Mannheimer Filmsymposium 2013 – Dramaturgie der Spannung


Ein Bericht. Und ein Nachdenken.


23 Filme listet die imdb für die Zeit von 2010 bis 2015 auf, in denen Norbert Maass als Script Consultant mitgewirkt hat – beileibe nicht alles Meisterwerke. Maass ist Dramaturg, sitzt im Vorstand des Verbandes für Film- und Fernsehdramaturgie und referierte im Mannheimer Cinema Quadrat über seine Profession – was bei dem Thema „Dramaturgie der Spannung“ eine überaus passende Wahl ist.

Dass die Arbeit als Script Consultant mitunter auch frustbeladen sein kann, konnte man zwischen den Zeilen heraushören: Denn sicherlich ist „Lost Place“, an dem sich Maass’ Rede unter anderem orientierte, nicht perfekt. Und offenbar hätte Maass, der auch an diesem Regiedebüt als Dramaturg beteiligt war, ein paar gute – zumindest bessere – Ideen beisteuern können. Anscheinend aber war Regisseur Thorsten Klein recht beratungsresistent – das ist eben das Dilemma: Man kann Ratschläge erteilen, ob auf sie gehört wird, ist eine andere Sache.

„Lost Place“ ist ein kleiner Horrorthriller in den Tiefen des Pfälzer Waldes, ein Viererpack von Teenagern befindet sich auf Geocaching-Tour und trifft auf eine diffuse Gefahr, die zu tun hat mit dem US-militärischen HAARP-Projekt und ELF-Wellen – Extreme Low Frequency, in tune mit dem menschlichen Gehirn, so dass die Experimente zu Wetterkontrolle auch als Waffe zur Bewusstseinsbeeinflussung eingesetzt werden können. Ein tiefes, wohliges Wühlen im Verschwörungstheoretischen also, das durchaus mit Spannung, mit schönen Volten und einer atmosphärischen Grundstimmung umgesetzt wurde. Nunja: freilich mit Pappkameraden-Protagonisten, mit etwas unverbundenen Filmteilen, die von Geocaching unversehens ins Epileptische hopsen, und auch, wie Maass ausführte, mit einem sehr anspruchsvollen Konzept der antagonistischen Kraft – die nämlich nicht von menschlichen Bösewichtern, sondern von einem quasi außer Kontrolle geratenen Funkturm ausgehen. Eine Vagheit, die als originelle Abweichung vom Standard durchaus reizvoll ist – die aber auch dazu führt, dass die Figuren über weite Strecken ohne rechtes dramaturgisches Ziel durch die Landschaft stolpern.

Dennoch: Für die Zielgruppe – die Protagonisten gehen in die zwölfte Klasse – ein durchaus effektvoll inszenierter kleiner Reißer, der definitiv ein viel größeres Potential hat als die 12.769 Zuschauer, die „Lost Place“ von seinem Kinostart am 19. September bis zum 8. Oktober erreichen konnte. (Nunja: Der Film ist in 3D gedreht, was eine sicherlich nicht zielgruppengerechte, unnötige Verteuerung des Kinotickets nach sich zieht…)
Dass aber diesem Debüt bei der Sichtung während des Symposiums eine solche negative Energie entgegenschlug, hat mich überrascht. Offenbar war es einem Teil des filmaffinen, intellektuellen Publikums nicht möglich, sich einzufühlen in das, was der Film sein will, und in die, für die der Film gemacht wurde. Filmbewertung ist ja keine absolute Größe. Film muss in Relation zu seinen Bedingungen und zu seinen Ansprüchen beurteilt werden – was hier freilich unterblieb. Kalte Ablehnung wurde ihm zuteil – und sooo schlecht ist „Lost Place“ auf keinen Fall.

