Filmfest München: Michael Winterbottoms "Trishna"

Während Andrea Arnold "Wuthering Heights", erschienen 1847, von jedem Klischee der Kostümfilmliteraturadaption befreit, indem sie mit harschem, anstrengendem Stil eine Art Rückführung auf das Gefühl eines realen Yorkshire-Bauernhofes betreibt, dabei aber unversehens das Gefühl für die Liebe, die den Kern der Erzählung ausmacht, verliert, geht Michael Winterbottom "Trisha", seine Verfilmung von Thomas Hardys "Tess of the d'Urbervilles", erschienen 1891, ganz anders an. Und viel wirksamer.

Die puritanische Klassengesellschaft des viktorianischen Zeitalters verlegt er nicht nur in die Moderne, sondern nach Indien - überaus passend, das Land mit einem strengen Kastensystem, in dem arm und reich eng nebeneinander wohnen, wo ein gesellschaftliches Gefühl für Ehre, Anstand und Schande besteht. Den Roman überträgt Winterbottom in ein modernes Melodram von einem armen Mädchen vom Land und einem reichen Hoteliersohn. Der, Jay, mit seinen Kumpels herumreist, kifft, Spaß hat, und in einem uralten Tempel zum ersten Mal Trishna zu Gesicht bekommt. Er verschafft ihr einen Job im Hotel, umgarnt sie, umwirbt sie - und es ist eine beständige Frage in diesem ersten Teil des Films, wie ernst es ihm ist. Will er sie tatsächlich lieben, oder begehrt er sie nur: will er nur spielen?

Sie gibt ihm nach. Sie lebt in Schande. Sie flieht vor ihm. Sie begegnet ihm wieder und verlebt glückliche Wochen in Mumbai, ist mit ihm durchgebrannt, vor der Familie geflohen. Die Liebe ist echt und rein; doch mit der Zeit entwickelt sich seine durch Klassenzugehörigkeit angeborene Dominanz. Er ist Herr, sie nur Magd, eine Liebe kann so nicht bestehen. Und Winterbottom steigert sorgfältig die Dynamik dieser Beziehung, mit ihren Aufs und Abs, bis zum grausamen, niederschmetternden Finale.

Winterbottom, Tausendsassa des britischen Autorenfilms, weiß genau, wie er die Klaviatur der Filmgefühle spielen muss, ohne aufdringlich zu wirken. Er geht offensiv in die Emotion rein, und lässt dem Zuschauer doch die Wahl: Gibt es Unsympathen, gibt es Antagonisten in dieser Story? Oder handelt jeder nur so, wie sein Herz sich entwickelt hat? Auch wer flieht, kann nicht entkommen; auch wer liebt, ist voreingenommen: Klasse und Geld beherrschen auch den Markt der Gefühle.

Winterbottom geht großartig mit seinem indischen Setting um, das er mit durchaus westlicher, trauriger, klassischer Musik präsentiert, und mit Bollywood-Song and Dance-Nummern. Die allerdings dem Film nicht aufgesetzt sind, sondern als Teil der Lebenswelt und zugleich selbstreflexiv eingesetzt werden: Tänze zu Festen, Tänze nach dem Fernsehprogramm, Tänze in Tanzschule und auf Filmsets in Mumbai sind kommentierend eingesetzt, und der Komponist und Choreograf Amit Trivedi hat eine Rolle als er selbst bekommen, eine mögliche Alternative für Trishna aus Liebesfreud und Liebesleid. Ein Ausweg, den sie nicht nimmt.

Harald Mühlbeyer