarg die Szene, reizen zum Lächeln, sind ein Genuss. Das ist keine (oder nicht nur) stilistische Spielerei, sondern ganz der Figur des Jan geschuldet, die in ihrer Reduziertheit ebenso wunderbar von Bundschuh dargeboten wird wie von Anke Retzlaff die vorsichtige Arbeitszigeunierin Jenny, die fragile Lohnnomadin. Nicht nur zaubert Lütters mit seinem Kameramann Henner Besuch und den beiden Jungdarstellern zwei bezaubernde und trotz (oder gerade in) der Strenge der Kompositionen zärtlich-vorsichtigste Kuss-Szenen, vor allem der Figur des Jan geben Inszenierung, Buch und Darsteller eine Abgründigkeit, die der Film nicht ganz auflöst. Engagiert und verhuscht erscheint der schlacksige 20-jährige, frühstückt und vespert brav mit Mama und Papa, frönt aber mit demselben, besonnen, leeren groß- und glanzäugigen Gesichtsausdruck einem Konsumverhalten über seine Verhältnisse hinaus, was ihn unheimlich werden lässt. Wie zum Sport kauft er sich teure Klamotten und Schuhe, um sie noch im Einkaufszentrum kaputt zu machen und wieder umzutauschen. Ein Training für den eigenen Job? Ein Test wie weit man damit kommt? Beginn, einer Déformation oder besser Perversion professionnelle? Erschreckend, wie wenig es Bundschuh braucht, um kaum ohne eine Regung im Gesicht Freude in eine Enttäuschung umkippen zu lassen.



Aus Andeutungen oder als Miniaturen und umso stichhaltiger präsentiert der Film die großen und kleinen Bedrohungen, Hierarchien und Entmenschlichungen des Berufslebens; nie gibt es Räume ganz zu sehen, geschweige denn das Firmengebäude von außen. Ulkige, gar satirische Momente ergeben sich, entstehen erst durch Bildkomposition, durch Lakonie, Andeutungen, aber auch etwas Kafkaeskes erfüllt den Film mit seiner Welt, die man nur zu gut kennt, die Büromöbel, die Auslegeware, die runden Abdeckungen im Boden für die Steckdosen- und Netzwerkverbindungsdosen. Dazu die Wiederholungen: Monotones bieb und Durchgehen beim morgentlichen Einchecken in den Job, und mehrfach sehen wir aus der Ich-Perspektive den Blick auf die Straße Jans Fahrt nach Hause, immer denselben Weg entlang. Punktgenau trifft Lütters so die kleinen Markierungen, die eine Ausbildung oder den geregelten (und ausliefernden) Arbeitsalltag strukturieren, routinieren und beherrschen. Die Story, Jans kleines, fast – aber nur fast und umso schwerwiegendere – unschuldiges, argloses Petzen und sein (nicht nur berufliches Abhängigkeits-) Verhältnis zu dem erschreckend offensichtlichen, falsch jovialen Tobias, der bedenkenlos mit Managementfloskeln wie mit Ninja-Sternen um sich wirft, ist eher ein Notgerüst. Nicht unwichtig oder rudimentär, sondern etwas, bei dem sich das Eminente dazwischen abspielt.

Wie Lütter nach der Vorführung ganz richtig bemerkte, herrscht ein Mangel an Thematisierungen des Arbeitslebens in Spielfilmen (nimmt man mal – so könnte man ergänzen – Ärzte und Polizisten aus), obwohl der Mensch soviel Lebenszeit mit Schaffen und Malochen verbringt und dieses Tun ihn so stark definiert. Eine verblüffende korrekte und einfache Einsicht, und es ehrt Lütter – wie André Erkaus mit seinem Kurzfilm 37 OHNE ZWIEBELN oder seinem Max-Ophüls-Preis-Gewinner 2008 SELBSTGESPRÄCHE –, dass er sich dem Gegenstand annimmt, ohne in Sozialtristesse zu verfallen oder einer Überstilisieurng zu verafllen. Verblüffender aber noch ist, wie viel Gemeinsamkeiten so unterschiedliche Filme wie der Erstling DIE AUSBILDUNG und MARGIN CALL gerade darin haben ...


Bernd Zywietz