Woran genau es bei diesem Film hapert, machte Maass in seinem Vortrag klar: Indem er die Defizite aufzeigte, indem er Vergleiche mit anderen – gelungenen und nicht gelungenen – Werken aufzog. Indem er aus dem Nähkästchen plauderte. Und indem er verdeutlichte, auf welchen Ebenen Film wirkt, auf welchen Ebenen ein Dramaturg eingreifen kann – und damit, bezogen auf das Symposiumsthema, auf welchen Ebenen sich Dramaturgie und Spannung entfalten.
Maass blickt in seinen Beratungen auf drei Ebenen, auf die rationale, die dem Film seine handlungslogische Stringenz erschafft, auf die sinnliche, die sich auf den Bereich des Visuellen, der Töne, des Rhythmus und des Flusses eines Films beziehen, und die emotionale, die den Zuschauer an die Filmfiguren bindet; oft, indem die Emotionalität der Figuren erzählt wird.

Im Emotionalen hapert es sicherlich bei „Lost Place“; und Maass führte auch das Beispiel „Die Tür“ (2009, Regie: Anno Saul) an, in dem die Möglichkeiten des Protagonisten, der sich in eine Parallelwelt geworfen sieht, zuwenig ausgespielt würden. Als Gegenbeispiel diente „Die Dämonischen“, der originale Körperfresser-Film aus den 50ern: Auch hier werden Freunde zu Feinden, wie in „Die Tür“, wo sich Mads Mikkelsen in der vertrauten Fremde, unter Familienmitgliedern, die er so nicht kennt, wiederfindet. „Die Dämonischen“ aber enthält eben auch das Paar, dessen Zuneigung sich im Lauf des Films steigert – während gleichzeitig die Gefahr absoluter Gefühllosigkeit immer größer wird… Schlichtweg besser erzählt. Was übrigens auch im deutschen Bereich funktioniert: Marvin Krens Zombiesause „Rammbock“, mit Flucht vor Zombies bei gleichzeitigem versuchtem Wiedergewinnen der Ex-Freundin, ist auch für Maass ein überaus positives Beispiel.

Das Modell der drei dramaturgischen Ebenen ist bei der Betrachtung von Filmen wie auch beim Nachdenken über Dramaturgie überaus hilfreich. Zumal sich diese Sichtweise schön verbinden lässt mit anderen Vorträgen des Symposiums: Etwa mit Marcus Stiglegger, der die Mechanismen filmischer Spannungserzeugung vorstellte und den Spuren von Suspence, Schock und Thrill in der Filmgeschichte nachging, von Pabsts „Die Büchse der Pandora“ bis zur Horrorshow des heutigen Terrorkinos, das Stiglegger mit Alexandre Ajas „High Tension“ ins Spiel brachte (nicht zu verwechseln mit dem berndzywietzschen Terrorismuskino). Die krass-heftigen Szenen von Ajas Sadismus-Home-Invasion-Film aus dem Jahr 200e zeigte Stiglegger bewusst nicht, schließlich ist der Film in Deutschland wegen Gewaltverherrlichung indiziert und nur in geschnittener Form erhältlich…
„High Tension“ jedenfalls wurde interessanterweise ebenfalls vom Großteil des Publikums abgelehnt; allerdings nicht in Bausch und Bogen verdammt, sondern als Diskussionsgrundlage akzeptiert, auch als eine Art von Film, für die es eine bestimmte Affinität in bestimmten Arten von Kinogängern geben kann, vielleicht gar darf.

