Das 30. Filmfestival Max Ophüls Preis (26.01.-01.02.2009) in Saarbrücken

Runder Geburtstag

von Bernd Zywietz




Intro

Ob Kindergeburtstag, Teenagerparty oder Kaffeekranz zum Wiegenfest – alle Ehrentage haben zweierlei gemein: Sie kommen – erstens – jedes Jahr, und wenn eine „0“ (oder auch mal „5“) beim Durchzählen hinten steht, ist das für den ordnungs- und strukturbedürftigen Menschen ein besonderer Grund zur Freude. Und, zweitens, laufen sie laufen mal besser, mal schlechter. Soll heißen, es kommen mal tolle Überraschungsgäste, mal unausstehliche. Mal gibt es grandiose Geschenke, mal gibt’s Quatsch. Der Wein ist besonders gut – und der Kuchen leider nix geworden. Der Gastgeber ist gut drauf, unleidig oder ständig woanders. Mal muss man zum Rauchen raus auf den Balkon, mal wird das Klo im richtigen Moment frei. Die Leute gehen zu früh, alle auf einmal, einer nach dem anderen. Dann wieder will man eigentlich gar nicht heim.

Tja, und genauso war es dieses Jahr beim Festival Max Ophüls Preis.

Dreißig Jahre alt ist es geworden, ein runder Geburtstag mit einer ebenso runden Feier. Oder manchmal nicht. Aber das gehört ja dazu, zum Rad des Lebens, mal geht es aufwärts, dann abwärts – na, jedenfalls und aus ganzem, gerne auch blauem, jedenfalls übervollem Herzen:

Herzlichen Glückwunsch!

Man könnte die Gründergeschichte hier referieren, aber wozu? Man konnte das die Tage bereits alles in diversen Zeitschriften lesen (zumindest im „Blickpunkt: Film“ und „filmwoche / filmecho“). Und letztendlich spielt das „Woher“ bei einer anständigen Geburtstagsfeier trotz aller Förmlichkeiten immer nur eine begrenzte Rolle. So durfte ein paar Mal u.a. Volker Schlöndorff von der Leinwand herab gratulieren, Jubiläumstalks und eine Ausstellung gab es, feine Redeworte fielen und das Festivalplakat zeigte ein Geburtstagskerzchen, brennend, in der Hand der Herzballonkopffrau. Ansonsten aber hielt sich die Wiegenfestfeierei in erfreulichen Grenzen, es kümmert schließlich das hier und jetzt. Und die Zukunft. Denn der Max Ophüls Preis gehört dem Nachwuchs.

Allerlei gab es von ihm wie auch von Nicht-mehr-ganz-so-Nachwachsenden zu sehen. Viel zu viel (im Angebot) – und doch nie genug (hinsichtlich des Sattsehens). Dokumentarfilme, die Mittellangen, das Spektrum – letztlich blieb es doch Aufgabe genug, sich der Langfilmwettbewerbsschiene zu widmen, mit einigen Abstechern außer der Reihe, was sich einmal als großer Glückstreffer erwies. Aber selbst die formidablen SPRINT-Kurzfilmreihen mussten für den Verfasser auf der Strecke bleiben – ohne Frage ein Verlust, denn in den Jahren hatten diese Sammlungen manches Mal mehr zu bieten als die Wettbewerbskurzfilme, die vor jedem -langfilm laufen.

Ein Sprint – das ist immer auch jeder Text zu den Filmen des Max Ophüls Preises (wie auch jeden anderen Festivals). Wie weit man kommt? Schau’n wir mal.



I.

