Berlinale Retrospektive 2022: Carole Lombard: „Twentieth Century“

Twentieth Century

USA 1934. Regie: Howard Hawks, mit John Barrymore, Carole Lombard, Walter Connolly

 

„No Angels: Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard“ heißt die Retrospektive der 72. Berlinale vom 10. bis 20. Februar 2022. Die Retrospektive blickt damit auf drei Beispiele von Schauspielerinnen, die die Hollywood-Komödien der 1930er bis 1940er geprägt haben. Begleitend dazu ist bei Edition Text + Kritik ist  ein von Rainer Rother verfasster Band mit drei Essays zu den drei Darstellerinnen erschienen:

Rainer Rother: No Angels. Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard. Edition Text + Kritik, München 2021. Text deutsch und englisch. 162 Seiten, viele Abbildungen. 15 Euro.


„Twentieth Century“: Mit dem Filmtitel ist kein Hollywoodstudio gemeint, sondern ein hochmoderner Zug zwischen Chicago und New York. Er ist der Schauplatz der letzten beiden Drittel des Films.

Der Anfang zeigt Carole Lombard und John Barrymore: Sie als Mildred Plotka ein Unterwäschemannequin, er als Oscar Jaffe ein übergroßer Theatermacher. Als erstes benennt er Mildred um in Lily Garland – auch „Carole Lombard“ ist nur ein Künstlername, den sie nach ihrem ersten Film angenommen hatte. Und Jaffe formt Lily: Wir sind im Theatermilieu, geprobt wird eine Jaffe-Produktion unter der Leitung von Jaffe mit der üblichen Jaffe-Besetzung im Jaffe-Theater. Jaffe ist ein eitler, selbstsüchtiger und -verliebter, arroganter und, wie sich herausstellen wird, durch und durch wahnsinniger Theaterproduzent; er ist ein Genie. Lily Garland kann nur lernen von ihm, auf die harte Tour: Erniedrigt durch die Kreidestriche auf dem Boden, die ihre Bewegungen vorgeben, und durch den Nadelstich in den Hintern, der ihr das richtige Schreien entlockt, wird sie sein Star.

Lombard, der Star, spielt einen Star, wie John Barrymore, der noch größere Star, einen Superstar spielt. Doch Lombards Figur macht eine Entwicklung durch, und das sehr lustige an dem Film: Es ist keine Entwicklung zum Besseren. Oscar Jaffe, nach dreijähriger Beziehung – menschlich wie beruflich – mit Lily, hat sie in einen goldenen Käfig gesteckt, beherrscht sie eifersüchtig, lässt sie von einem Detektiv überwachen. Bis sie flieht und nach Hollywood geht. Und Oscar Jaffe darniederliegt – ohne sie nur noch Flops. Dieser Teil des Films führt uns eine toxische Beziehung vor, einen kontrollwütigen Mann, der alle manipuliert und in seinem Overacting nur noch lächerlich wirkt – und eine Frau, der die Flucht gelingt, die den Absprung schafft.

Im Zug dann treffen beide wieder aufeinander. Und es ist äußerst komisch und zugleich erschreckend traurig, dass Lily Garland, trotz vieltausend Meilen Distanz zu Jaffe, sich zu genau demselben Typen entwickelt hat: eine launische Diva, die wie er nur noch in narzisstischer Theatralik lebt. Sie spielt, wie man spielt, sie ist Drama in Permanenz.

Lombard beim absoluten Overacting ist herrlich anzusehen, im Zug nimmt die Komödie so richtig Fahrt auf: Regie Howard Hawks, Drehbuch Ben Hecht und Charles MacArthur, das bedeutet Tempo, das bedeutet Pointen, das bedeutet kalkulierten Wahnsinn. Denn es reicht ihnen nicht, Lombard und Barrymore gegeneinanderrasseln zu lassen, ein verrückter Alter muss auch mitspielen, der zu Gott gefunden hat und überall Aufkleber verteilt. Und irgendwann stehen zwei bärtige Barbaren an der Abteiltür, das sind die Deutschen, die Jaffe so sehr bewundern – von den Oberammergauer Passionsspielen, und das gibt Jaffe den letzten Kick, der ihn über die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn fallen lässt.

Selbst Lily Garland erkennt dies – sie seien ja keine Menschen mehr, nur noch Lithographien, die die Liebe und das Leben nur erkennen, wenn es aufgeschrieben und geprobt wurde – eine Erkenntnis, die sie nur allzu wenig für sich selbst anwendet. Als Jaffe ihr seinen Wahnsinnsplan mit Kamelen, Affen und Ibissen im Theater vorschwärmt, mit Sand direkt aus dem Heiligen Land, da steigt sie erst mit ein, weil die Vision sie packt, weil sie selbst schon auf dem Weg ist, den Jaffe zuende gegangen ist – muss dann aber doch anfangen, hysterisch zu lachen. Wie sie dann auf der Abteilbank sitzt, ihn von sich halten will, strampelnd und kickend wie ein Kind – wer hoch steigt und all den Glamour für sich beansprucht wie Lily oder Jaffe, der verliert alle Eleganz; und wer nur noch gekünstelt lebt, alles als Auftritt für andere performt, bei dem schlägt die komische Theatralik um in echtes Irresein.

 

Harald Mühlbeyer

 

Bilder (c) Columbia Pictures