Auf Ernst Schreckenbergs Überlegungen zum filmischen Subtext ließen sich Maass’ Ideen ebenfalls schön übertragen – und dass der Staffelstab der Subthemen so elegant übergeben ließ, ist ein Glücksfall für dieses Symposium (und lässt sich wohl vor allem in dieser Atmosphäre des filmischen Denkens, in diesem Miteinander von Film, Vortrag, Diskussion und Publikum herauskitzeln). Subtext: Das ist für Schreckenberg ganz klar nicht etwas, was erst in einen Film hineininterpretiert werden muss, nichts, was irgendwo verborgen liegt und darauf wartet, ausgegraben zu werden, um dem Film eine neue Perspektive, vielleicht eine ganz andere Lesart zu geben. Subtext ist intendiert, wird auch deutlich gezeigt – nur achtet der Zuschauer nicht darauf, weil er im Daneben, im Beiläufigen und Unbeachteten abläuft.
Dieses Phänomen kann man Subtext nennen – einiges von dem, was Schreckenberg nennt, würde freilich bei Ralf Fischer, der über visuelle Spannungen und den innerfilmischen Dialog der Bilder referierte, vielleicht bildliches Leitmotiv oder symbolische Bildkomposition heißen. Das aber sind terminologische Fragen – und zeigt eigentlich vor allem nochmals, wie die Vorträge bei ganz verschiedener Thematik ineinander übergehen.

Schreckenberg nimmt als offensichtliches Beispiel „Oh Boy“ mit Tom Schillings vergeblicher Suche nach Kaffee, die symbolisch für sein Underachiever-Leben ist, in dem ihm nichts gelingt, weil er nichts erreicht (wie gesagt: über die Begrifflichkeit, dies als Subtext zu bezeichnen, kann man streiten). Vor allem aber nahm sich Schreckenberg Polanskis „Ghost Writer“ vor, in dem er nach eigener Aussage mindestens zehn Subtextlinien gefunden hat. Zum Beispiel die merkwürdigen Bediensteten – die undurchsichtige Asiatin, die in der Küche werkelt, ihr Mann, der im Dünenwind versucht, Blätter zusammenzurechen: geheimnisvolle Figuren, die ihre Geheimnis niemals offenbaren, ja, deren Geheimnis nie angesprochen wird.

Vor allem auf eins konzenentrierte sich Schreckenberg: Auf die BMW-Linie.
Wir erinnern uns: Der Beginn des Films zeigt eine Fähre, von der die Autos eins nach dem anderen runterfahren – bis auf ein wuchtiges Product-Placement-Gefährt, dessen Fahrer in der nächsten Einstellung tot an den Strand gespült wird (eine Reminiszenz an Fritz Langs „Testament des Dr. Mabuse“, in dem nach Ampelstopp alle Fahrzeuge weiterfahren bis auf das, in dem der soeben Ermordete sitzt…) Der Tote bei Polanski: Das ist der Ghostwriter des britischen Ex-Premiers, der auf seiner Ferieninsel an seinen Memoiren arbeitet. Ersatzmann wird Ewan McGregor, unwillig zuerst, dann neugierig, schließlich einem Geheimnis auf der Spur… Und immer wieder wird er in Autos gezwängt, immer wieder übernimmt BMW die Führung, leitet ihn weiter, voran im Plot, näher an den Abgrund heran, auf den der Ghost unweigerlich zusteuert. Das Auto als Motor einer Tragödie der Unausweichlichkeit – Dehumanisierung, so nennt es Schreckenberg. Und allein schon aus den Filmausschnitten mit diesem Motiv zeigt sich, wie perfekt, wie reich dieser Thriller ist.

Und wir entsinnen uns: Auf der Berlinale 2010 wurde der Film eher verhalten bis enttäuscht aufgenommen, als seichte Unterhaltung ohne Biss und Relevanz – ähnlich negative vibrations, wie sie in Mannheim „Lost Place“ entgegenschlugen. Wie ernst ist diese Ablehnung eines zugegebenermaßen nicht voll gelungenen Films also zu nehmen, wenn sie mitunter auch dem runden, dichten Werk eines der besten Regisseure überhaupt zuteil wird?

Was nicht nur die Frage aufwirft, in welchem Kontext welche Schwingungen für oder gegen einen Film generiert werden; oder die danach, wieweit ein Publikum von sich selbst zu abstrahieren vermag, sprich: nicht von sich ausgeht, sondern sich hineinversetzt in die Eigenansprüche des Films und in die Ansprüche des anvisierten Zielpublikums. Sondern auch die, inwiefern ein Film für seine von ihm selbst intendierte Wirkung alle Ebenen der gesamten Wahrnehmung jeder Dramaturgielinie erfüllen muss.