Ob da eine Feier ausgeartet ist, erfährt man nicht – wie so vieles in KLEINER SONNTAG (CH 2008) von Philipp Ramspeck. Jedenfalls torkelt da schon am frühen Morgen eine abgerissene Gestalt herum und speit an eine Bretterwand. Er begegnet uns noch ein paar Mal, dieser Trunkenbold, in diese wirren irren Film, einer surrealistischen nicht-narrativen Mixtur aus David Lynch und Jacques Tati – freilich nach Schweizer Rezept, was dann völlig gaga wird. Verschiedene Leute ohne erklärte, erklärbare Handlung. Ein Mann, schwarz, schlammig, steigt aus dem Wasser und zieht ein Seil durch die Stadt. Ramspeck, nach der Spätvorführung, nachdem die Leute im Minutentakt hinausströmten, erklärte sympathisch ungelenk und damit auf den Punkt worum es geht: um Film als Kunst, um Film als Komposition, der andalusische Hund pinkelt an den Stammbaum, und auch wenn der Film mit seinen 69 Minuten trotzdem etwas lang war, das engagierte, fragmentarische, assoziatives oder schlicht künstlerisch vor sich austobendes Treiben da mal nervte, hier mal erheiterte, mal zu konkret war, mal zu bemüht gerät, tat es – verdammt noch mal – GUT. Gottlob war nicht jeder Film so. Und zum Glück dieser da. Allein um zu zeigen, dass Film nicht gleichbedeutend sein muss mit Sinn und Handlung und Logik. Vielleicht aber auch nur, weil in einer Szene ein Bodybuilder die Straße hinabläuft, die Kamera vor ihm herfährt – und er sich alle paar Sekunden wegducken muss vor lauter Nonsens-Dingen wie Unmengen Plastikkleiderbügel, die von außerhalb des Kaders herabregnen. Ja, zur Geisterstunde im Multiplex nach einem Tag voller seelischem und sozialem Freuds und Leids auf der Leinwand kann das schon reichen, mehr – und weiser – zu „verkünden“ als alle Dramen der letzten fünf Sitzungen.



Die Schülerjury jedenfalls, die der Abschlussveranstaltung wohl die beste Begründung von allen Jurys für ihre Entscheidung lieferte, bedachte KLEINER SONNTAG mit ihrem Preis. Obwohl – nein, weil – es „körperliche Abneigung“ gegen diesen wohligen wie erfrischenden, nervenden Humbug gab. Nun ist man schon gewohnt, dass die deutschen und französischen „Kinders“ sich gerne das Randständige suchen. Diesmal jedoch: Chapeau!

Übergeben muss sich auch die Jüdin Luisa (Kirstin Fischer) in DAS ZIMMER IM SPIEGEL (D 2009) von Rudi Gaul. Sie hat von ihrem Fenster aus zusehen müssen, wie auf der Straße jemand getötet wurde, rennt aufs Abort, übergibt sich in die Schüssel (eine der „schönsten“ Kotzeinstellungen, fürwahr). Mehr tun kann sie kaum. Nicht mal beseitigen darf sie ihren Mageninhalt: die Nachbarn könnten die Spülung hören.



Luisa muss sich in einer Wohnung unterm Dach vor den Nazis verstecken. Ab und an hört sie andere Bewohner durch die Wände. Ihr Karl (Dragan Mija Kovi) schaut vorbei – und schließlich nicht mehr. Irgendwann in diese nervenzehrende Einsamkeit, Langweile und doch: Anspannung erscheint Judith (Eva Wittenzellner), eine Bekannte Karls und Teil des Widerstands, die auch hier Unterschlupf finden will. Ob sie wirklich ist oder nicht bleibt offen und der Film ein wenig AIMÉE & JAGUAR, PERSONA, Lynchs MULLHOLAND DRIVE – alles zusammen in Sartres Geschlossener Gesellschaft. Kurz: ein überaus spannendes Kammerspiel, das etwas an Überlänge, vor allem aber an seiner visuellen Billigkeit leidet. Mit viel ohne Geld selbst produziert spielt alles in einer Theaterkulisse mit expressivem Licht. An klassische Melodramen Hollywoods soll das erinnern – und gemahnt doch vom Video-Look her an Telekolleg-Inszenierungen aus den frühen 1980ern, das sich mit animierten Fahrten in das Innere einer Uhr visuell überhebt. Metafilmisch mag das sicher ergiebig sein. Ein „Remake“ – gerne auch vom selben Regisseur mit mehr Geld und unter Beibehaltung der räumlichen Reduziertheit wäre jedoch wirklich umwerfend…