Zumal nämlich unter den während des Symposiums vorgeführten Filmen mit Fred Zinnemanns „The Day of the Jackal“ / „Der Schakal“ von 1973 und Tetsuya Nikashimas „Kokuhaku“ / „Geständnisse“ von 2010 zwei Filme waren, die ganz bewusst mit ihrer Wirkung auf den Zuschauer spielen. „Geständnisse“, die eiskalte Rachegeschichte einer Lehrerin an ihren Schülern, fährt jede Emotionalität der Figuren extrem herunter, Psycho- und Soziopathie bestimmen den alltäglichen, niemals liebevollen Umgang miteinander. „Der Schackal“ betont extrem die rationale Ebene mit ständig eingeblendeten Uhren, mit genauen Datumsangaben, mit der Verankerung des fiktiven Geschehens in der Realität: Nach dem tatsächlichen, gescheiterten Anschlag auf Präsident de Gaulle von 1962 beauftragt die radikal-rechtskonservative OAS einen auswärtigen Auftragskiller mit einem neuen Attentatsversuch, dessen minutiösen Vorbereitungen der Film exakt beschreibt; während als gegenläufiges Uhrwerk die Bemühungen von Polizei und Geheimdiensten geschildert werden, die das Komplott zerschlagen wollen. Klar, präzise, fast übermenschlich wird geplant und gegengeplant – und gottseidank kam keiner der Filmemacher auf die Idee, etwa die Ehegeschichte des Chefermittlers auszubauen, um seiner Figur mehr emotionales Gewicht zu verleihen!

Wenn bestimmte Wirkungsaspekte der Dreier-Dramaturgie bewusst heruntergedimmt werden, so wie Zinnemann und Nakashima die emotionale Schiene abschalten, dann wird damit ja auch eine Aussage getroffen. Ebenso wie in den von Ralf Fischer in seinem Vortrag über visuelle Spannungen angeführten Beispiele von Kubricks „2001“ oder Jacques Tatis „Playtime“. In beiden wird die rationale Ebene vernachlässigt, und zwar auf ähnlich unterschiedliche Weise, wie „Der Schakal“ und „Geständnisse“ die Emotionen übergehen, mit gänzlich unterschiedlicher Intention und Wirkung nämlich: Wo beim „Schakal“ ein mechanistisches Spannungsmoment vorherrscht, erklärt „Geständnisse“ den kalten Krieg zwischen den Figuren (und auch zwischen Leinwand und Publikum); „2001“ schraubt die logischen Handlungsfolgen von Ursache und Wirkung herunter, um per Verrätselung philosophisch zu erzählen, während Tati in „Playtime“ die Stringenz der Handlung auseinanderzerrt zu unverbundenen Absurditäten.

Alle dramaturgischen Schichten – die rationale, die sinnliche, die emotionale – aufzufüllen, ist, wie sich zeigt, nicht der Weisheit letzter Schluss. Unausgewogenheit in den erzählerischen Ebenen ist eben – siehe „Lost Place“ – nur dann ein Problem, wenn sie aus Nachlässigkeit oder Unvermögen entsteht, weil dann die potentielle Wirkung des Filmes nicht voll ausgeschöpft wird. Und selbst dann kann man bis zu einem gewissen Maße darüber hinwegsehen, wenn man vom Ideal, vom Absoluten wegrückt und das Relative, das Notwendige ins Sichtfeld rücken lässt: In dieser Perspektive ginge man nicht vom Bestmöglichen aus, von dem verschenkte Möglichkeiten subtrahiert werden müssen. Sondern vom Minimalen, davon, was unabdingbar vorhanden sein muss für den gewollten Effekt im angepeilten Markt, und würde sich über alles freuen, was darüber hinaus geboten wird. Diese Haltung ginge dann bis hin zum amüsiert-bewundernden Blick auf das Trashkino.


Harald Mühlbeyer