Apropos Remake: Kühl und reduziert, mit seinen ruhigen Einstellungen im Kontrast zur schier allgegenwärtigen Handkamera, dachte man bei DER TAG, AN DEM ICH MEINEM TOTEN MANN BEGEGNETE (D 2008) (was ein Titel!) auch schon mal an ein potentielles US-Remake. Die kühle, fragile, schöne, katzenäugige – schlicht packende Franziska Petri als Helene würde von Nicole Kidman gespielt werden – die wiederum an ihre Rolle in BIRTH (USA/D 2004) anknüpfen könnte. Helenes Mann ist (womöglich) ertrunken. Nun hält sie Büro und Familie am Laufen, bis sie im Theater auf Torben (Pasquate Aleardi) trifft, der ihr Robert ist – oder nicht. PINGPONG-Regisseur Matthias Luthardt inszeniert das alles nicht nur ruhig, mit langen, ausgeklügelten Einstellungen, die unaufdringlich auf Doppelung und Spiegelungen setzen. Es ist schlicht die Story (Drehbuch nach dem Roman von Andrea Paluch und Robert Habeck) und ihre ambivalente Ausgestaltung, die fesselt. Über einen langen Tag erstreckt sich die Kernhandlung; dazwischen eine Rückblende, eine „beiläufige“ Kernszene, immer wieder neu, immer wieder anders und immer mehr enthüllend.
Bis zuletzt und darüber hinaus wird man nicht wissen, ob Torben Robert ist oder – nicht trotz, sondern auch wegen des bösen Endes – Helene es selbst geglaubt hat, sie überzeugt ist oder selbst zweifelt. Diese Balance – oder genauer: Schwebe – solange und mühelos zu halten, ohne einer Lesart Vorschub zu leisten und ohne beide Hauptfiguren darüber irreal oder unglaubwürdig agieren zu lassen (sogar Torben allein mit seiner Geliebten Claudia (Sandra Borgmann)), das ist schone eine Kunst für sich. Hier ist der Film dem Buch gerade in der Distanz überlegen. Einfach weil er viel leichthändiger in den Kopf der Figuren nicht hineinguckt. Bleibt zu hoffen, dass dieses SWR-koproduzierte Drama, einer kleinen Thrillerversion von Max Frischs Stiller, es tatsächlich auf die Kinoleinwand schafft.


II.
Johannes Silberschneider – mit seinem schwarzen vollen Haar und der Physiognomie erinnert er auf den ersten Blick an Götz Alsmann, doch die Augen sind runter, offener, dunkler und präsentieren: einen Mann mit Seele. Silberschneider trat in drei Filmen des Wettbewerbs auf, und alle drei waren eine Freude.

In Ina Weisses DER ARCHITEKT (von Harald Mühlbeyer bei uns bereits irgendwo HIER besprochen) gibt Silberschneider den Pfarrer des verschneiten berglichen Mini-Heimatdorfs, in das es Georg (gewaltig: Josef Bierbichler) samt leicht verschrägter Familie nach dem Tod seiner Mutter (zurück-)verschlägt. Das ist großes Kino und gerade Sandra Hüller kann schauspielerisch dem Patriarchen der Familien (und des Films) genügend Paroli bieten. Doch bei aller Top-Güte des Films insgesamt, bei allen kleinen Skurrilitäten und einzelner, grandioser Szenen, mag die Entscheidung der Drehbuch-Jury, das Buch zu DER ARCHITEKT auszuzeichnen, nicht gänzlich einleuchten. Auch wegen des restlichen Angebots in Saarbrücken.

Silberschneider ist in DESPERADOS ON THE BLOCK von Tomasz E. Rudzik ein namen- und ortloser Mann. Vielleicht Gott, vielleicht Hausverwalter treibt er sich bevorzugt im Fahrstuhl des „Blocks“ herum, dem monströsen grauen Studentenwohnheim in München. Dort versammeln sich auf wenigen Quadratmetern und bis in den Himmel geschichtet junge Menschen aus allen Nationen, die als Fremde unter Fremden einsam sind, zumindest irgendwie wund, und einigen von ihnen geht Rudzik warm, interessiert und distanziert sympathisch nach, auch wenn die Geschichten allesamt zu gut und spannend sind, um wahr zu sein. Was nicht heißt: nicht wahrhaftig. Der gehörlose Motek (Andreas Heindl) liebt von Ferne die Bibliotheksangestellte (Korinna Krauss) und schafft es, sie zu einem „Spiel“-Tag zu überreden, in dem keiner reden darf. Die junge Theologiestudentin Clara (Patricia Moga) will systematisch alle zehn Gebote brechen um Gott zu einem Zeichen zu provozieren. Und der stille Sin aus China bekommt es als „Nachhilfe-Japaner“ mit der frühreifen Hanna (Helen Woigk) zu tun.



Man lacht über den Witz, den bisweilen verbohrten Witz, so wenn Clara ihre Sünden ausheckt und vor allem einen „Ehebruch“ inszeniert. Aber man lacht nie über sie selbst. Und wenn auch Clara zu weit geht, dann bleibt man ihr treu. Wegen der großen Tiefe, dem stillen Verlorensein und der höchst sympathischen Gewissheit, dass in dem großen grauen Block doch jeder seinen Weg finden wird. Rudzik findet genau die richtige Distanz, hat sie alle lieb, seine Protagonisten, geht mit ihnen aber zugleich nicht zu zaghaft um. Dann wieder spielt er die dramatischsten Szenen nicht aus, wendet sich kurz ab, lässt es gut sein, so wenn Sin von Hannas Vater aus dem Haus geworfen wird. Eine bestechende Form des Respekts.
DESPERADOS ON THE BLOCK ist vor Ort gedreht, teilweise mit Laiendarstellern, und das man die von „Profis“ nicht unterscheiden kann, spricht hier für den Film, der vielleicht nicht der „beste“ war in Saarbrücken, aber der unmittelbar warmherzigste (und das eine eben für das andere eintauschte).

In EIN AUGENBLICK FREIHEIT ist Silberschneider ein UNO-Beamter, der in Ankara die Flüchtlinge „verwaltet“. Viele Iraner hat es in die türkische Hauptstadt verschlagen, und dort sitzen sie jetzt fest, nach der gefährlichen und strapaziösen Reise aus der Islamischen Republik und auf dem Weg in den gelobten Westen, wo Familien warten, Freiheit und die Verheißung von etwas Wohlstand. Regisseur und Drehbuchautor Arash T. Riahl folgt Einigen in diesem Niemandsland des Transits, wo man sich arrangieren muss, vom Hotelbesitzer ausgebeutet, vom iranischen Geheimdienst gekidnappt und gefoltert und Tag und Nacht in der Schlange vor dem Flüchtlingsgebäude ausharren kann.



Riashi erzählt dabei auch ein Stückweit seine eigene Geschichte, die er bereits eindrucksvoll in EXILE FAMILY MOVIE (2006) aufbereitete. Neben den Schicksalsschlägen schafft er neben dem großen, wohltuend engagierten politischen Drama einen gekonnten Film über Sehnsucht, Hoffnung und Verzweifelung. EIN AUGENBLICK FREIHEIT bietet wunderbare Darsteller und eine wunderbaren Geschichte voller Trauer, Tragik, aber auch viel und bisweilen bissigem Humor. Da ist der Bauernwitz, mit dem ein Schwan aus dem Park als Hühnchen herhalten muss oder das Gebet auf Nummer Sicher. Der Kurde Manu gaukelt seiner Familie seinen Erfolg in Deutschland vor, nervt seinen Freund mit einer Gasmaske – von denen er ganz viel in seine Heimat schicken will, die dereinst im Krieg mit Giftgas attackiert wurde.



So liegen in EIN AUGENBLICK FREIHEIT Lachen und Weinen, Freude und Leid nicht nur dicht zusammen, sondern sind ohne einander nicht zu haben. Als Galgenhumor im Angesicht des existentiellen Nichts. Oder wenn die Eltern ihre vom Onkel und dessen Freund nach Österreich gebrachte Kinder endlich in die Arme schließen. So gibt es auch die große Dramatik, Blut, auch Brutalität, aber die sind in gewisser Weise „echt“ und unaufgeregt und im gesamten Bild, das Riahi in seinem ersten Langfilm zeichnet, gut aufgehoben. Man kann dem Film nicht mal vorwerfen, er sei zu „gut“; zuviel Rauheit und Verve steckt darin.
Dieses in vieler Hinsicht ganz große und großartige (und im Wettbewerb das größte) Kino war einer der Favoriten für den Haupt- und den Publikumspreis; bekommen hat er „nur“ den Filmpreis des saarländischen Ministerpräsidenten und den Interfilmpreis. Vielleicht hätten mehr Zuschauer für ihn gestimmt, wäre nach der Premiere am späten Mittwochabend die zweiten Vorstellung nicht schon am nächsten (Vor-)Mittag gewesen und somit mehr Zeit für Mundpropaganda. Ganz sicher jedoch war es – mit Verlaub – eine Schande, dass bei der Premiere, nachdem dem Film in der Vorführung schon der Abspann abgeschnitten und nachgereicht wurde (was freilich mal passieren kann) – dass da die Jury, kaum dass Riashi zu Wort kam, gesammelt den Saal verließ, wohin und warum auch immer (es war halb eins in der Nacht). Die Hintergründe und Gedanken des Filmemachers zu seinem, ja nun, doch auch politischen Thema wurden somit, zumindest vom Gestus her, ignoriert. Wenn das nicht ein Nachteil war gegenüber all den anderen Regisseuren, die nach den Vorführungen Gehör fanden, so war es doch eine Unhöflichkeit ersten Ranges. Immerhin: Jurymitglied André Erkau, mit SELBSTGESPRÄCHE MOP-Gewinner des letzten Jahres, harrte so lange aus wie möglich und wäre wohl noch gerne geblieben, um sich anzuhören, was Rashi zu sagen hatte …

Zum zweiten Teil des Berichts zum Max Ophüls Preis 2009



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